Neglected Tropical Diseases (NTDs): Mehr als nur vektorübertragene Erkrankungen

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2025.02.06

Beim Gedanken an Neglected Tropical Diseases – also vernachlässigte tropische Erkrankungen – kommen oft gleich vektorübertragene Erkrankungen in den Sinn, welche infolge der Klimaerwärmung vielleicht bald auch in Deutschland zu finden sind. Die Gruppe der Erkrankungen ist aber viel heterogener und reicht von Infektions­erkrankungen über Immundefizienzen bis hin zu Intoxikationen. Ein großes Problem stellen sie vor allem für die ärmsten Bevölkerungsgruppen der Welt dar. Hier ist das Engagement der westlichen Welt gefragt, um die Kontrolle, die Diagnostik und die Elimination der Erkrankungen zu erreichen.

Schlüsselwörter: WHO, Noma, MPOX, Bilharziose, Zestoden, Myzetom, Serologie

Die vernachlässigten tropischen Erkrankungen (Neglected Tropical Diseases; NTDs) haben eine hohe Bedeutung für die globale Gesundheit. Die NTDs sind eine heterogene Gruppe grundsätzlich vermeidbarer und therapierbarer Infektionserkrankungen und Intoxikationen, die mit schweren, häufig chronisch zunehmenden Einschränkungen einhergehen und disproportional verarmte Bevölkerungsgruppen betreffen. Sie sind häufig vektorübertragene Zoonosen und nehmen auch infolge des Klimawandels in neuen geografischen Regionen wie Europa zu. Gemeinsam ist den NTDs eine hohe Morbidität – die Lebensjahre mit Invalidität (Disability-Adjusted Life Years; DALYs) sind mit HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria vergleichbar. Dennoch erhalten die NTDs kaum wissenschaftliche oder medizinische Aufmerksamkeit und global sowie regional kaum Ressourcen für ihre Bekämpfung [1]. Aufgrund unzureichender Diagnostik, weitgehend fehlender epidemiologischer Untersuchungen und bevölkerungsbasierter Screenings sowie aufgrund der nicht systematischen Dokumentation werden das Ausmaß und die Verbreitung stark unterschätzt (Abb. 1). 

Das Bundesgesundheitsministerium unterstützt daher die Prävention von NTDs über das Expanded Special Project for Elimination of Neglected Tropical Diseases der WHO.

Nach der Definition der WHO gehören virale, bakterielle, parasitäre und fungale Infektionserreger, Toxine sowie mangelernährungsbedingte Immundefizienz in diese Gruppe [2]. Die WHO schätzt, dass die NTDs als Gruppe von inadäquat diagnostizierten und unzureichend behandelten Erkrankungen mehr als 1,5 Milliarden Menschen betreffen – insbesondere benachteiligte, verarmte Menschen in ländlichen Gemeinden der Tropen und Subtropen. Durch den Klimawandel haben allerdings einige dieser Infektionen bereits heute eine erhebliche weitere geografische Verbreitung und kommen auch in Europa vor. Ebenso trägt die forcierte Migration von Menschen aus Endemiegebieten zur Globalisierung einiger dieser Erkrankungen bei [3]. So treten seit einigen Jahren beispielsweise bereits autochthone Infektionen mit Chikungunya- und Dengueviren in Europa auf. Die Global Burden of Disease-Studie geht von mehr als 2,3 Milliarden Menschen mit NTDs aus, die einer Diagnostik und einer gezielten Therapie bedürfen – davon ca. 6,6 Millionen Menschen in Europa. Um das globale Problem zu adressieren, sind innovative Strategien [4, 5], vor allem eine verfügbare Labordiagnostik, erforderlich.

Derzeit sind mehr als 20 NTDs in der aktuellen WHO-Definition von 2023 erfasst (Tab. 1). 

Tab. 1: Klassifikation der NTDs (Neglected Tropical Diseases) auf Basis der WHO-Definition von 12/2023, nach Ursache mit den jeweiligen Erkrankungen. Tabelle: Autorin.

UrsacheSpeziesVektorenErkrankung
Bakterien

Mycobacterium leprae

Mycobacterium ulcerans

Chlamydia trachomatis

Treponema pallidum pertenuae

Naucoridae

Musca

Lepra

Buruli-Ulkus

Trachom

Frambösie

Viren

Denguevirus

Chikungunyavirus

Rabiesvirus

Aedes

Aedes

 

Denguefieber

Chikungunyafieber

Lyssa/Tollwut

Parasiten

Leishmania spp.

Trypanosoma cruzi

Trypanosoma brucei

Erdübertragene Helminthen,

z. B. Strongyloidus  spp.

Lebensmittelübertragene Trematoden,

z. B. Taenia  spp.

Schistosoma spp.

Onchocerca spp.

Wuchereria spp.

Echinococcus granulosus

Dracunculus medinensis

Phlebotominae

Triatominae

Glossina

 

 

Simulium

Anopheles, Culex

Leishmaniose/Orientbeule

Amerikanische Trypanosomiasis/Chagas

Afrikanische Trypanosomiasis/Schlafkrankheit

Anguillulosis

 

Trematodiasis/Zystizerkose

 

Schistosomiasis/Bilharziose

Onchozerkose/Flussblindheit

Lymphatische Filariose

Echinokokkose/Fuchsbandwurm

Drakunkulose

Pilze

Chromoblastomykosen, 

diverse Pilze (z. T. Bakterien)

Diverse tiefe Mykosen

Myzetome

Immunologisch/

Inflammation

Polymikrobiell orale FloraMund-Gesichts-Gangrän/Noma

Toxine 

und weitere

Schlangenbiss

Scabies und weitere

Intoxikation/Envenomisierung

Ektoparasiten-Infestationen

Im Folgenden werden wichtige infektiöse und immunologische NTDs diskutiert. 

Bakterielle NTDs

Zu den bakteriellen NTDs gehören mehrere mykobakterielle Infektionen wie M. leprae und M. ulcerans, die die Lepra und das Buruli-Ulkus auslösen. Sie sind in vielen Ländern Südostasiens, Südamerikas und Afrikas endemisch. Die chronischen Erkrankungen führen zu zunehmend mutilierenden Hautveränderungen und Neuropathien. Seit Dezember 2023 ist Noma, eine schwere gangränose Inflammation und polymikrobielle Infektion des Gaumens, hinzugekommen, die sich rasch destruktiv auf das Gesicht ausdehnt und zu schweren Defekten der Gesichtsweichteile und -knochen führt. Hauptsächlich betroffen sind mangel- und unterernährte Kleinkinder. Aufgrund der raschen Progredienz und der hohen Letalität wird die Inzidenz der wahrscheinlich immunologisch bedingten polymikrobiellen Erkrankung weit unterschätzt. 

Virale NTDs

Von den viralen NTDs greife ich die bereits heute auch in Deutschland und Europa relevanten Infektionen mit Dengue- und Chikungunyaviren sowie MPOX-Viren heraus. Infektionen mit den beiden erstgenannten Arboviren nehmen insbesondere in Süd- und Osteuropa zu, und zwar infolge der klimabedingten Präsenz des wichtigsten Vektors Aedes albopictus [6]. Eine Diagnostik im Routinelabor ist auch in Europa in der Regel nicht verfügbar. Entsprechende serologische und genombasierte Untersuchungen werden in Referenzlaboratorien und einigen Speziallaboren angeboten. Hersteller bieten teilweise nur IgM- oder IgA-basierte Assays an, die allein nicht aussagefähig sind. Ein erweitertes differenzialdiagnostisches Wissen für die konsiliarische Beratung – aber auch bei den Anfordernden von Labordiagnostik – muss vermittelt werden.

Am Beispiel der MPOX-Viren kann die grundsätzlich vermeidbare, zunächst lokale, dann globale Verbreitung und Virulenzänderung einer viralen NTD aufgezeigt werden. Das Institut National de Recherche Biomédical du Congo, das seinen Sitz in dem Land mit der global höchsten Last an MPOX-Infektionen hat, zeigte von 2010 bis 2023 einen Inzidenzanstieg von MPOX-Infektionen um den Faktor 4. Die am stärksten betroffene Gruppe waren Kinder unter fünf Jahren mit einer Letalität von 6 %. Das Institut wies dringend auf die Notwendigkeit einer dezentralisierten Labordiagnostik hin, ohne dass entsprechende Rahmenbedingungen von der Politik geschaffen wurden und ohne internationale Reaktion für Unterstützung. Heute stehen wir mehreren lokalen und globalen Ausbrüchen durch neue MPOX-Virus-Kladen gegenüber:

  • der Klade Ia, einem zoonotischen Spillover, verantwortlich für die bisherigen endemischen Infektionen im Kongo,
  • den Kladen Ib und IIb B1 mit erhöhter Human-to-Human-Transmission und veränderter Epidemiologie mit globaler Verbreitung insbesondere bei Männern, die Sex mit Männern haben, und
  • seit 2024 einer weiteren Variante von Klade Ia, die ebenfalls eine ausgeprägte Human-to-Human-Transmissionskapazität hat und kozirkuliert [7, 8]. 

Der Mangel an Harmonisierung bei der Falldefinition und an standardisierter Diagnostik bei Verdachtsfällen, das Fehlen von effizienten Probentransportsystemen sowie das Fehlen einer Dokumentation der laborbestätigten Fälle tragen zum Anstieg und der geografischen Verbreitung mit globalen Ausbruchsgeschehen bei. Ohne globale Surveillance ist eine präventive Strategie nicht möglich [9].

Parasitäre NTDs

Ein wichtiges Beispiel der parasitären NTDs ist die Schistosomiasis, die in 78 Ländern der Welt prävalent ist und mehr als 250 Millionen infizierte Menschen betrifft. Trotz multipler Maßnahmen wie z. B. präemptiven Therapien (Mass Drug Administration; MDA) von Schulkindern sowie integrierter hygienebasierter Ansätze wie dem Bau sanitärer Anlagen und dem Schaffen von sauberem Trinkwasser ist es nicht ausreichend gelungen, die Bilharziose in den Hochprävalenzländern Südostasien, dem Mittleren Osten und in Südamerika zu reduzieren [10, 11]. Die bisherige Diagnostik auf Basis des Nachweises der Eier in Faeces oder im Urin ist durch die begrenzte Sensitivität eingeschränkt. Immunologische oder genetische Nachweise stehen in den betroffenen Ländern nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung. Eine innovative kostengünstige sensitive Diagnostik zur Identifikation der Infektionen beim Menschen und den Überträgerschnecken als wesentliche Strategie fehlt bisher. 

Unter den parasitären NTDs stellen Zestoden als multizelluläre Parasiten, die weltweit Säugetiere und Menschen infizieren, eine besonders wichtige Gruppe dar. Echinococcus multiclocularis, der Fuchsbandwurm, ist ausschließlich in der nördlichen Hemisphäre endemisch und kommt in China, Nordamerika und Europa vor [12]. Diese Länder betreffen mehr als 90 % der globalen humanen Infektionen mit E. multilocularis. Aufgrund der in der Mehrzahl der Länder fehlenden nationalen Meldesysteme für humane Infektionen, die Voraussetzung für eine adäquate diagnostische und präventive Strategie sind, muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden.

Fungale NTDs

Wichtige fungale NTDs umfassen das Myzetom, die Chromoblastose und die Sporotrichose [13], die durch eine chronische Infektion mit Fibrosierung von Geweben zu Amputationen führt und so mit erheblicher Morbidität und zunehmenden Behinderungen einhergeht. Zu den langfristen Komplikationen gehört auch die Entwicklung von Karzinomen der Haut. Infektionen erfolgen entweder über die direkte Implantation nach Traumen oder über die Inhalation von Sporen – wie in Amerika prävalent. Auch zoonotische Infektionen über infizierte Tiere sind möglich. Der Myzetomgürtel zwischen dem 15 °S und 30 °N verbreitert sich zunehmend. Eine adäquate Therapie erfordert eine eindeutige diagnostische Differenzierung, z. B. zwischen dem Eumyzetom und Actinomyzeten-Infektionen, die in vielen Ländern nicht verfügbar sind.

Aktuelle Situation und Ausblick

Während die kontinuierlich angepasste Definition der NTDs der WHO als Standard gilt, werden zusätzlich auch weitere Infektionen wie z. B. durch Rickettsien, Orienta spp. und Leptospiren, Amöben, Salmonellen sowie die Japanische Enzephalitis oder die Meloidose von den Centers of Disease Control Europas und anderen zu den NTDs gezählt [14, 15]. 

Aufgrund der Komplexität der Epidemiologie und der Lebenszyklen vieler dieser NTD-Infektionserreger wie auch vorhandener menschlicher und tierischer Reservoire stellen sowohl der diagnostische Nachweis als auch die Etablierung bevölkerungsbasierter Screenings große Herausforderungen dar und sind derzeit unzureichend entwickelt. Die Standarddiagnostik basiert oftmals auf indirekten serologischen Nachweisen, die in Endemiegebieten schwer zu interpretieren sind. Hinzu kommt, dass die Antikörperantwort gerade bei mangelernährten Kindern unzulänglich ist. Viele NTDs sind vektorübertragene Zoonosen, die eng mit der Tiergesundheit, dem Umgang mit (Nutz-)Tieren sowie mit Umweltfaktoren verknüpft sind. Die Übertragungswahrscheinlichkeit ist zudem stark abhängig von den klimatischen Bedingungen. Die WHO hat 2021 den 30. Januar als Welt-NTD-Tag ausgerufen, um höhere Aufmerksamkeit für die vernichtenden Auswirkungen dieser Erkrankungen auf die ärmsten Bevölkerungsgruppen der Welt zu lenken und das Engagement für die Kontrolle, die Diagnostik und die Elimination der Erkrankungen zu fördern [16]. 

Um das globale Ziel der Reduktion der NTDs bis 2030 um 75 % zu erreichen und in mehr als 100 Ländern komplett zu eliminieren (WHO 2023 Road Map NTD), ist die Entwicklung einfacher, zuverlässiger und kostengünstiger Diagnostik essenziell. Denn sie erlaubt eine frühe Diagnose sowie eine gezielte Therapie der Erkrankungen und geht auch über die gegenwärtige präventive kalkulierte Chemotherapie und Transmissionskontrolle hinaus. Dies setzt einen integrativen Ansatz von Gesundheitsprogrammen für Mensch und Tier voraus.