Erbliche Interferonopathie

Diagnose im 47. Lebensjahr

Die Diagnostik von erblichen Interferonopathien ist weltweit bisher wenigen Zentren vorbehalten. Das liegt vorrangig am Fehlen von Routinelaborparametern, die eine Erhöhung von Typ-I-Interferonen anzeigen, und an der Unkenntnis der seltenen Erkrankung mit klinisch variablen Beschwerdebildern. Diese Probleme bei der Diagnosestellung sind jedoch hochrelevant, da in der Rheumatologie zunehmend Typ-I-Inhibitoren verfügbar werden, die eine klinische Besserung in Aussicht stellen. Wir beschreiben hier den Fall eines 49-jährigen Patienten, der nach jahrzehntelangen klinischen Beschwerden die Diagnose einer erblichen Interferonopathie, des Singleton-Merten-Syndroms, erhalten hat, und kommentieren anschließend die Diagnostik einer erblichen Interferonopathie und deren Behandlungsmöglichkeiten.


Schlüsselwörter: Singleton-Merten-Syndrom, Interferonopathie, SIGLEC1

Krankheitsgeschichte

Im Folgenden wird der lehrreiche und zugleich problematische Fall eines nunmehr 49-jährigen Mannes vorgestellt, der nach über vier Jahrzehnten und zahllosen Vorstellungen in den Fachrichtungen Orthopädie, Dermatologie, Zahnmedizin, Rheumatologie und Humangenetik eine gesicherte Diagnose gestellt bekommen hat. Einen ersten klinischen Eindruck des Patienten vermittelt Abbildung 1, die klinische Hauptbefunde zeigt.
Im Alter von fünf Jahren führte die orthopädische Vorstellung zur Diagnose von Plattfüßen (Pes plano valgus). Bei einer späteren Wiedervorstellung im Alter von 13 Jahren wurden zusätzlich eine verstärkte Innenrotation der Hüfte, X-Beine (Genu valgum bds.) und eine Tibia­torsion beidseits beschrieben. Das damit verbundene veränderte und auffällige Gangbild mündete zudem in dem Verdacht auf eine infantile Zerebralparese, der sich jedoch nie bestätigte.
Bei Hautveränderungen an den Fußinnenflächen diagnostizierte ein Hautarzt im Alter von sechs Jahren eine Schuppenflechte (Psoriasis). Seit Kindheit bestehen zudem sehr viele und über die gesamte Haut verteilte braune, linsenförmige Flecken, die im Volksmund als Altersflecken bekannt sind. Diese durch Hautärzte als Lentigo bezeichneten Flecken sind bei fast allen beschriebenen Patienten (altersabhängig) dokumentiert.
Ab dem Alter von 11 Jahren kam es zu sehr häufigen zahnärztlichen Vorstellungen, da einerseits die regelrecht angelegten Milchzähne bis zum 30. Lebensjahr nicht ausfielen, und andererseits die dauerhaften zweiten Zähne nicht durchbrachen. Ein im jugendlichen Alter angefertigtes Übersichtsröntgen des Gebisses zeigte regelrecht angelegte zweite Zähne. Röntgenaufnahmen im Verlauf dokumentierten die Resorption der Zahnwurzeln der dauerhaften Zähne. Nach zahlreichen Zahnextraktio­nen der über die Zeit abgeschliffenen Milchzähne erfolgte im Alter von 30 Jahren die totale operative Gebiss-Extraktion und das Einsetzen einer Totalprothese. Die Anodontie, das vollständige Ausbleiben einer Zahnentwicklung, tritt am häufigsten im Rahmen von genetischen Syndromen auf.
Das Ausbleiben der zweiten Zahnung liefert in diesem Fall den spezifischsten Hinweis auf eine genetische Ursache der Beschwerden.
Im Alter von 34 Jahren stellt sich der Patient erstmalig in der Rheumatologie zur Abklärung einer fortschreitenden Hypermobilität der Hand- und Fußgelenke vor. Die am meisten ausgeprägten Veränderungen fanden sich an den Fingergrundgelenken (Metacarpophalangeal-Gelenke) beider Hände. Die Röntgenaufnahmen zeigten als einzige knöcherne Veränderungen die Auflösung der letzten Knochenglieder an Händen und Füßen (Akroosteolysen) sowie eine reduzierte Knochensubstanz (Osteopenie). Zeitgleich kam es innerhalb von ungefähr einem Jahr jeweils nach Stolpern zu Quadrizepssehnenrupturen beidseits, die operativ versorgt werden mussten. Die fortschreitenden Gelenkveränderungen wurden als Psoriasis-Arthritis gewertet und mit Methotre­xat behandelt, welches jedoch aufgrund von Blutbildveränderungen (Leukopenie, Lymphopenie) wieder abgesetzt wurde. Im Verlauf wurde der Patient letztendlich auf Ustekinumab, einen humanen Antikörper, der die Zyto­kine Interleukin-12 und Interleukin-23 blockt und seit 2009 für die Psoriasis zugelassen ist, eingestellt. Darunter zeigten sich zwar die als Psoriasis klinisch klassifizierten Hautveränderungen regredient, die Gelenkveränderungen waren jedoch stetig progredient. Die radiologischen Veränderungen sind in den Abbildungen 2 und 3 zusammengetragen.
Bezüglich der Blutbildveränderungen berichtete der Patient, dass bereits Jahre vor der Methotrexat-Behandlung wiederholte Laboruntersuchungen eine Leuko- und Lymphopenie aufgezeigt hätten. Neben zahlreichen anderen Ursachen für einen Mangel an Blutzellen sind virale Infektionen oder systemische Auto­immunerkrankungen wie der systemische Lupus erythematodes zu nennen, denen eine verstärkte Aktivität von Interferonen gemeinsam ist. Interessanterweise verneinte der Patient, zeitlebens jemals die Diagnose oder Klinik eines viralen Infektes gehabt zu haben.
Eine erste human-genetische Vorstellung erfolgte im Alter von 33 Jahren und führte trotz wiederkehrender Vorstellungen bis zum 47. Lebensjahr nicht zur Identifikation der zugrunde liegenden Ursache der Beschwerden.
Die weiteren Jahre erbrachten keine neuen Ergebnisse, bis die Tochter des Patienten im Alter von 4 Jahren über Gelenkschmerzen zu klagen begann. Auch sie kam in spezialisierte, zahnmedizinische Betreuung, da Milchzähne nicht ausfielen und die bleibenden Zähne nicht durchbrachen. Im Rahmen einer Vorstellung in der Kinderrheumatologie der Charité im Alter von 8 Jahren zeigten sich in der Familienanamnese Parallelen zwischen Tochter, Vater und der Mutter des Vaters. Laborchemisch fiel erst bei der Tochter und in einer nachfolgenden Untersuchung auch beim Vater eine richtungsweisende, stark erhöhte Expression von SIGLEC1 auf. Es handelt sich hierbei um einen durch Typ-1-Interferon induzierten Ober­flächenmarker auf Blutmonozyten. Die erneute Vorstellung der Tochter und des Vaters in der Humangenetik erbrachte nach weiteren Recherchen den konkreten Verdacht auf eine erbliche Interferonopathie, das Single­ton-Merten-Syndrom. Durch eine daraufhin veranlasste gezielte Sanger-Sequenzierung (Verfahren zur Bestimmung der Reihenfolge der für ein Gen kodierenden Nukleo­tidbasen) des bei der Verdachtsdiagnose betroffenen IFIH1-Gens konnte eine neue Mutation nachgewiesen und so das Singleton-Merten-Syndrom genetisch gesichert werden [1].

Das Singleton-Merten-Syndrom

1973 beschrieben Edward B. Singleton und David F. Merten, zwei am amerikanischen Texas Children´s Hospital tätige pädiatrische Radiologen, erstmalig zwei Kinder mit auffälliger Zahnentwicklung und schwerwiegenden Kalzifikationen der Aorta [2].
Bis 2012 waren 11 Patienten in der Literatur dokumentiert [3]. Bei dieser Erkrankung zeigt sich anamnestisch ein autosomal-dominanter Erbgang, jedoch mit deutlich variierendem Phänotyp.
Die klinischen Hauptmerkmale des Phänotyps liegen vor allem auf der gestörten Zahnentwicklung, der Kalzifikationsgefahr von Aorta und Herzklappen und von osteoporotischen Veränderungen, die mit Akroosteolysen einhergehen können. Hinzu kommen weitere klinische Merkmale, die jedoch unter den Patienten und altersabhängig variieren können: Psoriasis-typische Hautveränderungen, Muskelschwund, Hypermobilität der Gelenke, Sehnenrisse, trockene Haut, Glaukom, vermehrte Lentigo, Kalzifikation der Basalganglien, Plattfüße und Valgusdeformitäten [3, 4]. Der Grad an Kalzifikationen der Gefäße und der Herzklappen bestimmt die Lebenserwartung der Patienten [3].
2015 beschrieben Rutsch et al. als zugrunde liegende Ursache des Singleton-Merten-Syndroms eine Mutation im IFIH1-Gen [5].
Aktuell sind vier unterschiedliche Mutationen bekannt, die zu einer klinischen Ausprägung des Singleton-Merten-Syndroms führen können: Thr331Arg, Thr331Ile, Ala489Thr, Arg822Gln [4]. Das Gen IFIH1 codiert für das Protein MDA5 (melanoma – differentiation-associated Protein 5). MDA5 ist ein zytosolischer Pattern-Recognition-Rezeptor und erkennt doppelsträngige virale RNA. Eine Aktivierung führt über eine intrazelluläre Signalkaskade zur Induktion von Typ-1-Interferonen. Durch die genannten Mutationen kommt es mutmaßlich zu einer Konformationsänderung des MDA5-Proteins und damit zu einer Überproduktion von Interferon-beta. Mutationen, die zu einer Verstärkung der Genaktivität führen, werden auch als Gain-of-Function-Mutation bezeichnet.
Zum aktuellen Zeitpunkt ist unklar, wie es bei laborchemisch regelrechtem Kalzium-Stoffwechsel einerseits zu einer Kalzifikation der Aorta, der Herzklappen und der Basalganglien und andererseits zu einer verminderten Kalzifizierung der Knochen, Akroosteolysen und der gestörten Zahnentwicklung kommt [3].

Labordiagnostik von Interferono­pathien

Interferonopathien sind Erkrankungen, die durch eine vermehrte Ausschüttung von Interferonen gekennzeichnet sind. Unter Typ-1-Interferonen werden Interferon-alpha und -beta subsummiert, da diese an den Typ-I-Interferon-Rezeptor binden und so intrazelluläre Signalkaskaden auslösen, an deren Endpunkten bis zu 2.000 verschiedene Gene reguliert werden.
Eine Ausschüttung von Typ-1-Interferonen findet man im Rahmen fast aller Virusinfektionen und bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen wie der Psoriasis, dem Typ-I-Diabetes, Kollagenosen wie dem systemischer Lupus erythematodes, und einzelnen Myositiden, wie zum Beispiel der Dermatomyositis.
Aktuell ist der indirekte Nachweis von Typ-I-Interferonen durch induzierte Transkripte (Interferon-Signatur) oder Proteine (SIGLEC1, IP-10) gängig, da der direkte Nachweis von zum Beispiel Interferon-alpha durch die Existenz von 13 verschiedenen Subtypen erschwert ist und der Messbereich mit Pikogramm pro Milliliter extrem klein ist. Der Messbereich von CRP, dem analogen Labor-Screening-Parameter für bakterielle Infektionen, ist im Vergleich dazu mit Milli­gramm pro Liter (pg/ml versus mg/l) um den Faktor eine Million höher.
Ein nationaler oder internationaler Standard existiert nicht, und unseres Wissens wird bisher nur im Labor Berlin mit der SIGLEC1-Bestimmung in der Durchflusszytometrie eine Routinemessung in einem Labor angeboten. Da Blutzellen unterschiedliche Interferon­signaturen tragen und sich die zelluläre Blutzusammensetzung durch Interferone stark verändert (IFN induziert Neutropenie mit relativer Lymphozytose), ist die zellspezifische Erfassung die Methode der Wahl [6]. Diese Notwendigkeit erfüllt SIGLEC1, welches das bei SLE-Patienten am stärksten hochregulierte Oberflächenprotein im Vollblut ist. Das durch Typ-I-Interferon induzierte Adhäsionsmolekül SIGLEC1 wird im Blut nur auf Monozyten, welche neben Granulozyten die empfindlichsten „Biosensoren“ für Typ-1-Interferon sind, und deren Differenzierungsstadien (Makrophagen, entsprechende dendritische Zellen) exprimiert. Das Humane Immundefizienz-Virus bindet an SIGLEC1 und trans-infiziert so CD4-positive T-Zellen [7].
Durch die eingeschränkte Verfügbarkeit von IFN-Biomarkern sind die Abklärung, Diagnostik und Verlaufsbeurteilung von infektiösen, autoimmunen und erblichen Interferonopathien im Jahr 2018 der allgemeinen Routine noch nicht zugänglich. Auch in diesem Fallbeispiel konnte die Diagnose nur durch die Verkettung mehrerer begünstigender Umstände gestellt werden.
Da der Nutzen von IFN-Biomarkern, wie z. B. SIGLEC1, bei Interferonopathien in der Rheumatologie immer deutlicher und drängender wird [8–10], infektiologische Studien zudem belegen, dass virale von bakteriellen Infektionen durch die zusätzliche Bestimmung von IFN-Biomarkern noch zuverlässiger diskriminiert werden können [11], und die dadurch mögliche Reduktion von unnötigen Anti­biotika-Verordnungen im ambulanten Bereich Antibiotika-Resistenzen sehr wahrscheinlich vorbeugen können wird, ist zu hoffen, dass IFN-Biomarker in naher Zukunft einer breiteren Ärzteschaft in der Routinediagnostik zur Verfügung stehen werden. Somit können auch seltene erbliche Interferonopathien überhaupt, häufiger und früher erkannt werden.
Das Erkennen von Interferonopathien ist aus vielen Gründen hochrelevant; unter anderem, weil für die autoimmunen und erblichen Entitäten mit Antikörpern gegen den Typ-1-Interferon-Rezeptor (z. B. Anifrolumab) und Janus-Kinase-Inhibitoren in der Rheumatologie schon heute Medikamente in Studien bzw. in der Routineversorgung zur Verfügung stehen, die dosisabhängig in der Lage sind, Patienten mit erblichen Interferonopathien klinischen Profit zu bringen, wie es aktuell durch Sanchez et al. mit Baricitinib bei verschiedenen erblichen Interferonopathien eindrucksvoll belegt wurde [12].

Autoren
Prof. Dr. med. Gerd-Rüdiger Burmester,
Raisa Krasnitski,
Dr. med. Robert Biesen (korrespondierender Autor), Dr. med. Torsten Diekhoff
Klinik für Innere Medizin mit Schwerpunkt Rheumatologie und klinische Immunologie
Charité Universitätsmedizin Berlin
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