Faktor XI: Ein neues Ziel für die Antikoagulation

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2023.04.07

Das wichtige Ziel der Hämostase ist die rasche Blutstillung bei einer Verletzung. Hier ist Faktor XI wohl weniger bedeutend, umso mehr aber bei der Entstehung von Thrombosen. Daher ist Faktor XI bzw.Faktor XIa nach Thrombin oder Faktor Xa nun auch das Ziel einer Antikoagulation geworden. Man erwartet einen besseren Thromboseschutz und weniger Blutungen.

Schlüsselwörter: FXI, Faktor-XI-Mangel, Hämophilie C, Schutz vor Thrombosen, Antikoagulation, Monitoring

Faktor XI (FXI) ist ein ungewöhnlicher Gerinnungsfaktor (Übersicht siehe Tab. 1).

Tab 1: Übersicht Faktor XI

Faktor XI

  • Auch Plasma Thromboplastin Antecedent (PTA) oder Rosenthal-Faktor genannt
  • Nicht Vitamin-K-abhängiges Glykoprotein aus der Leber. Gen auf Chromosom 4 (4q35.2)
  • Serinprotease mit Homologie zu anderen Gerinnungsproteasen, insbes. zu Plasma-Präkallikrein
  • Dimer aus zwei identischen Monomeren, über eine Disulfidbrücke verbunden
  • Molekülmasse 160 kDa
  • Konzentration im Plasma: 5 mg/l. FXI liegt gebunden an hochmolekularem Kininogen (HMWK) vor
  • Halbwertszeit: ca. 52 Stunden
  • Plättchen haben mindestens einen Rezeptor zur Bindung von FXI(a)

Physiologische

Aktivierung durch

  • FXIIa
  • Thrombin, verstärkt durch Polyphosphate aus Plättchen
  • Autoaktivierung, verstärkt durch Polyphosphate aus Plättchen

Physiologische

Inhibition durch

  • ZPI (Protein-Z-abhängiger Protease-Inhibitor)
  • Protease Nexin 1 und 2, C1-Inhibitor und Antithrombin (jeweils beschleunigt durch Heparin)
  • Schwache Hemmung durch α1-Antitrypsin und α2-Antiplasmin
  • Hemmung durch PAI-1 auf der Oberfläche von Endothelzellen

Durch FXIa aktiviert (Substrate)

  • Faktor V, FVIII, FIX, FX
  • HMWK (hochmolekulares Kininogen), dadurch Freisetzung von Bradykinin (Vasokontraktion, Vasodilatation)
  • Andere Substrate aus den Bereichen Komplement, Inflammation, Plättchen etc.

Durch FXIa proteolytisch inaktiviert

  • TFPI-alpha (Plasma) und TFPI-beta (auf Endothelzellen, dadurch indirekt Verstärkung der extrinsischen Gerinnung/Thrombinbildung)
  • ADAMTS 13 (Regulation der Thrombogenität von besonders großen VWF-Multimeren) [19]

[1, 2]. Früher wurde FXI in das intrinsische System der Blutgerinnung eingestuft. Heute weiß man, dass FXI nicht nur im Rahmen der Kontaktphase durch FXIIa aktiviert wird, sondern auch durch Thrombin, dem Endpunkt beider klassischer Gerinnungswege. Nach dem aktuellen Modell der Blutgerinnung (Abb. 1) induziert bei einer Verletzung ein Kontakt von extravasalem, an Mikropartikel oder Monozyten gebundener Tissue Factor (TF) und FVIIa, dem einzigen in geringer Menge aktiviert vorliegenden Gerinnungsfaktor, die Bildung von wenig FXa. Dieser kann aus FV bereits Spuren von FVa erzeugen. So bildet sich Prothrombinase (FXa, FVa, Phospholipide, Ca2+). Dieser Komplex ist um etliche Zehnerpotenzen aktiver als FXa und kann aus Prothrombin Thrombin (FIIa) bilden. FIIa aktiviert außer FV auch FVIII und schafft damit die Voraussetzungen für eine gesteigerte Thrombinbildung. Denn TF/FVIIa aktiviert auch FIX zu FIXa, der mit FVIIIa in einer Verstärkungsschleife aus FX größere Menge an FXa bildet, und damit noch mehr Thrombin. Dieses setzt nicht nur die beschriebenen Substrate FV und FVIII, sondern auch Fibrinogen zu Fibrin um, das mit aktivierten Plättchen einen Wundverschluss bildet. Der ebenfalls durch FIIa aktivierte FXIIIa vernetzt Fibrin quer und baut Fibrinolyse-hemmendes Anti­plasmin ein. Damit wird ein ausreichender Wundverschluss erzielt (Abb. 1).

Zusätzlich kann Thrombin aber auch FXI zu FXIa aktivieren [3]. Aus Plättchengranula freigesetzte Polyphosphate fördern die durch FIIa vermittelte Aktivierung von FXIa massiv, aber auch eine Autoaktivierung des Zymogens FXI. Die Protease FXIa aktiviert FX, FIX, FV sowie FVIII und fördert so die Thrombinbildung massiv weiter. Daher ist FXIa entscheidend daran beteiligt, die verfügbare Thrombinmenge über die eigentliche Blutstillung hinaus stark zu steigern, wahrscheinlich direkt im bereits gebildeten Gerinnsel [4]. Unter Beteiligung von Plättchen, aktivierten Monozyten und daraus freigesetzten Histon-/DNA-Komplexen (NETs) [5] führt das bisweilen bis zu einer Thrombose bzw. einem ischämischen Schlaganfall.

Der enzymatische Prozess der plasmatischen Hämostase wird durch Serpine wie Antithrombin (ATIII) und andere Kontrollmechanismen wie das Protein-C-/Protein-S-System begrenzt. ATIII hemmt aber nur die freien Faktoren FIIa, FIXa, FXa und auch FXIa (wenn auch wenig effektiv), nicht aber Prothrombinase (FXa/FVa-Komplex) oder die „intrinsische“ Tenase (FIXa FVIIIa-Komplex). TFPI (Tissue Factor Pathway Inhibitor) regelt die frühe Phase des extrinsischen Wegs der Gerinnung. Mit seinem Kofaktor Protein S hemmt TFPI sowohl den freien wie auch teilweise den in Prothrombinase gebundenen FXa, FIXa und, im Komplex mit bereits gehemmtem FXa, auch FVIIa. TFPI greift dadurch direkt in der frühen „extrinsischen“ Aktivierung und in der Amplifikations-Phase der Gerinnungsaktivierung ein. Diese wichtige Funktion von TFPI wird durch FXIa durch proteolytische Inaktivierung von TFPI ausgehebelt. Je mehr FXIa entsteht, desto mehr TFPI kann inaktiviert werden und umso mehr geht die Kontrolle des extrinsischen Wegs verloren.

Damit beruht die thrombogene Wirkung von FXIa einerseits auf der Aktivierung von Gerinnungsfaktoren, andererseits auf dem Abschalten der initialen physiologischen Hemmung von FVIIa, FXa und auch von Prothrombinase via TFPI. Die besondere Bedeutung von TFPI zeigt sich darin, dass bei Hämophilie A oder B die Thrombinbildung auch von der TFPI-Aktivität abhängt. Daher werden Medikamente wie Antikörper entwickelt, die TFPI als Ziel haben und bei Hämophilie A und B Wirkung zeigen, da sie die Thrombinbildung steigern. FXIa wird im Blut vor allen Dingen durch ZPI (Protein-Z-abhängiger Protease-Inhibitor), durch C1-Inaktivator und Antithrombin gehemmt. Im Quick-Test (Thrombo­plastinzeit, TPZ) spielen weder die Faktoren VIII, IX und XI noch Inhibitoren wie AT III, TFPI und ZPI eine Rolle, da man im Reagenz eine supraphysiologisch hohe Konzentration des Gerinnungsaktivators TF benutzt, die man in vivo nicht annähernd erreicht. Daher werden die meisten der oben beschriebenen Mechanismen auch bei der TPZ nicht erfasst.

 

Faktor-XI-Mangel

Ein Faktor-XI-Mangel (auch als Hämophilie C bezeichnet) ist eine seltene vererbte Gerinnungsstörung (ca. 1/1.000.000) bei Männern und Frauen. Viele Fälle mit FXI-Mangel betreffen Menschen mit osteuropäischen jüdischen Vorfahren. Ein Mangel an Faktor XI verursacht Blutungen nach Verletzungen, nach chirurgischen Eingriffen oder bei Operationen an den Zähnen. Spontane Blutungen sind weniger häufig und meist nicht so schwer wie bei Hämophilie A oder B. Offenbar sind die Reaktionen der Initiierungs- und Verstärkungsschleife für eine Blutstillung bei vielen kleineren Verletzungen bereits ausreichend. Erst ein FXI < 20 IU/dl gilt als schwerer Faktor-XI-Mangel [6]. Die Blutungsneigung beim Mangel an FXI korreliert mit dem TFPI-Spiegel [7], aber nur bedingt mit der FXI-Aktivität oder der ohnehin Reagenzien-abhängigen Verlängerung der aPTT. Man beobachtet aber beim Mangel an Faktor XI eine geringere Häufigkeit von Schlaganfällen oder Herzinfarkten. 

 

Erhöhte Werte von FXI

Erhöhte Werte von FXI findet man bei Menschen mit thromboembolischen Erkrankungen, insbesondere bei Schlaganfällen [8–13]. Eine Genduplikation von FXI wie auch der Effekt von Genpolymorphismen wurden als Ursache für erhöhte Spiegel von FXI beschrieben [14, 15]. Der Polymorphismus F11 rs4253417 ist ein unabhängiger Risikofaktor für ischämische Schlaganfälle [16]. Dabei kann auch die durch FXIa-induzierte Inaktivierung von ADAMTS13 eine Rolle spielen. Diese Protease reguliert die Größe der thrombogenen hochmolekularen VWF-Multimere.

 

FXI als Ziel einer Antikoagulation

Auf der Basis dieser physiologischen Mechanismen ist die Hemmung von FXIa ein attraktives neues Ziel für eine Antikoagulation geworden [17]. Man erwartet, dass die eigentliche Blutstillung aufrecht erhalten werden kann, aber Thrombosen verhindert werden, ohne dass es zu insbesondere zere­bralen oder gastrointestinalen Blutungen kommt. Grund für diese Annahme ist, dass die Hemmung von FXIa nicht komplett die Thrombinbildung bremst, da der extrinsische Weg und die Verstärkungsschleife via FIXa/FVIIIa nach wie vor wirksam bleiben. Sowohl eine direkte Hemmung der Protease FXIa bzw. von FXI durch orale synthetische Moleküle oder Antikörper wie auch eine Hemmung der Biosynthese von Faktor XI z. B. über RNA-Interferenz ist dabei denkbar. Diese Ansätze unterscheiden sich in Bezug auf eine ganze Reihe von pharmakologischen Stellschrauben wie Wirkungsdauer oder Art der Administra­tion. Eine nähere Beschreibung der aussichtsreichsten Kandidaten und erste Ergebnisse aus klinischen Studien finden sich in der Fachliteratur [18]. Phase-II-Studien zeigen, dass die Hemmung von FXI(a) sicher und wirksam ist und weniger Blutungen auftreten. Mehrere Phase-III-Studien für verschiedene Indikationen und Substanzen laufen, darunter auch bei Vorhofflimmern (eine davon wurde allerdings im November 23 vorzeitig gestoppt), in der Prophylaxe von Schlaganfall und nach einem akuten ischämischen Ereignis. Dabei blieben natürlich viele Fragen offen, u. a. welche der Kandidaten sich durchsetzen werden und ob sie Vorteile gegenüber den jetzigen Hemmern von FIIa oder FXa oder von Plättchenantagonisten zeigen, ggf. auch in der Kombination mit denselben.

Noch nicht absehbar ist, ob ein Monitoring und der Nachweis von wirksamen oder gar erhöhten Konzentrationen von FXI(a)-Hemmern mit geeigneten Labor­tests bei Notfällen erforderlich sind. Letzteres ist schon für die jetzige Generation von direkten oralen Antikoagulanzien (DOACs) nicht unproblematisch. Für Substanzen, die sich auf FXI auswirken, ist natürlich die überall verfügbare aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) ein Kandidat. Aber nur auf den ersten Blick: aPTT-Reagenzien differieren erheblich in Bezug auf ihre Faktorenempfindlickeit und werden durch andere Größen beeinflusst. Hier muss man gerade den die aPTT-Gerinnungszeit verkürzenden Effekt von FVIII oder anderen Faktoren berücksichtigen, der insbesondere bei Entzündungen oder in der akuten Phase erheblich erhöht ist. Aber auch anti-Phospholipid-Antikörper, die außer bei Thrombophilie auch mitunter bei Infektionen zu finden sind, oder der Effekt von Heparin oder anderen Antikoagulanzien sind mögliche Störfaktoren. Wie bereits oben ausgeführt korreliert aber die verlängerte aPTT nicht mit einer Blutungsneigung, sodass andere Tests erforderlich sind. Daher bleibt es spannend, inwieweit sich diese neuen therapeutischen Ansätze durchsetzen und was das für das Labor an Herausforderungen bringen wird. Abhängig vom Ausgang der Studien für verschiedene Indikationen ist eine weitere Frage natürlich, ob sich diese dann ganz neuen Medikamente in Konkurrenz zu den bald als Generika vorliegenden jetzigen DOACs durchsetzen können.  

Autor
Dr. Hans-Jürgen Kolde
Consulting Diagnostics, Biomedicine,
Lifesciences
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