Trillium Diagnostik 2018; 16(4): 270-273
Moderne Hochdurchsatzverfahren der Molekulardiagnostik erzeugen nicht nur gewaltige Datenmengen, sondern auch überzogene Erwartungen an deren medizinischen Nutzen. Anhand von drei diagnostisch anspruchsvollen Beispielen aus dem Bereich genetischer Erkrankungen wird gezeigt, dass Genomsequenzierung und Bioinformatik solche Fälle nur im Verbund mit klassischer Humangenetik, Labormedizin und Pathologie lösen können.
Schlüsselwörter: Integrierte Diagnostik, NGS, Bioinformatik, erbliche Erkrankungen
Angetrieben durch den technologischen Fortschritt befindet sich die Molekulardiagnostik weiter auf dem Vormarsch – in der Bildgebung und mehr noch in der Laboratoriumsmedizin. Leistungsfähige Hochdurchsatzverfahren erzeugen enorm große Datenmengen, für deren Filterung und Interpretation herkömmliche Datenauswertungssysteme nicht mehr ausreichen. Weit verbreitet ist die Hoffnung auf Hilfe durch „Künstliche Intelligenz“, aber was bedeutet das in der Medizin? Sollen uns Computer den Weg zur Diagnose und Therapie weisen, wenn die ärztliche Expertise vor der Datenflut kapituliert?
Der nachfolgende Artikel ist ein Plädoyer dafür, Klinik, Morphologie und konventionelle Labordiagnostik nicht aus den Augen zu verlieren, wenn die neuen Hochdurchsatz-Verfahren der Genomik mit Unterstützung von leistungsfähigen Algorithmen in den diagnostischen Workflow integriert werden sollen. Häufig wird in diesem Zusammenhang von Integration gesprochen. Es gibt Gegner und Befürworter interdisziplinärer Zusammenarbeit, aber meist überwiegen die Stimmen, die darin eine Chance für ein sinnvolles Miteinander sehen, bei dem alle Beteiligten voneinander profitieren.
Hohe Erwartungen
Wie kaum ein anderer Bereich der Medizin hat die Labordiagnostik in den vergangenen 25 Jahren – also in etwa seit Beginn des Humangenomprojekts – von der Entwicklung der funktionellen Genomik und bioinformatischen Datenverarbeitung profitiert [1]. Seit einigen Jahren werden durch die Genomforschung mehr Daten produziert und prozessiert als durch alle sozialen Medien zusammen [2].
Hierzu tragen vor allem moderne Methoden der DNA-Sequenzanalyse bei, die in den vergangenen zehn Jahren unter dem Oberbegriff Next Generation Sequencing (NGS) entwickelt wurden. Durch deren enorme Leistungsfähigkeit konnte der Durchsatz innerhalb weniger Jahre um den Faktor 100.000 [!] gesteigert werden, während die Kosten gegenüber der klassischen Sanger-Sequenzierung auf ein 10.000stel sanken [3]. Dank gleichzeitiger Miniaturisierung scheint es sogar bald möglich, ein komplettes Genom auf einer Art USB-Stick zu sequenzieren [4].
Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass die Erforschung des statischen Erbgutes heute im industriellen Maßstab erfolgt, und dass gleichzeitig die Erwartungen an die diagnostische und prädiktive Aussagekraft der genetischen Information in immer größere Höhen getrieben wurden.
Neue Ansätze in der Genomik
Diese Erwartungen in die Aussagekraft der (statischen) Genomik können voraussichtlich nicht erfüllt werden. Erst allmählich erkennen wir, dass das Genom zwar den Bauplan für unseren Organismus enthält, aber eben auch eine enorme Plastizität aufweist und sich transkriptionell kontinuierlich an innere und äußere Veränderungen anpasst. Folglich begnügt sich die Genomforschung heute nicht mehr mit der Sequenzierung des Erbgutes, sondern sucht nach größeren Strukturvarianten oder Mustern der Genregulation, beispielsweise durch die Analyse der mRNA oder der epigenetischen Modifikationen von DNA und Histonen.
Was bleibt, ist jedoch die Frage, was tun mit all den Daten? Das grundsätzliche Problem ist die Interpretierbarkeit der zahllosen individuellen Varianten. Wie bereits viele große Genomprojekte gezeigt haben, wird diese Problematik auch durch immer größere Datensätze und Probandenzahlen nicht zu lösen sein. Wer darauf hofft, dass allein die Allelfrequenz den Datenwust schon ausreichend filtern werde, der übersieht, dass genetische Varianten im Laufe der Entwicklungsgeschichte auch evolutionäre Vorteile mit sich brachten, heute aber durch Kombination mit anderen, durchaus häufigen Varianten oder Umwelteinflüssen zu Krankheiten disponieren können.