NMR-Spektroskopie: Erste Schritte in die Krankenversorgung

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2023.03.09

Mit der Kernspinresonanzspektroskopie, kurz NMR, können die Strukturen chemischer Verbindungen bestimmt und deren Konzentrationen gemessen werden. In der Labormedizin kommt diese Methode bisher noch nicht routinemäßig zum Einsatz, sie birgt aber großes Potenzial. Aus der großen Zahl der bestimmten Messgrößen ergeben sich metabolische Signaturen, die zur Diagnose von Erkrankungen herangezogen werden können.

Schlüsselwörter: Nuclear Magnetic Resonance, Automatisierung, Qualitätssicherung, IVDR

Von der grundsätzlichen Anwendungsmöglichkeit einer Methode als laboratoriumsmedizinische Untersuchung bis zur Etablierung in der medizinischen Versorgung ist es ein weiter Weg. Die Technologie Kernspinresonanzspektroskopie (Nuclear Magnetic Resonance, NMR) wird bereits seit Jahrzehnten erfolgreich u. a. für die Strukturaufklärung chemischer Verbindungen eingesetzt, jedoch ohne direkte Verbindung in die medizinische Versorgung von Patient:innen. Als Magnetresonanztechnologie (MRT) ist die Technologie jedoch in der medizinischen Bildgebung fest etabliert. Hier werden i. d. R. einstellige Feldstärken eingesetzt. Wenn man höhere Feldstärken mit bis zu ca. 14 Tesla verwendet, ist inzwischen eine zuverlässige und standardisierte Quantifizierung von Metaboliten möglich und eröffnet damit den Einsatz bei laboratoriumsmedizinischen Fragestellungen. Dieser Einsatz erfolgt jedoch bisher vorwiegend im Forschungskontext, z. B. in epidemiologischen Kohorten.

Das Besondere einer NMR-spektroskopischen Untersuchung besteht in der zeitgleichen und standardisierten Erfassung hunderter Messgrößen. Darunter sind in der Medizin seit Langem etablierte Metabolite wie Glukose und Kreatinin, aber auch Messgrößen, die bisher nur schwer oder gar nicht im Rahmen etablierter laboratoriumsmedizinischer Hochdurchsatzverfahren erfassbar sind. Neben kleinen Metaboliten können beispielsweise auch Aminosäuren, Proteine und Lipoprotein­subfraktionen erfasst und quantifiziert werden. Eine Untersuchung dauert je nach Protokoll zwischen 15 und 30 Minuten, das eingesetzte Probenvolumen beträgt ca. 300 µl und hängt u. a. vom verwendeten Durchmesser der eingesetzten Kapillaren ab. Der großen Informationsdichte einer einzelnen Messung stehen die hohen Gerätekosten sowie der bisher relativ geringe Automatisierungsgrad gegenüber.

 

Große Anzahl an erfassten Messgrößen

Das Potenzial, aber auch die Herausforderungen der NMR-Spektroskopie als laboratoriumsmedizinische Untersuchung, leiten sich aus der großen Anzahl der erfassten Messgrößen sowie der damit verbundenen Komplexität der Aussagekraft ab. Klassische laboratoriumsmedizinische Messgrößen werden einzeln betrachtet und für den medizinischen Einsatz evaluiert und qualitätsgesichert nach etablierten Regeln berichtet. Für jede Messgröße gibt es Reagenz, einen Kalibrator sowie davon unabhängige Qualitätskontrollen. Darüber hinaus unterliegen diese Messgrößen in vielen Fällen der externen Qualitätssicherung. Den Anwender:innen, also dem behandelnden ärztlichen Personal, werden Messgrößen-spezifisch Referenzbereiche oder medizinische Bewertungsgrenzen zur Verfügung gestellt. Diese Konzepte sind grundsätzlich auch in der NMR-Spektroskopie auf einzelne Messgrößen anwendbar – mit dem Vorteil, dass in einer Messung zahlreiche Messgrößen erfasst werden können.

Metabolische Signaturen

Würde man die NMR-Spektroskopie nur als Alternative für die klassischen klinisch-chemischen Hochdurchsatzmethoden zum Einsatz bringen, so hätte man das größte Potenzial dieser Technologie jedoch gänzlich unangetastet gelassen. Dieses verbirgt sich vor allem in der Gesamtschau mehrerer Messgrößen, den sogenannten metabolischen Signaturen. Während in der klassischen Labormedizin bisher lediglich kleinere Algorithmen wie Quotienten oder Scores aus klinischen und labormedizinischen Informationen zum Einsatz kommen, ermöglicht die bisher vorwiegend eingesetzte 1H-NMR-Spektroskopie die Ableitung von sehr komplexen Signaturen. Darüber hinaus muss die klinische Aussagekraft der zahlreichen, nun mit dieser Technologie zur Verfügung stehenden Messgrößen ermittelt und in die medizinische Versorgung überführt werden. Dies umfasst neben den erforderlichen klinischen Studien vor allem die Erfüllung regulatorischer Anforderungen.

Die Schritte der 1H-NMR-Spektroskopie in Richtung Krankenversorgung umfassen demnach folgende Aspekte:

  • Probenvorbereitung und Automatisierung,
  • Evaluierung medizinisch etablierter Messgrößen,
  • Identifikation neuer Messgrößen und Messgrößenkombinationen (Signaturen),
  • Erfüllung regulatorischer Anforderungen.

 

Probenvorbereitung und Automatisierung

Während der analytische Prozess im medizinischen Labor – einschließlich der Probenvorbereitung wie Zentrifugation und Verteilung auf die Analysegeräte und dort damit natürlich die Pipettierung der einzelnen Tests – in großen Teilen automatisiert ist, so ist dies für die NMR-Spektroskopie bislang nur rudimentär ausgeprägt. Die Proben für eine NMR-Messung müssen mit Puffer versetzt und blasenfrei in sehr schlanke Probengefäße pipettiert werden. Grundsätzlich sind 2D-kodierte Probengefäße erhältlich; Lesevorrichtungen, die diese 2D-Codes automatisiert erfassen, sind bisher jedoch nur als Prototyp verfügbar und nicht tief in den elektronischen Prozess rund um die Probenverwaltung integriert. Die Folge sind manuelle Zwischenschritte, Datenübermittlung mittels Batchdateien und Ähnliches. Es ist möglich, die Probenvorbereitung für NMR-Messungen mit frei konfigurierbaren Pipettierrobotern durchzuführen. Erste Untersuchungen zeigen, dass die Pipettiergeschwindigkeit sowie die verwendeten Komponenten einen Einfluss auf die Messergebnisse haben und sorgfältig etabliert sowie qualitätsgesichert werden müssen.

Um das Probenvolumen auf unter 300 µl zu reduzieren, stehen extrem schlanke, also im Durchmesser reduzierte Probengefäße, zur Verfügung. Hier ist die Etablierung auf einem Pipettierroboter deutlich herausfordernder und Unregelmäßigkeiten in der Wandstärke der Probengefäße können zur Beeinträchtigung der Messergebnisse führen. Damit stellt die Qualität der Probengefäße einen weiteren Aspekt dar, der in die Qualitätssicherung integriert werden muss.

Die Probenzuführung in ein NMR-Gerät kann mithilfe von mechanischen Modulen teilautomatisiert werden. Diese Module können gekühlt werden und ermöglichen damit einen durchgehenden Betrieb der Messgeräte. Die Zeiten, die bereits vorbereitete Proben in diesen Zuführungsmodulen verbleiben, können länger sein als aktuell im Rahmen der Krankenversorgung üblich. Hier sind umfangreiche Evaluationen erforderlich und sie sind mit der Etablierung neuer Messgrößen für die Krankenversorgung eng verzahnt. Eine Limitation des Probendurchsatzes ist die zwingend sequenzielle Messung der Proben. Dieser kann zukünftig durch den Parallelbetrieb mehrerer NMR-Geräte sowie der Erarbeitung gezielter Mess­protokolle begegnet werden, die die Messzeit auf das Mindestmaß reduzieren, um die gewünschte Aussagekraft zu erzielen. Dieser letzte Schritt ist ebenfalls eng mit der Identifikation neuer Messgrößen und deren gemeinsamer Auswertung im Rahmen von krankheitsspezifischen Signaturen verknüpft.

 

Evaluierung medizinisch etablierter Messgrößen

Viele der seit Jahrzehnten etablierten klassischen laboratoriumsmedizinischen Messgrößen können mit geringem prozessualen und ökonomischen Aufwand bestimmt und im Rahmen der Krankenversorgung qualitätsgesichert zur Verfügung gestellt werden. Auf der Ebene einzelner Messgrößen betrachtet erscheint es daher nicht sinnvoll, den Aufwand der Zulassung auf einer neuen methodischen Plattform wie der 1H-NMR-Spektroskopie erneut zu betreiben. Trotzdem ist dieser Zwischenschritt unerlässlich, um das gesamte Potenzial dieser Technologie für die individualisierte Medizin zu heben. Dieses Vorgehen bietet auch die Chance einer verbesserten Standardisierung von Messergebnissen über verschiedene Laboratorien hinweg, wenn die zugrunde gelegten Protokolle einheitlich zur Anwendung kommen.

Wichtig wird sein, die Qualitätssicherung um bisher ungewohnte Elemente zu erweitern, wie zum Teil bereits im obigen Abschnitt zur Probenvorbereitung und Automatisierung beschrieben. Darüber hinaus müssen zahlreiche Geräte-spezifische Aspekte ebenfalls überwacht und dokumentiert werden, solange sie noch nicht Teil der Geräte- oder Laborsoftware sind.

Bisher wurden die 1H-NMR-Spektroskopie und die Auswertung der einzelnen Messvorgänge nur wenig zielgerichtet anhand der medizinischen Erfordernisse weiterentwickelt. Hier zeichnet sich ab, dass teilweise mit nur wenigen Modifikationen der Protokolle die Detektion einzelner Messgrößen bzw. die Sensitivität der Erfassung substanziell verbessert werden kann. Dies ist ein Prozess, der die möglichen Anwendungsfälle in der Krankenversorgung im Laufe der Zeit deutlich erweitern wird. Es kann auch durchaus attraktiv sein, Messgrößen, die mit Spezial­verfahren aktuell analytisch noch besser erfasst werden können, im Rahmen der 1H-NMR-Spektroskopie mit auszuwerten, um sie so in den Weiterentwicklungsprozess mit einzubeziehen und die darin bereits enthaltene medizinische Aussagekraft zu nutzen.

 

Identifikation neuer Messgrößen und Messgrößenkombinationen

Eine große Bedeutung kommt der Erforschung der mithilfe der 1H-NMR-Spektroskopie neu zur Verfügung stehenden Messgrößen zu. Dazu gehören bekannte aber nicht in der Krankenversorgung etablierte chemisch einfache Metabolite ebenso wie spezifischere Auswertungen. Hier wurden z. B. von einer Lübecker Arbeitsgruppe rund um Prof. Günther Untersuchungen zu Glykoproteinen durchgeführt. Die Arbeitsgruppe konnte zeigen, dass die konventionell bestimmten Akute-Phase-Proteine gut mit den NMR-Signalen korrelieren und damit das Einsatzgebiet der 1H-NMR-Spektroskopie erweitern können [1]. Die Untersuchungen wurden durch erste klinische Studien untermauert, in der Proben von Personen mit COVID-19-Infektion, kardiogenem Schock und gesunden Kontrollen untersucht wurden. Sie zeigen eindrucksvoll das Potenzial auf, das in der Erforschung von Messgrößenkombinationen, sprich Signaturen, verborgen liegt.

 

Erfüllung regulatorischer Anforderungen

Gegenwärtig stellt die IDVR für bereits langjährig etablierte Messverfahren und die anbietenden Unternehmen eine immense Herausforderung dar. Der Transitionsprozess für bereits am Markt vorhandene Verfahren wird noch einige Jahre in Anspruch nehmen. Um eine Methode wie die 1H-NMR-Spektroskopie in der Krankenversorgung einsetzen zu können, ist natürlich auch die Erfüllung wichtiger regulatorischer Anforderungen wie der IVDR erforderlich und sollte bei möglichst vielen Forschungsvorhaben mitgedacht werden. Derzeit gibt es nur eine kleine Anzahl von Geräteanbietern für diese Technologie, die nach wie vor hauptsächlich in zahlreichen anderen – nicht-medizinischen – Gebieten eingesetzt wird.

 

Ausblick

Die Anzahl der 1H-NMR-Spektroskope in medizinischen Laboratorien und deren Forschungseinrichtungen wächst in Deutschland stetig. Für große epidemio­logische Kohorten wie die SHIP-Studie (Study of Health in Pommerania) liegen bereits umfangreiche Daten für verschiedene biologische Materialien vor. Darüber hinaus werden in nationalen Projekten wie der NAKO–Gesundheitsstudie oder dem NUM (Netzwerk für Universitätsmedizin) Proben großer Probandenkohorten mit dieser Methode charakterisiert. Diese und zahlreiche Aktivitäten weiterer Arbeitsgruppen werden wichtige Erkenntnisse für die Translation der 1H-NMR-Spektroskopie in die Krankenversorgung liefern.   

Autoren
Prof. Dr. med. Astrid Petersmann
Universitätsmedizin Oldenburg
Universitätsinstitut für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin
Prof. Dr. med. Matthias Nauck
Universitätsmedizin Greifswald
Institut für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin
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