Referenzintervalle bei Kindern: Wenn Tabellen an ihre Grenzen stoßen

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2023.01.11

Die Bestimmung von pädiatrischen Referenzintervallen ist ein hochaktuelles Arbeitsgebiet der Laboratoriums­medizin. Zu den Herausforderungen zählen vor allem kleine Fallzahlen und große Alterssprünge. Hier bietet die Biostatistik mit kontinuierlichen Referenzgrenzen und zlog-Werten interessante Lösungsansätze. Wir stellen kostenfreie Werkzeuge vor, die dabei helfen sollen, Erfahrungen mit den neuen Verfahren zu sammeln.

Schlüsselwörter: Referenzintervalle, Pädiatrie, CALIPER, indirekte Verfahren, AdRI, RefLim

Die Bestimmung von Referenzintervallen bei Kindern war schon im letzten Jahrhundert ein Thema in der Fachliteratur [1, 2] und findet seit gut 20 Jahren immer größere Beachtung (Abb. 1).

Aktuell erleben wir einen regelrechten Höhenflug der Publikationstätigkeit, der wohl durch die Einführung indirekter statistischer Verfahren begünstigt wird: Sie ermöglichen die Bestimmung von Referenzgrenzen aus Routinewerten des Labors, sodass die aufwendige und ethisch problematische Rekrutierung gesunder Kinder entfällt.

Gerade auch in Deutschland gibt es in diesem Bereich eine Reihe aktiver Arbeitsgruppen [3–6]. In der DGKL1 widmet sich eine eigene Sektion der Definition von Referenzintervallen und hat dabei ein besonderes Augen­merk auf die korrekte Altersstratifizierung [7].

Im Rahmen einer Bevölkerungsstudie zur „Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS) hat das Robert-Koch-Institut altersabhängige Perzentilenkurven für häufig bestimmte Laborwerte publiziert2. Abb. 2 zeigt den Altersverlauf der alkalischen Phosphatase mit ihren typischen Gipfeln in Zeiten verstärkten Knochenwachstums sowie einem deutlichen Abfall nach der Pubertät.

Aus diesem Beispiel wird die besondere Herausforderung der Referenzintervallbestimmung bei Kindern deutlich: Im Vergleich zur Erwachsenenmedizin sehen wir hier relativ komplizierte Verläufe, die sich durch die klassischen tabellarischen Angaben nur schwer beschreiben lassen.

Kostenfreie Softwarewerkzeuge

Für die vorliegende Übersichtsarbeit verwendeten wir Originaldaten aus der Canadian Laboratory Initiative on Pediat­ric Reference Intervals (CALIPER)3, der weltweit wohl größten Initiative zur Bestimmung pädiatrischer Referenzintervalle. Diese Sammlung ist eine wahre Fundgrube, um Altersverläufe zwischen 0 und 18 Jahren für Analyten von A wie ALT bis U wie Uric Acid zu analysieren. Unter dem Namen Age-dependent Reference Intervals (AdRI) haben wir zwei Softwarewerkzeuge in R entwickelt, die als Shiny-Apps kostenfrei verfügbar sind4. Das erste zeigt medizinisch auffällige Alterssprünge auf der Basis von zlog-Werten an [9], und das zweite macht mithilfe des R-Pakets gamlss (Generalized Additive Models for Location, Scale and Shape) [10] Vorschläge für die mathematische Modellierung kontinuierlicher Referenzgrenzen nach dem Vorbild von zwei aktuellen Publikationen aus Kanada und China [11, 12]. Der Aufruf erfolgt mit folgenden Befehlen in R:

library(shiny)

runGitHub("Zlog_AdRI", "SandraKla”)

runGitHub("AdRI", "SandraKla”)

Dazu muss das Paket shiny installiert sein.

 

Bewertung von Alterssprüngen

 In der CALIPER-Datenbank findet man beispielsweise beim Kreatinin große Alterssprünge, die einen pathologischen Wert von einem Tag auf den anderen normal erscheinen lassen können und umgekehrt. Man beachte den großen Sprung zwischen dem 14. und 15. Lebenstag (oberer Pfeil in Abb. 3 und linker Pfeil in Abb. 4).

Er hat einen physio­logischen Grund: Die Urinausscheidung muss nach der Geburt erst von der Plazenta auf die Nieren umgestellt werden. Der zweite Sprung ab dem fünften Lebensjahr des Kindes ist hingegen unplausibel; in Abb. 4 unten sieht man dort keine Stufen, sondern einen weitgehend kontinuierlichen Anstieg, der durch starre Altersgruppen nur unzureichend abgebildet werden kann.

Abhilfe bei unberechtigt großen Sprüngen bietet die Einführung engmaschigerer Altersbereiche, aber diese Maßnahme führt häufig zu sehr kleinen Fallzahlen pro Kohorte, sodass eine zuverlässige Berechnung von Referenzgrenzen aus statistischer Sicht nicht mehr gewährleistet werden kann. Selbst bei den großzügigen Altersbereichen der CALIPER-Studie umfasst die kleinste Kohorte für das hier gezeigte Kreatinin nur 120 Fälle; das ist die Mindestanzahl gesunder Individuen, die die IFCC/CLSI-Leitlinie für die Referenzintervallbestimmung fordert.

Höhere Fallzahlen sind aber insbesondere in der Neonatologie allein schon aus ethischen Gründen (Einwilligung der Eltern in eine Körperverletzung) problematisch.

Kontinuierliche Referenzgrenzen

Hier bietet die Ermittlung von kontinuierlichen Referenzgrenzen einen eleganten Ausweg aus dem Dilemma. Dabei werden die Punktewolken (Abb. 4 unten) nicht stufenweise, sondern als Ganzes betrachtet. Mithilfe von statistischen Verfahren der Kurvenanpassung ermittelt man Parameter für mathematische Gleichungen, die fließende Referenzgrenzen beschreiben [4, 10–12].

In der Regel lässt man hierfür den Rechner nach Segmenten in der Punktewolke suchen, an die man wie mit einem Kurven­lineal (engl. spline) gebogene Linien anlegt. Noch eleganter ist der Versuch, eine Universalformel zu finden, die den gesamten Kurvenverlauf beschreibt [3], um auf einfache Weise tagesgenaue Referenzgrenzen berechnen zu können.

Im R-Paket gamlss werden verschiedene statistische Verfahren zur Regressions­modellierung und zum statistischen Lernen zusammengefasst. Die Palette reicht von einfachen Spline-Regressionen bis zu künstlichen neuronalen Netzen (Abb. 6).

Die in Abb. 5 gezeigten kontinuierlichen Referenzgrenzen für Kreatinin bei Mädchen erstellten wir in Anlehnung an eine Arbeit aus der CALIPER-Gruppe [11] mit einem iterativen LMS-Modell (Lamba, Mu, Sigma), das dank seiner hohen Anpassungsfähigkeit an komplexe Altersverläufe sogar den steilen Abfall in den ersten beiden Lebenswochen und den daran anschließenden langsamen Anstieg sehr gut abbildet.

Abb. 6 demonstriert am Beispiel der α-Amylase, dass verschiedene Verfahren aus dem gamlss-Baukasten durchaus zu unterschiedlichen Lösungsvorschlägen gelangen können. Alle drei Modelle erkennen den steilen Anstieg der Werte nach der Geburt und den weitgehend konstanten Verlauf in der Kindheit und Jugend. Der kubische Spline (linkes Bild) ergibt einen runden Kurvenverlauf, verbreitert aber die Phase des Anstiegs zu weit nach rechts bis zum siebten Lebensjahr. Der Entscheidungsbaum (mittleres Bild) schlägt feste Altersgrenzen nach 137 und 350 Lebenstagen vor, die diese Verbreiterung über das erste Lebensjahr hinaus vermeiden, dafür aber viele hohe Messwerte unberücksichtigt lassen. Das künstliche neuronale Netz (rechtes Bild) findet im vorliegenden Fall eine passable Zwischenlösung.

RefLim für die Routinepraxis

Sowohl die deutsche KiGGS- als auch die kanadische CALIPER-Datenbank basieren auf Messwerten, die an gesunden Kindern erhoben wurden. Dies vereinfacht zwar die statistische Auswertung ungemein, doch solche Studien kosten Millionen und sind selbst für universitäre Einrichtungen oder große Laborverbünde unerschwinglich.

In der Realität des Laboralltags werden gerade für die Ermittlung pädiatrischer Referenzintervalle indirekte Verfahren benötigt, die aus Routinewerten die Referenz­population mit statistischen Verfahren herausfiltern [4–7]. Als einfach zu bedienendes R-Programm steht hierfür beispielsweise das Paket refineR zur Verfügung, das für reproduzierbare Ergebnisse etwa 2.000 Werte pro Alterskohorte benötigt [5]. 

Methodisch weniger anspruchsvoll ist das von unserer Arbeitsgruppe entwickel­te RefLim-Verfahren (reflim.github.io/Epub/), das mit etwa 200 Fällen pro Alterskohorte auskommt und in der einfachsten Version mit Excel durchgeführt werden kann. Dieses Programm kam kürzlich beispielsweise an der Universität Heidelberg zur Ermittlung von Referenzgrenzen für massenspektro­metrische Hormonbestimmungen bei Kindern und Erwachsenen zum Einsatz [5].

Kursangebote für solche Studien finden sich unter www.trillium.de/akademie.

Autoren
Sandra Klawitter, M. Sc.
Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften und Trillium GmbH Med. Fachverlag
Prof. Dr. Frank Klawonn
Trillium GmbH Med. Fachverlag
Prof. Dr. med. Georg Hoffmann
Trillium GmbH Med. Fachverlag
Aus der Rubrik