Die Rolle des Von-Willebrand-Faktors bei der Angiogenese: Jenseits der Hämostase

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2023.04.09

Dass der Von-Willebrand-Faktor eine bedeutende Rolle bei der Blutgerinnung spielt, ist weithin bekannt. Seine Funktionen gehen darüber aber weit hinaus: Das Glykoprotein hat eine regulatorische Wirkung bei der Angiogenese. Menschen mit dem Von-Willebrand-Syndrom, die an einem Mangel des Von-Willebrand-Faktors leiden, können Angiodysplasien aufweisen.

Schlüsselwörter: VWF, VWS, VEGFA, Integrin αvβ3, KDR, TEK, CCN2

Der Von-Willebrand-Faktor (VWF) ist ein großes, multimeres Glykoprotein, dessen elementare Rolle im Blutgerinnungssystem als Träger und Stabilisator für den Gerinnungsfaktor VIII (FVIII) sowie als entscheidender Faktor für die Thrombozytenadhäsion bei Gefäßverletzungen seit Langem bekannt ist. Seine Relevanz für die Blutstillung wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass ein Mangel oder eine Anomalie dieses Proteins das Von-Willebrand-Syndrom (VWS), die häufigste erbliche Blutgerinnungsstörung, verursacht [1].

Erst in neuerer Zeit erkannte man zunehmend, wie viel komplexer die Funktio­nen des VWF sind. So konnte inzwischen gezeigt werden, dass dieser Faktor neben FVIII diverse weitere Proteine binden kann. Zudem ist er für die Bildung der als Weibel-Palade-Körperchen bezeichneten Zellorganellen und für die Regulation der Blutgefäßbildung, der Angiogenese, entscheidend [2].

 

VWF und Angiogenese

Der Begriff Angiogenese beschreibt die Entstehung neuer aus bereits existierenden Gefäßen. Der Prozess wird in der Regel durch eine Sauerstoffunterversorgung des umliegenden Gewebes ausgelöst und spielt sich meist im Rahmen einer Entzündung, der Wundheilung, der Tumorgenese oder bei physiologischen Auf- und Umbauprozessen, beispielsweise im weiblichen Reproduktionstrakt, ab [3].

Besteht im Gewebe ein fokaler Sauerstoffmangel, sezernieren Zellen in diesem Bereich Gefäßwachstumsfaktoren wie den vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor A (VEGFA). Diese erreichen die nächstgelegenen Gefäße und bewirken dort die Auflösung der Basalmembran und gleichzeitig die Aktivierung der Endothelzellen. Es entwickelt sich eine sogenannte Tipzelle, die als Vorläufer des neuen Gefäßes fungiert. Sie ist mit VEGFA-bindenden Rezeptoren (KDR, kinase insert domain receptor) besetzt, mit deren Hilfe sie in Richtung der höheren VEGFA-Konzentration wächst. Sobald ausreichend neue Gefäße gebildet wurden und sich der Sauerstoffspiegel normalisiert hat, nimmt die Sekretion der Wachstumsfaktoren ab und die Endothelzellen gehen wieder in den Ruhemodus über [4].

Seit einigen Jahren ist bekannt, dass der VWF mit seiner stabilisierenden Wirkung von großer Bedeutung für die Angiogenese ist. Eine reduzierte VWF-Expression führt zu einer verstärkten Proliferation und Migration der Endothelzellen. So wurde beispielsweise bei VWF-defizienten Mäusen eine erhöhte Blutgefäßdichte nachgewiesen [5]. Untersuchungen an Endothelzellen von menschlichen VWS-Patient:innen bestätigten diese Ergebnisse [6].

 

Angiodysplasie beim VWS

Der Effekt des VWF auf die Angiogenese wird bei Menschen mit dem VWS auch klinisch deutlich. Insbesondere können diese Gefäßfehlbildungen, also Angiodysplasien aufweisen, die durch erweiterte, dünnwandige, unregelmäßige und stark gewundene Blutgefäße gekennzeichnet sind. Dieser Zusammenhang wurde erstmals von Quick [7] beschrieben, der bei VWS-Patient:innen Teleangiektasien in der Nasenschleimhaut sowie im Nagelfalz nachwies. Seitdem wurden Angiodysplasien bei VWS-Patient:innen in verschiedenen Organen beschrieben, vor allem im Gastrointestinaltrakt [8], im Nagelbett [9] und in der Prostata [10]. In einem VWS-Typ-3-Schweinemodell wurde darüber hinaus auch die Gebärmutter untersucht und Angiodysplasien gefunden [11].

Die genaue Prävalenz von Angiodysplasien beim VWS ist schwer zu belegen, da eine eingehende Untersuchung der VWS-Patient:innen auf diese Anomalie nicht standardmäßig erfolgt. Auch können die Lokalisationen und das Verteilungsmuster innerhalb der Organe von Person zu Person individuell und in Abhängigkeit vom VWS-Typ und -Subtyp sehr unterschiedlich sein. Die Ausprägung der Angiodysplasien ist ebenfalls variabel. Während sie in den oberflächlichen Schleimhautbereichen auch makroskopisch sichtbar werden, sind sie in geringerer Ausprägung oder bei Vorkommen in tieferen Schichten oft nur histologisch zu erkennen. Insbesondere gastrointestinale Blutungen, die eine wichtige Ursache für Morbidität und Mortalität beim VWS darstellen, sind klinisch stark mit dem Vorkommen von Angiodysplasien assoziiert.Gastrointestinale Blutungen im Zusammenhang mit Angiodysplasien konnten bei allen VWS-Typen diagnostiziert werden [12]. Derartige Blutungen sind schwer zu behandeln, Rezidive und erneute Blutungen sind häufig.

 

Molekulare Mechanismen

Der VWF reguliert die Angiogenese auf verschiedenen Wegen; einige davon sind inzwischen gut erforscht. Dies kann über direkte Interaktion mit angiogen wirksamen Proteinen oder indirekt über die Weibel-Palade-Körperchen geschehen. Die Weibel-Palade-Körperchen sind Zellorganellen der Endothelzellen zur Speicherung und kontrollierten Ausschüttung des VWF und vieler weiterer Proteine, die zum Teil für die Angiogenese relevant sind. Diese Organellen sind jedoch direkt abhängig vom VWF, da sie ihn nicht nur speichern, sondern auch durch ihn stabilisiert werden [13]. Wird kein VWF exprimiert, können keine Weibel-Palade-Körperchen gebildet werden; damit erfolgt die Ausschüttung der ansonsten dort gespeicherten Proteine weniger kontrolliert.

Die bisher identifizierten, vom VWF beeinflussten Mediatoren der Angiogenese sind vor allem die Rezeptoren Integrin αvβ3, KDR (ehemals VEGFR2) und TEK (TEK Tyrosin-Protein-Kinase, ehemals TIE2) sowie die Liganden ANGPT (Angiopoetin) 1 und 2, CCN 2 (Cellular Communication Network Factor 2) und VEGFA. In diesem Zusammenhang spielt der VWF eine komplexe Rolle.

 

Integrin αvβ3

Zunächst kann der VWF an den Adhäsionsrezeptor Integrin αvβ3 binden und diesen aktivieren. Er wird in angiogen aktivem Gewebe exprimiert und setzt sich aus den Untereinheiten ITGB3 (Integrin Subunit Beta 3) und ITGAV (Integrin Subunit Alpha V) zusammen. Integrin αvβ3 wirkt in der Regel proangiogen, mit einem Fokus auf der Gefäßreifung [14]. Der VWF ist außerdem notwendig, um den Rezeptor auf der Zelloberfläche zu stabilisieren [2, 11]. In Abwesenheit des VWF werden die Rezeptoren nicht mehr auf der Oberfläche der Zelle gehalten, sondern liegen zu einem großen Teil innerhalb der Zelle vor, wodurch sie ihre Funktion verlieren [11]. Zusätzlich scheint ein Mangel an VWF auch dazu zu führen, dass die Expression der ITGB3-Untereinheit des Rezeptors signifikant herabgesetzt wird, was ebenfalls zu weniger funktionsfähigen Integrin-αvβ3-Rezeptoren führt [5,11]. Neben seiner Rezeptorfunktion im eigentlichen Sinne interagiert die Integrin-Untereinheit ITGB3 auch mit dem Rezeptor KDR, der ebenfalls Bedeutung für die Angiogenese hat [15].

 

KDR

Dabei scheint Integrin αvβ3 in der Lage zu sein, den KDR-Rezeptor in gewisser Weise zu dämpfen. Ein Mangel an Integrin αvβ3 führt zu einer erhöhten Sensibilität von KDR gegenüber seinem Liganden VEGFA und damit einer verstärkten proangiogenen Reaktion [2]. Zusätzlich kann ein VWF-Mangel zu einer vermehrten Expression von VEGFA führen und diesen Effekt verstärken [11, 16]. Während der Integrin-αvβ3-Rezeptor die Angiogenese vor allem im Hinblick auf die Gefäßmaturation fördert, liegt der Fokus bei der KDR-vermittelten Angiogenese auf der schnellen und verstärkten Proliferation und Migration der Gefäße. Somit kann ein Mangel an VWF das Verhältnis dieser beiden angiogenen Steuerungen verschieben und zu einer vermehrten Bildung qualitativ minderwertiger Gefäße und damit letztlich auch zu Angiodysplasien führen [2, 11].

 

TEK

Auch der Rezeptor TEK spielt eine Rolle in der komplexen Regulation der Angiogenese, da er bei Bindung von ANGPT1 zu einer Stabilisierung der Gefäße und einer verminderten Gefäßbildung führt. ANGPT2 kann jedoch ebenfalls an TEK binden und ANGPT1 verdrängen. Dadurch wird die stabilisierende Wirkung von TEK auf die Gefäße aufgehoben und die VEGFA-vermittelte Angiogenese verstärkt [17]. Während die Expression von ANGPT1 und TEK offenbar nicht gravierend durch den VWF beeinflusst wird, führt ein VWF-Mangel je nach Ausprägung zu einer Reduktion bis hin zum kompletten Fehlen der Weibel-Palade-Körperchen, in denen ANGPT2 gespeichert und mit deren Hilfe es reguliert freigesetzt wird. So kann es im Rahmen des VWS zu einer Dysregulation der ANGPT2-Freisetzung kommen. Die Ausprägung dieser Dysregulation kann schwanken und scheint auch organ- und umgebungsabhängige Unterschiede aufzuweisen. In jedem Falle sollte der ANGPT2-Spiegel in Relation zu den Spiegeln von ANGPT1 und TEK betrachtet werden [2,11].

 

CCN2 und VEGFA

Des Weiteren wurde gezeigt, dass auch die Expression von CCN2 beim VWS erhöht ist [18]. Da VEGFA einen expressionssteigernden Einfluss auf CCN2 hat, könnte es sich um einen indirekten, über VEGFA vermittelten Effekt handeln. Allerdings wurde auch nachgewiesen, dass VWF direkt an CCN2 binden kann [19]. Dies könnte CCN2 vor dem Abbau schützen oder eine andere, noch unbekannte Funktion haben. CCN2 spielt eine direkte Rolle bei der Integrin-αvβ3-vermittelten Angiogenese. Außerdem schwächt es durch negative Rückkopplung die Bindung von VEGFA an seinen Rezeptor. Diesem Rückkopplungseffekt könnte trotz erhöhter Expression von CCN2 bei VWF-Mangel ein verstärkter Abbau dieses Proteins durch die fehlende VWF-Bindung entgegenstehen. Durch die Internalisierung und Reduktion des Rezeptors Integrin αvβ3 wird die Funktion von CCN2 in jedem Fall reduziert.

 

Fazit

Der Von-Willebrand-Faktor ist in der Lage, die Angiogenese über diverse Pfade zu beeinflussen – sowohl als extrazellulärer Ligand als auch aufgrund seiner Fähigkeit, die Speicherung und möglicherweise die Expression von Endothelproteinen zu kontrollieren. Ein Mangel an funktionsfähigem Faktor, wie er beim VWS besteht, kann damit zu einer Dysregulation der Angiogenese mit verstärkter Bildung von weitlumigen, dünnwandigen Gefäßen führen, da die Gefäßstabilisierung und Gefäßreifung zugunsten von Proliferation und Migration zurückgefahren wird. Dadurch kann es in der Folge zu den beim VWS typischen Angiodysplasien kommen.

Autor
Priv.-Doz. Dr. Stefanie Lehner
Werlhof-Institut MVZ GmbH
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