Hämostaseologie: Faktor-11-Hemmer auf dem Weg zum Bull's eye?

Hämostaseologie ist in ihrer Komplexität nicht nur faszinierend, sondern für viele Medizinstudierende auch beängstigend – und das bleibt oft so bis zur Facharztprüfung. Selbst viele Laborärzt:innen haben noch Respekt vor komplexen Fällen. Gut, dass es Hämostaseolog:innen gibt, die man zurate ziehen kann. 
Dennoch schleicht sich das Gefühl ein, dass viele neue Erkenntnisse – die es in der Hämostaseologie in den letzten Jahren zuhauf gab – noch mehr Fragen aufwerfen und die (hämostaseologischen) Laien noch mehr verwirren.
Über viele Jahrzehnte hatte man in der Ausbildung ein zwar komplexes, aber überschaubares Schema von extrinsischer und intrinsischer Gerinnung mit den dazugehörigen Faktoren vor Augen. Jeder Faktor hatte eine Nummer und konnte in verschiedenen Merksätzen für seine Zugehörigkeit im Schema und seine Vitamin-K-Abhängigkeit eingebaut werden.
Wie man in den hier vorgestellten Schwerpunktartikeln gut nachvollziehen kann, ist das inzwischen nicht mehr der Fall. Sicher, jedes Schema stellt eine Vereinfachung dar. Aber es scheint so, also ob sich die Gerinnung nicht mit einem Schema erfassen lässt und dass fast alle Faktoren viele zusätzliche Aufgaben im Körper wahrnehmen. Und so interagiert die Gerinnung mit Inflammation, Komplement, Angiogenese, Wundheilung und vielem mehr, wie es z. B. für die Rolle des Von-Willebrand-Faktors bei der Angiogenese im Artikel von Stefanie Lehner dargestellt wird.
Glücklicherweise führen die neuen Erkenntnisse und Forschungsergebnisse aber auch zu Innovationen, die das Potenzial haben, die Art und Weise, wie wir Krankheiten behandeln, zu revolutionieren. 
So wird die Bedeutung der gezielten Hemmung von Faktor XIa zur Vorbeugung von Thrombosen von Hans-Jürgen Kolde dargestellt. Bisher lag der Fokus der Antikoagulationstherapie hauptsächlich auf der Hemmung von Faktor Xa oder Thrombin. Doch nun rücken neue Erkenntnisse in den Vordergrund, die darauf hinweisen, dass Faktor XIa eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Thrombosen spielt. Indem wir uns auf die Hemmung dieses Faktors konzentrieren, erhoffen wir uns einen verbesserten Thromboseschutz und weniger Blutungen.
Doch wie bei jeder neuen Entwicklung müssen häufig am Anfang einige Niederlagen weggesteckt werden. Eine große Phase-III-Studie zu einem XIa-Hemmer musste leider wegen Nicht-Überlegenheit zum Konkurrenzprodukt vor wenigen Tagen gestoppt werden. Andere Phase-III-Studien werden jedoch fortgesetzt und weitere XIa-Hemmer werden folgen.
Im Artikel von Zsuzsanna Wolf geht es um thrombotische Mikroangiopathien (TMA). Dabei handelt es sich um seltene, potenziell lebensbedrohliche Erkrankungen mit der Trias aus mikroangiopathischer hämolytischer Anämie, Thrombozytopenie sowie variablen Organdysfunktionen, typischerweise in Form von akutem Nierenversagen oder neurologischen Defiziten, verursacht durch thrombotische Verschlüsse der Mikrozirkulation. 
Und damit können wir Ihnen für die drei Player in der Gerinnung – die humoralen Gerinnungsfaktoren, die Thrombozyten und die Gefäße – interessante neue Entwicklungen in Pathophysiologie und Therapie präsentieren. 

Viel Spaß beim Lesen.

Autor
Prof. Dr. Rudolf Gruber
Mitglied der Redaktion
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