Kurzes Gedächtnis

HbA1c bei erhöhter Retikulozytenzahl

Erhöhte Retikulozytenzahlen sprechen für eine verkürzte Erythrozytenüberlebenszeit. Ab etwa 32‰ ist eine leitliniengerechte Beurteilung der diabetischen Stoffwechsellage mithilfe des HbA1c-Werts nicht mehr möglich.

Schlüsselwörter: Diabetes mellitus, HbA1c, Retikulozyten

Die Messung von glykiertem Hämoglobin A1 (HbA1c) im Blut gilt als Goldstandard der Diagnose und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus[1]. Der Anteil am Gesamthämoglobin resultiert aus dem mittleren Blutzuckerspiegel der letzten Wochen vor der Messung, weshalb man auch vom Zuckergedächtnis spricht[2]. Der Einfachheit halber kann das Ergebnis gleich als durchschnittlicher Blutglukosewert (DBG) der letzten Wochen angegeben werden, zum Beispiel nach der Formel[3]:

DBG (mg/dl) = 28,7 x HbA1c (%) - 46,7

Eine orientierende Studie

Diese Beziehung gilt aber nur, wenn die durchschnittliche Überlebenszeit der Erythrozyten normal ist, also ca. 120 Tage beträgt. Dies wird normalerweise als gegeben vorausgesetzt. Eine verkürzte Lebensdauer der Erythrozyten – z. B. durch Blutverlust oder Hämolyse – führt jedoch naturgemäß zu niedrigeren HbA1c-Werten[4], da sich das „Blutzuckergedächtnis" gewissermaßen verkürzt. Dies wurde durch eine aktuelle Studie an Blutspendern bestätigt: Sowohl bei Typ-2-Diabetikern als auch bei einer nicht-diabetischen Kontrollgruppe waren die HbA1c-Werte in den Wochen nach der Blutspende leicht vermindert[5]. Der Abfall betrug ca. 4%.

Bislang gibt es keine praktikable Möglichkeit, die Lebensdauer der Erythrozyten direkt zu messen. Allerdings wird ein erhöhter Verbrauch von Erythrozyten normalerweise durch gesteigerte Neubildung kompensiert, und dieser wiederum führt zu einem erhöhten Anteil unreifer Erythrozyten. Deshalb haben wir in einer orientierenden Studie den Zusammenhang zwischen diesen Retikulozyten (ausgedrückt in Promille) und dem Anteil von HbA1c am Gesamt-Hb (ausgedrückt in Prozent) untersucht.

Methoden und Ergebnisse

Hierfür wurden im Laborinformationssystem 218 identische und 86 zeitnah entnommene Blutproben (Abstand ≤ 5 Tage) aus den Jahren 2008 bis 2014 identifiziert, bei denen beide Werte angefordert worden waren. Alle Laborergebnisse wurden einzeln auf erkennbare Störfaktoren überprüft; weitere 32 Wertepaare wurden eliminiert, zum Beispiel aufgrund von zwischenzeitlichen Transfusionen. Die HbA1c-Messungen erfolgten als kompetitive Immunturbidimetrie (AU 400 von Beckman Coulter), die Retikulozytenzahl wurde durchflusszytometrisch mittels RNA-Färbung bestimmt (ADVIA 120 von Siemens Healthcare).

Abb. 1 zeigt in der linken Hälfte, dass im vorliegenden Krankengut mehr als 50% der HbA1c-Ergebnisse oberhalb des Grenzwerts von 6,5% (rote Linie) lagen; bei Retikulozytenwerten über 32‰ nahm dieser Anteil dagegen auf etwa ein Viertel ab, und bei Werten über 50‰ gingen die diabetischen Subpopulationen in der HbA1c-Verteilungskurve nahezu komplett verloren (Abb. 2, gestrichelte Linie). Für die weitere statistische Auswertung wurden zwei Gruppen mit Retikulozytenwerten bis bzw. über 50‰ gebildet (Abb. 2). Die mittleren HbA1c-Spiegel und die Streuungen unterschieden sich im t-Test bzw. F-Test statistisch signifikant (p < 0,01 bzw. p < 0,05).

Fazit

Bei stark erhöhter Retikulozytenzahl ist das HbA1c für die Beurteilung einer diabetischen Stoffwechsellage nicht geeignet. Jeder Diabetes-Behandler muss sich bewusst sein, dass der HbA1c-Wert, der heute gemessen wird, aus unterschiedlichsten Einflüssen der letzten Wochen resultiert. Das gilt nicht nur für den dia

­betischen Stoffwechselstatus, sondern auch für präanalytische Einflussgrößen und Störfaktoren wie etwa eine Blutspende, beschleunigten Erythrozytenabbau oder verminderte Neubildung. Dies sollte anamnestisch erfasst und gegebenenfalls durch Mitbestimmung der Retikulozytenzahl bestätigt werden.