Der verlängerte Arm der Blutplättchen

Extrazelluläre Vesikel im Blut

Alle Zellen unseres Körpers, insbesondere aber die Thrombozyten, geben extrazelluläre Vesikel (EV) ins Blut ab. Diese enthalten RNA, Proteine und Lipide und spielen eine bedeutsame Rolle bei vielen physiologischen und pathologischen Vorgängen. Aus der Flut einschlägiger Publikationen werden einige besonders attraktive Anwendungsmöglichkeiten für Blutplättchen-EV vorgestellt – von der Krebsdiagnostik bis zur Qualitätskontrolle von Blutprodukten.

Schlüsselwörter: Extrazelluläre Vesikel, Blutplättchen, Hämostase, Inflammation, Zelldifferenzierung

Seit den 1960er-Jahren ist bekannt, dass Blutplättchen nach Aktivierung submikroskopisch kleine, von einer Membran umschlossene Partikel ins Blut abgeben. Dieser „Plättchenstaub" wurde jahrzehntelang kaum beachtet, doch mittlerweile ist klar, dass es sich hierbei um die mengenmäßig bedeutendste Fraktion extrazellulärer Vesikel (EV) im Blut handelt (Abb. 1). Das wissenschaftliche Interesse an diesen Plättchen-EV hat seit dem Jahrtausendwechsel sprunghaft zugenommen.

Wie alle EV lassen sich auch diejenigen aus Plättchen in zwei Typen untergliedern: die Exosomen, die aus dem Zellinneren stammen und in der Regel einen Durchmesser von weniger als 0,1 µm haben und die Mikrovesikel, die von der Außenmembran der Blutplättchen abgeschnürt werden und bis zu 1 µm groß sind. Beide Typen üben eine Vielzahl phy­siologischer Funktionen aus und spielen bei verschiedenen Erkrankungen eine bedeutsame Rolle.

Hämostase und Inflammation

Bereits die Blutplättchen selbst sind (trotz der Bezeichnung „Thrombozyten") keine Zellen im eigentlichen Sinn, sondern kernlose, abgeschnürte Zellfragmente, die von Megakaryozyten aus dem Knochenmark stammen. Ihre bekannteste Funk­tion ist die Blutstillung bei Gefäßschäden. Hierzu verfügen sie über einen ausge­klügelten „molekularen Werkzeugkasten", der sowohl Rezeptoren, Adhäsionsmoleküle und negativ geladene Phospholipide auf der Zelloberfläche als auch große Mengen biologisch aktiver Substanzen im Zell­inneren beinhaltet.

Die Bedeutung der Blutplättchen bei der Hämostase ist in der Medizin fest etabliert – man denke nur an die millionen­fache Gabe von Aggregationshemmern zur Throm­boseprophylaxe[1]. Weniger bekannt ist, dass die Plättchen auch bei der Immunabwehr und Entzündung eine Rolle spielen. So besitzen sie die Fähigkeit, Zytokine auf der Oberfläche zu präsentieren und zusammen mit anderen Entzündungsmediatoren auszuschütten. Mit ihren zahlreichen Oberflächenrezeptoren docken sie auch an verschiedene körpereigene und körperfremde Zellen an, zum Beispiel an Endothelzellen, Leukozyten oder Bakterien[2]. Manche Bakterienarten können sich durch Bindung an Blutplättchen auch gegenüber der Immunantwort tarnen[3].

Die Abgabe von EV durch die Blutplättchen fügt diesen seit Langem bekannten Funktionen eine ganze Welt noch unzureichend erforschter Möglichkeiten der Hämostase- und Immunmodulation hinzu.

Plättchen-EV als Verstärker

Prinzipiell sind die Eigenschaften der EV denen ihrer Elternzellen sehr ähnlich, doch in einigen Studien wurden auch spezifische Merkmale festgestellt: So ist ihre Oberfläche zum Beispiel durch einen hohen Gehalt an Phosphatidylserin besonders stark negativ geladen; deshalb wirken sie als potente Verstärker für die enzymatische Kaskade der intrinsischen Gerinnung. Auch sind manche Oberflächenrezeptoren (Integrine) wie etwa das GPIIb/IIIa im Gegensatz zu ruhenden Plättchen aktiviert, sodass die EV an viele Komponenten ihrer molekularen und zellulären Umgebung binden und die Bildung von plättchenreichen Blutgerinnseln verstärken können[4].

Plättchen-EV exprimieren Chemokine auf ihrer Oberfläche und deponieren sie auch auf der Gefäßwand. So hinterlasse sie „biochemische Nachrichten", die nachfolgend von Immunzellen weiterverarbeitet werden. Man vermutet, dass dieser Mechanismus unter anderem bei Auto­immunprozessen eine Rolle spielt.

Modifikation von Zielzellen

Statt nur an Zellen anzudocken, können EV auch komplett mit Zellmembranen verschmelzen und so ihren gesamten Inhalt als molekulare Botschaft auf eine Zielzelle übertragen. Dieser Inhalt besteht aus Proteinen, verschiedenen RNAs und bioaktiven Lipiden. Einige Studien haben gezeigt, dass sich der Phänotyp und das Verhalten der Zielzellen nach Aufnahme von EV verändern. Dies lässt sich sogar in vitro demonstrieren: Inkubiert man zum Beispiel Monozyten mit EV aus Blutplättchen, so führt dies zur Aufnahme in die Zellen und zur Differenzierung in einen Makrophagen-ähnlichen Phänotyp[5, 6]. Allerdings können sich die Monozyten je nach Inkubationsbedingungen auch in ganz andere Zelltypen wie etwa dendritische Zellen umwandeln[7].

In ähnlicher Weise modifizieren bestimmte mikroRNA-Moleküle aus Plättchen-EV die Zellen der Gefäßwand[8]. Interessant sind in diesem Zusammenhang vor allem die glatten Muskelzellen (SMC): Ein längerfristiger Kontakt von arteriellen SMC mit Plättchen-EV führt zu einer phänotypischen Veränderung in Richtung des sogenannten synthetischen Typs[9] (Abb. 2). Synthetische SMC werden mit pathologischen Remodellierungsprozessen der Gefäßwand wie etwa der Atherosklerose in Verbindung gebracht.

Man kann somit postulieren, dass die aus Blutplättchen freigesetzten EV nicht nur klassische Funktionen ihrer Mutterzellen verstärken, sondern auch deren genetisches Differenzierungsprogramm auf bestimmte Zielzellen des Blutes und der Gefäßwand übertragen. Die physiologische und pathophysiologische Bedeutung dieser molekularen Kommunikation konnte noch nicht hinreichend geklärt werden; es ist aber bereits gesichert, dass der ehemals unterschätzte „Plättchenstaub" den verlängerten Arm der Thrombozytenantwort auf hämostatische, inflammatorische und regenerative Reize darstellt.

  

Bedeutung für die Medizin

In den letzten zehn Jahren wurde klar, dass EV neben Blutplättchen auch von allen anderen Körperzellen abgegeben werden, und dass sie nicht nur im Blut, sondern in praktisch allen biologischen Flüssigkeiten nachweisbar sind. Damit wird diese partikuläre Fraktion zu einem attraktiven Untersuchungsobjekt für die medizinische Diagnostik.

Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass EV bei verschiedensten Krankheiten gehäuft im Blut vorkommen. Vor allem bei Herz- und Gefäßkrankheiten, Diabetes mellitus und Krebs wurden erhöhte Mengen zirkulierender Blutplättchen-EV gemessen. Eine klinische Einordnung dieser Befunde ist allerdings schwierig, da sich die meisten Untersuchungen am Menschen auf die reine Quantifizierung beschränken; experimentelle Studien zur Aufklärung möglicher Pathomechanismen wurden bislang nur an in-vitro-Modellen und im Tierversuch durchgeführt.

Labormedizinisches Potenzial

Wie bereits in einer früheren Ausgabe dieser Zeitschrift berichtet, kämpft die Labormedizin bei der Untersuchung von Patientenproben derzeit noch mit verschiedenen technischen Schwierigkeiten[10]. Vor allem die geringe Größe und suboptimale Lichtbrechung der EV stellen eine methodische Herausforderung dar: Gängige Durchflusszytometer können so kleine Partikel nicht sicher erfassen, und spezialisierte Geräte mit höherem Auflösungsvermögen sind für anwendungsnahe Labore momentan noch eine zu große Inves­tition. Zudem erfordert die Arbeit mit EV ein hohes Maß an Standardisierung, insbesondere bei der Probenentnahme und Vorverarbeitung.

Derzeit gelten die differenzielle Dichtegradienten-Zentrifugation und die Gel­permeations-Chromatografie allein oder in Kombination als Methoden der Wahl. Zunehmend werden aber auch spezifische Oberflächenmerkmale für die Isolierung und Differenzierung der EV eingesetzt (Abb. 3). Die Literatur liefert hier immer wieder neue Verfahren, die erprobt und auf ihre Routinetauglichkeit geprüft werden müssen. Es ist anzunehmen, dass die gegenwärtigen analytischen Probleme in den nächsten Jahren durch solche methodischen Weiterentwicklungen überwunden werden – und dann haben Plättchen-EV ein großes Potenzial als Bio­marker.

Praktische Einsatzgebiete

Eine naheliegende und relativ einfache Anwendung der Blutplättchen-EV als Bio­marker könnte in der Transfusionsmedizin liegen. Im Vergleich zu anderen Blutprodukten sind Plättchenkonzentrate besonders häufig mit unerwünschten Nebenwirkungen belastet. Ein Grund dafür dürfte sein, dass Blutplättchen während der Aufbewahrungszeit trotz Kühlung ständig EV freisetzen, die dann zu den oben beschriebenen entzündungsfördernden Effekten führen. Somit könnte allein die EV-Zählung eine verbesserte Risiko-Einschätzung für die Empfänger solcher Konzentrate ermöglichen.

Auch für die Gerinnungsdiagnostik sind interessante neue Einsatzgebiete denkbar. Da EV durch ihre komplexe Zusammensetzung mehr Information enthalten als herkömmliche Hämostasemarker, wird erwartet, dass die Aufschlüsselung ihres Inhalts (miRNA, Proteine, Lipide) wertvolle Auskunft über die Ursachen der Aktivierung – etwa durch Thrombin oder Kollagen – gibt.

Besonders spannende neuere Arbeiten weisen den Blutplättchen eine mögliche Rolle in der Krebsdiagnostik zu. Sie können nämlich EV aus anderen Zelltypen und insbesondere auch aus Tumoren aufnehmen[11]; nach Aktivierung setzen sie EV mit tumorspezifischen miRNA- und Proteinmustern frei. Somit werden RNA-Sequenzierung und Protein-Massenspektrometrie möglicherweise neuartige Erkenntnisse über Art und Status einer Tumorerkrankung liefern.

Der Einsatz von EV, und hier vor allem der Blutplättchen-EV als diagnostische Marker steht noch am Anfang, wird sich jedoch mit dem raschen technischen Fortschritt schnell weiterentwickeln. Die grundlagenwissenschaftlichen Indizien sprechen klar für eine relevante biologische Rolle bei der Physiologie von Hämostase, Entzündung und Regeneration sowie der Entstehung vieler Krankheiten. Nun sind vor allem große prospektive Studien erforderlich, um dieses Potenzial zu heben und für klinische Zwecke nutzbar zu machen.

Autor
Priv.-Doz. Dr Rory R. Koenen
Maastricht University
Im Kontext
Aus der Rubrik