Vielgestaltiges Krankheitsbild und Methodenspektrum

Hämoglobinopathien

Erbliche Thalassämien und abnormale Hämoglobine treten mit zunehmender Migration auch in Deutschland vermehrt auf. Neben einer gezielten Stufendiagnostik ist eine genetische Beratung unerlässlich.

Schlüsselwörter: Hämoglobinopathie, Thalassämie, Sichelzellkrankheit, Sichelzellanämie, Migration

Hämoglobinopathien bilden eine Gruppe von erblich bedingten Krankheiten, die durch Störungen der Hämoglobinproduktion gekennzeichnet sind. Sie waren früher in Deutschland sehr selten, doch durch Immigration aus Endemiegebieten haben die daraus resultierenden gesundheitlichen Probleme in West-, Nord- und Mitteleuropa und damit auch in Deutschland stark zugenommen[1].

Die beiden Hauptgruppen sind die Thalassämie-Syndrome und die Hämoglobin-Strukturdefekte. Die Vielzahl unterschiedlicher Erscheinungsbilder erstreckt sich von leichten hypo­chromen Anämien bis zu lebenslang transfusionsbedürftigen Anämien und Multi­organkrankheiten. Vor allem die α- und β-Thalassämie sowie die Sichel­zellkrankheit stellen bei der heute in Deutschland lebenden multiethnischen Bevölkerung ein relevantes medizinisches Spezialgebiet mit umfangreichen Aufgaben in der Krankenversorgung dar[2, 3].

 

Epidemiologie

Hämoglobinopathien treten endemisch in den ehemaligen und aktuellen Verbreitungsgebieten des Malariaerregers auf, weil atypische Formen des roten Blutfarbstoffs wie etwa das HbS aus Sicht der Evolution möglicherweise einen Selektionsvorteil im Sinne einer Malariaresistenz bedeuten (vgl. Abb. 1). Man schätzt, dass 7% der Weltbevölkerung, also rund eine halbe Milliarde Menschen Anlageträger sind.

Durch die zunehmende Völkerwanderung der letzten Jahrhunderte, z. B. den atlantischen Sklavenhandel des 18. Jahrhunderts, und aktuell durch die Zunahme der weltweiten Mobilität, sind Hämoglobinopathien heute nahezu überall auf der Welt anzutreffen[1]. In Deutschland findet man sie insgesamt gesehen zwar immer noch selten (geschätzt etwa 1 : 8.000[3]), doch bedingt durch stete Zuwanderung sowie in Deutschland geborene Menschen mit Migrationshintergrund in zweiter und dritter Generation ist eine Konzentration vor allem in den industriellen Ballungs­gebieten unverkennbar. Da nun immer mehr Flüchtlinge aus dem Mittelmeerraum, Afrika und Asien aufgenommen und in ganz Deutschland verteilt werden, kann man annehmen, dass auch in den ländlichen Gebieten die Zahlen inzwischen angestiegen sind.

Genaue Prävalenzschätzungen für die Bundesrepublik liegen nicht vor. Als Anhaltswert ergibt sich bei ca. 9 Millionen Immigranten aus Risikoländern im Mittel eine relative Häufigkeit von 4,5%, woraus rechnerisch die Anwesenheit von etwa 400.000 Hämoglobinopathie-Genträgern resultiert[2]. Daten aus den letzten vier Jahren, die im Rahmen regionaler Neugeborenenscreening-Programme erhoben wurden, weisen eine Inzidenz von ca. 1 : 2.400 Neugeborenen in Berlin und Hamburg[5, 6] und 1 : 12.000 Neugeborenen im südwestdeutschen Raum[7] aus.

Länder mit länger bestehender Einwanderungsgeschichte wie z. B. Großbritannien, Frankreich und die Beneluxstaaten sowie die Endemiegebiete Südeuropas wie etwa Italien, Griechenland und Zypern haben nationale und regionale Präventionsmaßnahmen etabliert und Versorgungszentren aufgebaut. Auch in der deutschen Medizin wird das Ziel verfolgt, mit der Einrichtung von Hämoglobinopathie-Versorgungszentren die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zu optimieren.

 

              

Herkunftsland   

Immigranten (Tsd.)

Türkei

2.107

Griechenland

363

Süditalien (Sizilien)

400

Mittlerer Osten

254

Nordafrika

127

Zentralafrika

180

 

Abb. 1: Endemiegebiete des Sichelzellgens (Quelle: Sickel Cell Information Center) und geschätzte Anzahl betroffener Immigranten in Deutschland (Quelle: Statistisches Bundesamt)[4].

α-Thalassämie

Den α-Thalassämien liegt eine quantitative Synthesestörung der α-Globinketten zugrunde; sie kommt vor allem in Afrika, Arabien und Südostasien vor[3], weniger häufig im Mittelmeerraum. Bei in Deutschland lebenden Migranten verzeichnen wir seit Jahrzehnten einen starken Anstieg: Allein im Hämoglobinlabor Ulm wurden zwischen 1971 und 2016 mehr als 5.000 Fälle diagnostiziert.

Molekulare Ursache ist meist eine partielle oder totale Deletion eines oder mehrerer der insgesamt vier Gene, die die α-Ketten-Produktion regulieren (normale Konstellation: αα/αα, pathologisch: ‒α/αα bis ‒‒/‒‒). Der Schweregrad der hämatologischen und klinischen Krankheitsbilder korreliert mit der Anzahl der vom Aktivitätsverlust betroffenen Gene.

Für die Nomenklatur und Klassifizierung werden bevorzugt die Bezeichnungen α+- und αo-Thalassämie verwendet. Bei der α+-Thalassämie ist eines der beiden gekoppelten Gene (‒α/αα) inaktiviert, bei der αo-Thalassämie sind beide Gene (‒‒/αα) betroffen. Es gibt jeweils heterozygote und homozygote Formen.

 

β-Thalassämie

Die β-Thalassämie-Syndrome resultieren aus einer reduzierten (β+ oder β++) oder fehlenden (β0) Produktion der β-Globinketten. Molekulare Ursache sind Punktmutationen, selten auch Deletionen im β-Globingen. Hauptverbreitungsgebiete sind die Mittelmeerländer, Südost­europa, Arabien und Asien. Die Symptome manifes­tieren sich ab dem dritten bis sechsten Lebensmonat.

Die Einteilung erfolgt nach klinischen Gesichtspunkten in Thalassaemia minor (heterozygote β-Thalassämie), Thalass­aemia major (i. d. R. homozygote oder gemischt heterozygote β-Thalassämie mit Transfusionsabhängigkeit) und Thalass­aemia intermedia (meist homozygote oder gemischt heterozygote β-Thalassämie). Eine neue Bezeichnung für die Thalass­aemia intermedia ist Non Transfusion Dependent Thalassaemia (NTDT). In Tab. 2 sind auch die zunehmend gebräuchlichen Genotypen aufgelistet.

 

Anomale Hämoglobine

Anomale Hämoglobine kommen durch Strukturdefekte infolge einer veränderten Aminosäuresequenz in den α- oder β-Ketten des jeweils betroffenen Hämoglobins zustande. Hierbei sind harmlose von relevanten Formen zu unterscheiden. Die wichtigsten anomalen, endemisch vorkommenden Hämoglobine bei den in Deutschland lebenden Immigranten sind HbS (Sichelzell-Hämoglobin), HbC und HbE; seltener kommen HbD, HbOArab und HbLepore vor (Tab. 3).

In der Praxis erkennt man nur die homozygoten Formen; heterozygote Merkmalsträger von HbS, HbC und HbD sind klinisch und hämatologisch nicht beeinträchtigt. Es gibt noch eine Vielzahl weiterer Varianten, die jedoch nur endemisch und weltweit gesehen selten vorkommen und hier nicht dargestellt werden.

 

Sichelzellkrankheit

Der Begriff Sichelzellkrankheit umfasst alle Hämoglobinopathien, die durch das pathologische Sichelzellhämoglobin (HbS) hervorgerufen werden[8]. Es bildet mit mindestens 50%, meistens sogar weit mehr, den Hauptanteil des roten Blutfarbstoffs.

Die ältere Bezeichnung „Sichelzell­anämie" ist nach der internationalen Nomenklatur obsolet, da nicht die chronische Anämie das Krankheitsgeschehen vorrangig bestimmt; daran sind die Patienten meist gut adaptiert. Vielmehr führt eine Polymerisierung des Hämoglobins durch Sauerstoff­abgabe zur Ausbildung der Sichelzellen und zu Gefäßverschlüssen mit Infarkten in fast allen Organen (Haut, Leber, Milz, Knochen, Nieren, Retina, ZNS).

Die Symptome der Sichelzellkrankheit können ab dem dritten Lebensmonat auftreten. Schon im Säuglings- und Kleinkindalter sind lebensbedrohliche Komplikationen wie Sepsis bzw. Meningitis durch bekapselte Erreger gefürchtet. Als Hauptprobleme im Erwachsenenalter dominieren Schmerz­krisen, die vor allem den Rücken, die Extremitäten, den Thorax, das Abdomen und das ZNS betreffen können. Lebensgefährlich sind auch die nicht selten fatal endenden Milzkrisen, die einem inneren Verbluten gleichkommen, außerdem akute Thoraxsyndrome und zerebrale Insulte, in deren Verlauf schwere Organschäden entstehen[3, 8, 9].

Diesen lebensbedrohlichen Symptomen kann man besonders im jungen Kindesalter durch Früherkennung und adäquate Behandlung vorbeugen. Zahlreiche Länder mit hohem medizinischem Standard haben daher ein universelles Neugeborenenscreening auf Sichelzellkrankheit erfolgreich eingeführt. In Deutschland gibt es nur regionale Initiativen[6, 7, 10]; das nationale Neugeborenenscreening befindet sich aber in der Antragsphase beim GBA.

 

HbE- und HbC-Anomalie

HbE ist eine sehr häufige, in Südost­asien beheimatete genetische Variante. Das klinisch variable Erscheinungsbild ähnelt bei heterozygoten Trägern denen der β-Thalassaemia minor. Bei der HbE-Homozygotie ist die Instabilität des HbE bedeutsam, sodass durch Virus­infekte und Medikamente akute Hämolysen ausgelöst werden können. Vor allem die HbE-β0-Thalassämie, die weltweit 50% aller schweren Thalassaemia-major-Fälle ausmacht, kann zu kritischen Krankheitsverläufen führen. HbE-Homozygote zeigen im Blutbild eine mäßiggradige hypochrome mikrozytäre Anämie[3].

Die HbC-Homozygotie oder HbC-Krankheit verläuft ähnlich wie eine milde Sichelzellkrankheit, meistens ohne bedrohliche Sichelzellkrisen. Es dominiert eine variable hämolytische Anämie. Nicht ganz selten wird in Deutschland die HbSC-Krankheit gesehen, die ebenfalls mit einer mäßig schweren Sichelzellkrankheit einhergeht[3].

 

Diagnostik

Im Rahmen der Stufendiagnostik wird bei Verdacht auf eine Hämoglobinopathie als Basis zunächst das Blutbild inklusive der Erythrozytenindizes und der Retikulozytenzahl analysiert und anschließend eine differenzierte Hämoglobinanalyse durchgeführt. Begleitend sollte immer der Eisenstoffwechsel zum Ausschluss eines Eisenmangels untersucht werden. Zu berücksichtigen ist auch, ob es sich um eine diagnostische oder eine präventive Fragestellung im Rahmen der Familienplanung handelt; dabei sind die Vorgaben des Gendiagnostikgesetzes zu beachten.

Indikationen für eine umfassende Dia­gnostik ergeben sich bei mikrozytärer hypochromer Anämie, chronischer hämolytischer Anämie, Symptomen der Sichelzellkrankheit bei Patienten aus HbS-Verbreitungsgebieten (nicht nur Afrika), medikamenteninduzierten Anämien, Hydrops-fetalis-Syndrom unklarer Ätio­logie (besonders bei Patientinnen aus Südostasien), sowie im Rahmen des Neugeborenenscreenings auf Sichelzellkrankheit und der genetischen Beratung zur Familienplanung bzw. Pränataldiagnostik.

Die Auftrennung der Hämoglobine kann durch die klassische alkalische und saure Elektrophorese, die Kapillarzonenelektrophorese oder Hochleistungsflüssigkeitschromatografie (HPLC) erfolgen. Bei Verdacht auf anomale Hämoglobin­varianten sollten weitere Tests wie etwa Löslichkeits- und Instabilitätstests oder eine zweite Methode der Hämoglobinanalyse zur Bestätigung angewendet werden.

Die Interpretation ist immer im Zusammenhang mit Blutbild, Eisenstoffwechsel und anamnestischen Angaben (ethnischer Hintergrund, Familienanam­nese) vorzunehmen. Hämoglobinopathien sind mitunter äußerst komplex und erfordern Expertise und Erfahrung, um Mischformen zu erkennen und je nach Fragestellung ökonomisch sinnvoll zu untersuchen[3, 9].

 

Molekulargenetische Diagnostik

Die Indikation zur molekulargenetischen Diagnostik ergibt sich aus der Basisdiagnostik und der Fragestellung: Ohne diese Basis ist eine sinnvolle molekulargenetische Abklärung unmöglich, und nicht jede mikrozytäre hypochrome Anämie bei Personen jeden Alters aus Risikoländern bedarf einer DNA-Untersuchung.

Bei Verdacht auf schwere Hämoglobinopathien wie etwa β-Thalassaemia major oder Sichelzellkrankheit kann eine molekulargenetische Abklärung erforderlich werden – insbesondere bei den compound-heterozygoten Formen. Hier steht mitunter die Beratung der Eltern mit im Fokus. Auch die in der Basisdiagnostik schwer zu erfassenden Thalassämien (z. B. β-Thalassämie ohne HbA2-Erhöhung) oder Auffälligkeiten wie die seltenere δ-β-Thalassämie oder HPFH sollten molekulargenetisch abgeklärt werden.

Man findet heute im west-, nord- und mitteleuropäischen Umfeld ein breites Spektrum an zu erwartenden Mutatio­nen unterschiedlicher Herkunftsländer mit entsprechend vielfältigem Methodenspektrum. Bei der α-Thalassämie folgen im Rahmen der Stufendiagnostik auf die GAP-PCR und/oder MLPA zur Erfassung der deletionalen α-Thalassämien Sequenzanalysen oder sondenbasierte Hybridisierungs­assays für nicht-deletionale α-Thalassämien und anomale Hämoglobine. Bei der β–Thalass­ämie beginnt man mit sondenbasierten Hybridisierungs­assays und/oder direkter Sequenzierung für Punktmutationen der β-Kette, gefolgt von MLPA oder GAP-PCR für deletionale β-Thalassämien. Darüber hinaus stehen in einigen Laboren spezielle Methoden zur Verfügung, etwa die Sequenzierung weiterer Abschnitte der α- und β-Globin-Gen-Cluster sowie Chip- und Array-Methoden. Das Next Generation Sequencing (NGS) bleibt seltenen Fragestellungen vorbehalten, dürfte aber mit zunehmender Erfahrung und Verbreitung neue, interessante Einsatzmöglichkeiten finden.

 

Therapie

Thalassämien und Sichelzellkrankheit sind schwere chronische Erkrankungen mit lebenslangem Behandlungs- und Betreuungsbedarf. Nach der Diagnosestellung einer Thalassaemia major oder Sichelzellkrankheit sollte der Patient zur Beratung, Festlegung des therapeutischen Vorgehens und gegebenenfalls regelmäßigen Überwachungsdiagnostik in einem erfahrenen Zentrum vorgestellt werden[8].

Zur Therapie der schweren Major-Thalassämieformen wird hauptsächlich die Stammzellentherapie eingesetzt; wenn erforderlich wird eine Supportivtherapie mit lebenslangen Erythrozytentransfusio­nen in Kombination mit einer Eisenelimination durchgeführt[11, 12].

Bei der Sichelzellkrankheit steht die Behandlung der Schmerz- und Sichelzellkrisen mit Flüssigkeitszufuhr und konsequenter Infektionsbekämpfung im Mittelpunkt. Hydroxyurea ist bei vielen Patienten zur Reduktion der Krisen erfolgreich. Erythrozytentransfusionen unterliegen strengen Indikationen. Zunehmend kommt bei Verfügbarkeit eines Spenders die kurative Stammzelltherapie in Betracht[2, 8]. Bei Ausschöpfung aller Möglichkeiten kann heute auch bei schweren Hämoglobinkrankheiten eine Lebenserwartung von 50 bis 60 Jahren prognostiziert werden.