Wankt das glukozentrische Weltbild?

Diabetologie

Der Diabetes mellitus Typ 2 wird traditio­nell als Störung des Glukosestoffwechsels verstanden und definiert. Entsprechend spielen Blutzucker und glykiertes Hämoglobin (HbA1c) eine Schlüsselrolle für die Diagnosestellung und das Monitoring, die Prävention und die Behandlung des Diabetes. Auf den nächsten Seiten werden diese Aspekte ausführlich dargestellt.

 

Minkowskis Ageusie

In einer seinerzeit Aufsehen erregenden Science-Publikation stellte J. Denis McGarry vor fast 25 Jahren unter der Überschrift „What if Minkowski had been ageusic?" diese glukozentrische Sicht auf den Diabetes mellitus Typ 2 infrage[1]. Zur Erinnerung: Oskar Minkowski (1858–1931) hatte als Erster die Bedeutung der Bauchspeicheldrüse für die Blutzuckerregulation erkannt – und McGarry‘s ironischer Titel unterstellte dem berühmten Kollegen eine Art Geschmacksstörung (Ageusie). Statt des Zuckers betonte er die Rolle der Lipide, insbesondere der Triglyzeride und freien Fettsäuren, in der Pathogenese des Diabetes mellitus und seiner Folgeerkrankungen.

Tatsächlich ist heute unbestritten, dass Lipide für die Entwicklung sowohl der Insulinresistenz und des Betazell-Versagens als auch der vaskulären Komplikationen bedeutsam sind. Die Senkung des LDL-Cholesterins durch Statine wie auch die Senkung des Blutdrucks durch Hemmung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems vermindern das kardiovaskuläre Risiko von Typ-2-Diabetikern weitaus effektiver als die Kontrolle der Glukose- und HbA1c-Spiegel. Ein Punkt für McGarry.

Aber ganz so einfach ist Pathophysiologie nicht, denn Statine erhöhen auch das Risiko, einen Diabetes mellitus zu manifestieren und erschweren zudem die Glykämiekontrolle von Diabetikern. Für eine komplexe Wechselbeziehung zwischen Lipoproteinen, Betazellfunktion und Insulinresistenz sprechen auch die Ergebnisse genetischer Assoziationsstudien: Mutationen und Polymorphismen, die das LDL-Cholesterin oder HDL-Cholesterin senken, erhöhen das Risiko, einen Diabetes vom Typ 2 zu entwickeln.

 

Weiterer Forschungsbedarf

Ähnliche Mendelsche Randomisierungsstudien sprechen auch für eine kausale Rolle des entzündungsfördernden Zytokins Interleukin-6 (IL-6) sowie von verzweigtkettigen Aminosäuren und Vitamin D in der Pathogenese des Diabetes. Diese Beobachtungen führten bereits zur Entwicklung neuer Ansätze für die Prävention und Therapie des Diabetes mellitus Typ 2. Erste Studien, in denen die Hemmung der IL-1β-Wirkung auf die Kontrolle des Typ-1- und Typ-2-Dia­betes getestet wurde, verliefen allerdings mit widersprüchlichen Ergebnissen. Die große CANTOS-Studie[2] wird hoffentlich mehr Sicherheit bringen.

Fazit: Blutzucker und HbA1c behalten sicher ihre zentrale Bedeutung für die Diagnostik und Therapiekontrolle des Diabetes, aber die genetisch-kausalen Assozia­tionen von Lipiden, Interleukinen, Vitamin D und verzweigtkettigen Aminosäuren sollten uns motivieren, an dieser Stelle nicht stehen zu bleiben, sondern das diagnostische und prognostische Potenzial weiterer Biomarker sorgfältig zu evaluieren.