Wenn die Kraftwerke gestört sind

Mitochondriopathien

Trillium Diagnostik 2018; 16(4): 274-276

Mitochondriopathien können durch zahlreiche Mutationen der mitochondrialen und nukleären DNA verursacht werden. Genotyp und Phänotyp korrelieren häufig nicht miteinander, sodass die Stellung der Diagnose für die behandelnden Ärzte eine Herausforderung darstellt. Mit der Hochdurchsatzsequenzierung hat sich die Diagnostik entscheidend verändert und erweitert. 

Schlüsselwörter: mtDNA, nDNA, Stufendiagnostik, Next Generation Sequencing, RNA-Sequenzierung

Mitochondrien spielen eine wichtige Rolle bei verschiedenen zellulären Prozessen des Stoffwechsels. Funktionsstörungen der Mitochondrien betreffen insbesondere Zellen, die einen hohen Energiebedarf haben, z. B. Muskel- und Nervenzellen, und können durch Defekte des Energie-generierenden Systems oder auch in zahlreichen Signal- und Stoffwechselwegen ausgelöst werden. Die sogenannten Mitochondriopathien sind vielgestaltige Erkrankungen, die eine große phänotypische, biochemische und genetische Heterogenität aufweisen und vielfältige genetische Ursachen haben. Sie können je nach Erkrankung sowohl im Kindes- und Jugendalter als auch – beispielsweise infolge einer Akkumulation somatischer Mutatio­nen – beim Erwachsenen auftreten. Typische Zeichen, die einer mitochondrialen Dysfunktion zugeordnet werden können, lassen sich sowohl bei systemischen Erkrankungen als auch bei Krankheiten der unterschiedlichsten Organe (Muskel, Gehirn, Nerven, Niere, Herz, Leber, Augen, Ohren, Pankreas) finden [1]. In Tabelle 1 ist eine Auswahl von mitochondrialen Erkrankungen, deren typischer Phänotyp und häufig beobachtete Mutationen aufgeführt.  

Mit einer Prävalenz von ca. 1 : 5.000 sind Mitochondriopathien gar nicht so selten wie bisher angenommen. Dennoch ist die Diagnosestellung aufgrund einer fehlenden Korrelation zwischen Genotyp und Phänotyp sehr aufwendig und stellt bis auf wenige charakteristische Syndrome immer noch eine große Herausforderung dar. Hinzu kommt, dass auch nach erfolgreicher Diagnostik die weitere Behandlung der Patienten oft nur symptomatisch möglich ist, da bei vielen dieser Erkrankungen kurative Therapieoptionen fehlen.

Genetische Grundlagen

Bereits 1890 beschrieb der Anatom Richard Altmann die Mitochondrien als subzelluläre Bestandteile, sog. „cytoplasmatische Organellen“, welche er als „Elementarorganismen der Zelle“ bezeichnete [2]. Erst viel später – zu Beginn der 1980er-Jahre – wurde die weitgehend maternale Vererbung der mitochondrialen DNA (mtDNA) nachgewiesen und das menschliche mitochondriale Genom entschlüsselt [3, 4]. Die zirkuläre doppelsträngige mtDNA im Inneren der Mitochondrien mit einer Größe von 16.569 Basenpaaren weist eine weitaus höhere Mutations­rate auf als die nukleäre DNA (nDNA), da Mitochondrien über weniger Reparatursysteme verfügen und die mtDNA nicht durch Histone geschützt wird. Mit der Entdeckung genetischer Veränderungen im mitochondrialen Genom gegen Ende der 1980er-Jahre und deren Assoziation mit Erkrankungen wurde ein neues medizinisches Spezialgebiet erschlossen, dessen Vielfältigkeit seither ständig gewachsen ist. 

Kennzeichnend für krankheitsverursachende Mutationen der mtDNA ist deren Heteroplasmie. Dabei können in einer Zelle – aber auch innerhalb eines Mitochondriums – gemischte Populationen von mtDNA-Kopien mit und ohne Veränderungen vorliegen. Überschreitet der Anteil von mutierter mtDNA einen gewissen Schwellenwert, kommt es meis­tens zum Auftreten von Symptomen. Der Heteroplasmiegrad (prozentualer Anteil mutierter mtDNA-Kopien) schwankt in unterschiedlichen Geweben und bestimmt maßgeblich Ausprägung und Verlauf der Erkrankung. Entsprechend geht ein hoher Heteroplasmiegrad oft mit einem schweren Krankheitsverlauf einher. 

Noch häufiger sind Kerngenom-Mutationen Ursache von Mitochondriopathien. Dabei sind u. a. Komponenten der mitochondrialen Replikation, Transkription oder Translation, Kofaktoren, Assemblierungsfaktoren oder Strukturproteine der Mitochondrien betroffen. Im humanen Genom befinden sich nach heutigem Stand 1.158 Gene, die für mitochondrial-lokalisierte Proteine kodieren [4]. Da jedes dieser Gene ein potenzielles Kandidatengen darstellt, gestaltet sich die Diagnostik entsprechend anspruchsvoll. Im Gegensatz zu den Mitochondriopathien im Erwachsenenalter, die überwiegend durch Veränderungen in der mtDNA selbst bedingt sind, finden sich bei den kindlichen Erkrankungen häufiger Mutationen der nDNA. Derzeit sind mehr als 330 putative Krankheitsgene bekannt.

Patienten, die mtDNA-Mutationen aufweisen, erkranken häufig erst nach Jahren oder Jahrzehnten, was mit einer Akkumulation von mtDNA-Mutationen auch aufgrund fehlender Reparaturmechanismen zu erklären ist. Mit steigendem Alter kommen weitere zufällige Mutationen hinzu, die sich dann in den entsprechenden Geweben manifestieren und nach Überschreiten eines Schwellenwertes symptomatisch werden können. Mittlerweile mehren sich auch die Indizien für eine Beteiligung somatischer mtDNA-Mutationen und damit mitochondrialer Dysfunktionen bei zahlreichen altersbedingten Erkrankungen [6].

Diagnostik

Die Mitochondrienfunktion wird durch das Zusammenwirken zweier Genome gesteuert. Entsprechend komplex ist auch das Zustandekommen mitochondrialer Erkrankungen. Sie können sowohl allen infrage kommenden Mendelschen Erbgängen als auch dem typisch maternalen Erbgang unterliegen. Darüber hinaus sind de novo-Mutationen beschrieben. Über die Weitergabe heteroplasmischer Mutationen der mtDNA und das Ausmaß der Betroffenheit bei den Nachkommen lassen sich keine Aussagen treffen. Dies stellt eine Herausforderung, insbesondere für die prädiktive genetische Beratung, dar.

Funktionstests

Mitochondriale Erkrankungen sind häufig Ultima-Ratio-Verdachtsdiagnosen, vor allem in Fällen, in denen alle infrage kommenden Differenzialdiagnosen ausgeschlossen wurden. In einem ersten Schritt kann eine sorgfältige klinische Untersuchung unter Zuhilfenahme richtungsweisender Funktionstests (bspw. Fahrradergometrie, Laktat-Ischämie-Test) den Verdacht auf das Vorliegen einer Mitochondriopathie erhärten, wenngleich häufig kein stringenter Phänotyp-Genotyp-Zusammenhang hergestellt werden kann. 

Stufendiagnostik

Der lange Zeit übliche labordiagnostische Ansatz bestand in der Gewinnung und Untersuchung des von dem Energiemangel betroffenen Gewebes und dessen biochemischer und histologischer Untersuchung. Basierend auf den in dieser Stufendiagnostik gewonnenen Erkenntnissen wurde ein breit angelegtes, aufwendiges Kandidatengen-Screening mittels Sanger durchgeführt. Dieses Vorgehen ist heute weitgehend überholt und wird nur noch in Einzelfällen, bei entsprechend klarer Phänotyp-Genotyp-Korrelation (bspw. bei typischem MELAS), angewendet [7].

Next Generation Sequencing

Das Aufkommen, die rasche Etablierung  und die in Abb. 1 dokumentierte stetig zunehmende Nutzung des Next Generation Sequencing (NGS), haben die Möglichkeiten zur Dia­gnostik mitochondrialer Erkrankungen entscheidend verändert und erweitert. In der Praxis findet man zwei verschiedene Vorgehensweisen:

Die Paneldiagnostik ermöglicht die gleichzeitige Testung von mehreren, im Vorfeld der Analyse festgelegten, bekannten Genen. Dieser Ansatz muss jedoch ständig erweitert werden, da immer neue, zum Zeitpunkt der Festlegung des Panels noch nicht bekannte, Kandidatengene hinzukommen. Die Paneldiagnostik bietet, ähnlich wie die Einzelgen-Sequenzierung mittels Sanger, eine schnelle genetische Diagnose, besonders bei guter Charakterisierung des Patienten.

Beim Ansatz des Whole Exom Sequencing (WES) wird das komplette Exom sequenziert. Die Handhabung der dabei generierten Datenmenge, deren Informationsgehalt „dekomplexiert“ werden muss, ist nach wie vor zeitintensiv und benötigt fachliche und bioinformatische Expertise. Zur Beschleunigung erfolgt daher die Analyse über ein „virtuelles” Kandidatengen-Panel. Mittels WES wird eine Vielzahl von Veränderungen nachgewiesen, die es hinsichtlich ihrer Relevanz zu bewerten gilt. Der Nachweis einer bekannten, in der Literatur beschriebenen und damit pathogenetischen Mutation sichert die Diagnose einer Mitochondriopathie. Die Interpretation einer bisher nicht oder im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen beschriebenen Veränderung ist im Hinblick auf ihre Krankheitsursache in vielen Fällen problematisch. Weitere – biochemische und vor allem funktionelle – Untersuchungen sind notwendig (bspw. die Herstellung und Charakterisierung transgener Mäuse). Diese können häufig nur im Rahmen von Forschungsprojekten durchgeführt werden. Deshalb wird im Routinebetrieb auch weiterhin ein signifikanter Prozentsatz der Mitochondriopathien nicht aufgeklärt. In der Regel werden die mittels NGS gefundenen Veränderungen durch eine Sanger-Sequenzierung bestätigt. Die Bedeutung der früher zwingend notwendigen biochemischen und histologischen Untersuchungen liegt heute vorwiegend in der Bestätigung der aufgrund genetischer Ergebnisse erstellten Diagnose [8].

Eine ebenfalls auf NGS basierende moderne Methode ist die sog. RNA-Sequenzierung. Außer der Sequenzinformation kann sie auch zur Genexpression sowie zu Splice-Varianten und posttranskriptionalen Modifikationen Aufschluss geben. Für Mitochondriopathien besteht daher die Hoffnung, dass in einigen, bisher nicht geklärten Fällen durch diesen neuen Ansatz ursächliche Veränderungen gefunden werden können [9, 10]. 


Ausblick

Zukünftig wird die Verfügbarkeit einer Vielzahl genetischer Informationen in zunehmendem Maße die Interpretation von beobachteten Veränderungen erleichtern. Damit werden genetische Untersuchungen bei der Diagnosestellung mitochondrialer Erkrankungen weiter an Bedeutung gewinnen. Während es in der Diagnostik mitochondrialer Erkrankungen in den letzten 20 Jahren große Fortschritte gab, konnten im Hinblick auf die Therapie noch keine bahnbrechenden Erfolge erzielt werden. Bei der Mehrheit der Patienten mit Mitochondriopathien wird nach wie vor eine symptomatische Behandlung durchgeführt, während beispielsweise für die spinale Muskelatrophie (SMA) eine ursächliche Therapie mit Antisense-Oligonukleotiden verfügbar und bereits zugelassen ist. Die Entwicklung von Proteinersatz- und/oder Gentherapien wird in den nächsten Jahren eine große Herausforderung darstellen.  

Autoren
PD Dr. Dorit K. Nägler
Klinikum der Stadt Ludwigshafen
Institut für Labordiagnostik, Hygiene und Transfusionsmedizin
Dr. Martina Jacobs, Prof. Dr. Matthias F. Bauer
Klinikum der Stadt Ludwigshafen
Institut für Labordiagnostik, Hygiene und Transfusionsmedizin
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