Informationsüberflutung

Schwerpunkt Hämostaseologie

Selbst aus der Hämostaseologie kommen gelegentlich Meldungen, die man auf Anhieb versteht. So geschehen in der aktuel­len Ausgabe des New England Journal of Medicine vom 7. Dezember 2017: Einem Team aus Hämatologen und Molekular­biologen der University of Pennsylvania, USA, gelang es mithilfe einer neuartigen viralen Genfähre, Patienten mit Hämo­philie B ein intaktes Gen für den defekten Gerinnungsfaktor IX in ihre Leberzellen zu übertragen[1]. Die im Blut messbare FIX-Aktivität nahm daraufhin von weniger als 2% auf 14% bis 81% zu, was ausreichte, um den Betroffenen ein annähernd normales Leben ohne Verabreichung von FIX-Präparaten zu ermöglichen. Auch Laien leuchtet ein, dass mit dieser erfolgreichen Therapie einer prinzipiell unheilbaren Krankheit eine Sensation verkündet wurde.

 

Kompliziert – und doch zu einfach

Ansonsten gelten aber Fachberichte aus der Hämostaseologie gemeinhin als schwer verdaulich. Die meisten Ärzte erinnern sich vom Studium her nur noch dunkel an die „extrinsische und intrinsische Gerinnungskaskade" mit ihren Faktoren I bis XIII. Und sie fühlen sich vollends verun­sichert, wenn sie hören, dass dieses scheinbar komplizierte, historische Schema die Realität viel zu stark vereinfacht und zum Teil sogar falsch wiedergibt.

Mit unserem Schwerpunkt Hämostaseo­logie wollen wir etwas Licht ins Dunkel bringen. Gerinnungsexperten vom UKE Hamburg, der Charité Universitätsmedizin in Berlin und der Universität Maastricht geben auf den folgenden Seiten Einblick in ihre wissenschaftliche und klinische Arbeit, frischen vergessenes Basiswissen auf und bringen vermeintliche Gewissheiten ins Wanken.

Wer beispielsweise glaubt, man könne Blutungsrisiken durch ein präoperatives Laborscreening mit „Quick und PTT" erkennen, sollte sich unbedingt am CME-Fragebogen auf S. 266 versuchen. Und wer der Meinung ist, eine verlängerte aPTT spreche grundsätzlich für eine Blutungsneigung, der wurde bereits in unserer vorletzten Ausgabe bei der Besprechung des Antiphospholipid-Syndroms eines Besseren belehrt und erhält nun für den Faktor-XII-Mangel eine ähnliche Botschaft: Beides geht eher mit einer Thromboseneigung einher.

Und um die Sache noch etwas komplizierter zu machen: Wer aus seinem Medizinstudium mitgenommen hatte, dass der Faktor XII etwas mit Gerinnung zu tun habe, musste zwischenzeitlich akzeptieren, dass es sich bei diesem Protein eher um einen Entzündungsmediator handelt – und lernt nun von Prof. Thomas Renné, dass es letztlich doch um Gerinnung geht ...

Besonders dankbar sind wir den Autoren des Beitrags über Thrombingenerierung, Dr. Annelie und Thomas Siegemund aus Magdeburg, für die nebenstehende Handzeichnung, mit der sie die Peakform ihres Assays (siehe S. 260) als Kumulation kaskadierender Ereignisse erläutern.

Wir waren von dieser Zeichnung so angetan, dass wir daraus ein Bild gestaltet haben, das nicht nur den Thrombinpeak, sondern auch die Informations­überflutung symbolisiert, mit der sich so mancher Leser womöglich beim Stichwort Hämostaseologie konfrontiert sieht. Das Bild ist bei Weitem nicht komplett, aber es veranschaulicht, warum die Hämostaseologie vielen Medizinern ein Graus ist.

[1] Lindsey A et al. Hemophilia B gene therapy with a high-specific-activity factor IX variant. NEJM 2017; 377: 2215–27

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