Trillium Diagnostik 2018; 16(4): 267

Seltene Erkrankungen sind häufiger als Krebs. Zu dieser überraschenden Aussage kommt der Autor unseres Leitartikels auf S. 268, indem er die Häufigkeit aller Seltenen Erkrankungen (SE) mit derjenigen aller Formen von Krebs vergleicht.

Per definitionem spricht man von einer SE, wenn weniger als 5 von 10.000 Einwohnern betroffen sind – hochgerechnet auf rund 80 Millionen Deutsche also weniger als 40.000 Fälle. Das ist eigentlich gar nicht so wenig, doch in diese oberste Kategorie fallen vor allem Autoimmunkrankheiten (S. 278), während die bekanntesten monogenetischen Erbkrankheiten, wie zum Beispiel die Hämophilie (S. 244), in Deutschland nur auf einige tausend kommen. Bei den weniger bekannten, etwa den here­ditären Transthyretin-Amyloidosen (ATTR), sind es nur einige hundert.

Ehe ihre Krankheit jedoch korrekt benannt und behandelt wird, haben diese Patienten in der Regel eine mehrjährige Odyssee von Facharzt zu Facharzt hinter sich. Je länger es dauert, bis sie aus diesem Labyrinth von Verdachts- und Fehldiagnosen wieder herausfinden, desto weiter kann die Krankheit voranschreiten und möglicherweise irreversible Schäden verursachen.

Den Ärzten – insbesondere den erstbehandelnden Hausärzten – sollte man keinesfalls Inkompetenz vorhalten. Wer kann sich schon Tausende von genetischen Varianten und deren typische Symptomkonstellatio­nen merken? Und wer denkt überhaupt an eine Krankheit, die er noch nie gesehen hat? 

Dazu kommt, dass die Symptome solcher Erkrankungen oft verwirrend vielfältig sind; so können bei der oben erwähnten ATTR je nach Lokalisation der Mutation im Transthyretin-Molekül kardiologische, gastrointestinale oder neurologische Symp­tome im Vordergrund stehen, etwa ein initialer Verlust des Temperaturempfindens an den Füßen. Unerkannt und falsch behandelt führt diese Krankheit nach etwa zehn Jahren zum Tode. Doch durch Medikamente, die die Amyloidbildung hemmen, lässt sich die Progredienz stark verlangsamen oder sogar stoppen.

Die geringen Fallzahlen machen klar, warum sich die Grundlagenforschung kaum um die "Waisenkinder der Medizin" (Orphan Diseases) kümmert: Für solch exotische Themen winken weder Ruhm noch Fördermittel. Die Pharmaindustrie dagegen hat die Orphan Drugs mittlerweile als lohnendes Forschungsobjekt entdeckt: Für sie gelten vereinfachte Zulassungsverfahren, und die Umsätze sind stattlich. Allein in den USA schaffen die von der FDA (Food and Drug Administration) zugelassenen Orphan Drugs derzeit einen Jahresumsatz von rund 60 Milliarden Dollar. Das teuerste einschlägige Medikament ist Eculizumab zur Behandlung der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobin­urie; die Therapie kos­tet über eine halbe Million Euro pro Jahr und erstreckt sich über ein ganzes Leben. 

Mit dem Schwerpunkt dieser Ausgabe wollen wir speziell unsere diagnostisch tätigen Leser für die Problematik der Seltenen Erkrankungen sensibilisieren, denn bei ihnen laufen die Fäden zusammen, und in ihren Laboren werden letztlich auch die beweisenden Untersuchungen durchgeführt (S. 270). In diesem Kontext sei auf ein Pilotprojekt hingewiesen, das den Weg durch das Labyrinth der Verdachts- und Fehldiagnosen verkürzen soll (S. 273): Ein Computer-Algorithmus filtert unabhängig von all den verwirrenden Symptomkonstellationen aus allgemein gehaltenen Fragen diejenigen Patienten heraus, bei denen eine hohe Wahrscheinlichkeit für SE besteht, sodass es sich lohnt, gezielt nach einem seltenen Autoantikörper oder einer seltenen genetischen Variante zu suchen.

Prof. Dr. med. Georg Hoffmann

Mitglied der Redaktion