Referenzintervalle und klinische Entscheidungsgrenzen: Auf dem Weg zu globaler Harmonisierung
DOI: https://doi.org/10.47184/td.2025.03.04Auf der EuroMedLab-Konferenz in Brüssel diskutierten Expert:innen die Weiterentwicklung und Harmonisierung des Referenzintervallkonzepts. Neue digitale und statistische Methoden zielen auf deren nachhaltige und standardisierte Festlegung. Internationale Projekte in Deutschland, Kanada und Australien zeigen, dass harmonisierte Werte über Labore hinweg möglich sind – ein wichtiger Schritt für eine moderne, evidenzbasierte Labormedizin.
Schlüsselwörter: Referenzintervalle, indirekte Verfahren, Harmonisierung
Laborbefunde liefern essenzielle Informationen für die Beurteilung des Gesundheitszustands. Zwei zentrale Konzepte helfen, die Messergebnisse zu interpretieren: Referenzintervalle (RI) und klinische Entscheidungsgrenzen (CDL) [1]. Auf der EuroMedLab 2025 in Brüssel diskutierten die IFCC (International Federation of Clinical Chemistry and Laboratory Medicine) mit ihrem „Komitee für Referenzintervalle und Entscheidungsgrenzen“ (C-RIDL) sowie die Arbeitsgruppe zur globalen Referenzintervall-Datenbank (TF-GRID) die verschiedenen Konzepte in Bezug auf die Nachhaltigkeit.
Digitalisierung treibt den Wandel
Einer der stärksten Motoren bei der Weiterentwicklung von Verfahren zur Ermittlung von Referenzgrenzen ist die zunehmende Nutzung elektronischer Patientenakten (EPA). Sobald Messwerte über verschiedene Laboratorien hinweg verglichen werden sollen, stößt man auf das Problem, dass die im Einzelbefund angegebenen Interpretationshilfen − also Referenz- und Entscheidungsgrenzen − nicht ausreichend standardisiert sind, um in einer Akte kumulativ zusammengeführt zu werden. Vielmehr verwenden selbst Labore mit gleichen Testverfahren und Analysesystemen unterschiedliche Referenzgrenzen. Zudem galt lange Jahre das Dogma, dass unterschiedliche Analysesysteme es unmöglich machen, gemeinsame Referenzgrenzen zu verwenden.
Neue statistische Verfahren
Dieses Dogma stimulierte die Entwicklung sogenannter „indirekter Methoden“, die es jedem Labor ermöglichen, eigene Referenzgrenzen zu etablieren: Anstatt mit hohem Aufwand eine begrenzte Anzahl gesunder Proband:innen für direkte Studien zu rekrutieren, greift man bei diesem Ansatz auf große routinemäßig erhobene Datenbestände aus den Laborinformationssystemen zurück. Da sie Messergebnisse aus gemischten Populationen, also von Gesunden und Kranken, enthalten, kommen fortgeschrittene statistische Verfahren zum Einsatz, die die Referenzgrenzen mithilfe mathematischer Modelle schätzen. Erste Vergleichsstudien belegten eine hinreichende Übereinstimmung der Ergebnisse für diverse Analyten an verschiedenen Standorten.
Vorreiter Deutschland und Kanada
In Deutschland initiierte das PEDREF-Netzwerk unter Mitarbeit der DGKL-Sektion Richtgrenzen eine Studie, die Daten mehrerer Universitätsklinika zusammentrug – bewusst mit nur einem Analysesystem eines Herstellers. Die homogenen Eingangsbedingungen ermöglichten einen klaren Vergleich: Die Resultate stimmten derart gut überein, dass das Konsortium gemeinsame Referenzgrenzen – Common Reference Limits – definieren konnte. Diese Grenzwerte stehen inzwischen auf der Website pedref.org für Klinik und Arztpraxis bereit.
Die CALIPER-Arbeitsgruppe der kanadischen Fachgesellschaft CSCC baute ursprünglich auf Studien an gesunden Kindern und Jugendlichen auf, bei denen mit direkten Verfahren über 15.000 Proben ausgewertet werden konnten. Daraus resultierten alters- und geschlechtsspezifische Referenzintervalle für über 200 Marker, die auf der Website caliper.research.sickkids.ca abrufbar sind. Auch in dieser Arbeitsgruppe kommen nun indirekte Verfahren (ursprünglich TML, aktuell refineR) zum Einsatz, um die bereits ermittelten Referenzgrenzen mit Daten aus beteiligten Laboren vergleichen zu können.
Parallel zu den Bemühungen, Referenzintervalle für die Pädiatrie zu standardisieren, konzentriert sich die CSCC nun auch auf die Harmonisierung der Werte für Erwachsene: In einer 2023 in Clinical Chemistry veröffentlichten Studie wurden mittels indirekter Verfahren gemeinsame Referenzgrenzen für 16 Analyten für Erwachsene vorgestellt. Bei diesem Ansatz wurden Daten von neun Gemeinschaftslaboren in ganz Kanada integriert – wohlgemerkt aus Laboren mit unterschiedlichen Analyseplattformen und mittels des refineR-Algorithmus – überprüft. Erfolgreich harmonisieren ließen sich Referenzgrenzen für Analyte wie AP, Albumin, Chlorid, LDH, Magnesium, Phosphat, Kalium und Gesamtprotein, die die Verifizierungskriterien der verschiedenen Labore und Hersteller erfüllten.
Bei einigen Analyten, insbesondere bei immunologischen Nachweisverfahren, ergaben sich jedoch Abweichungen, die weitere Untersuchungen erfordern.
Auf dem IFCC-Symposium in Brüssel betonte die CALIPER-Gruppe die Notwendigkeit, harmonisierte Referenzintervalle für Kinder und Erwachsene in einem einheitlichen, evidenzbasierten Rahmen zu konsolidieren.
Harmonisierung in Australien
Parallel verfolgt auch Australien unter dem Dach der Australian Association of Clinical Biochemists (AACB) im Komitee für gemeinsame Referenzintervalle (CCRI) einen harmonisierenden Ansatz. Getrieben von der Einführung der dortigen elektronischen Gesundheitsakte eHMR startete die australische Regierung bereits 2011 das Projekt Pathology Units and Terminology Standardisation (PUTS). Ziel ist es, Laborbefunde verschiedener Anbieter unabhängig von Methoden und Einheiten oder bisherigen Referenzintervallen zusammenzuführen und so die Verwirrung bei der Interpretation von Laborwerten durch medizinische Fachleute und Laien zu reduzieren. Bislang harmonisierte das Projekt Intervalle für über 18 Analyten; der weitere Ausbau kann unter rcpa.edu.au verfolgt werden.
Nachhaltige Referenzintervalle
Auf der IFCC-Tagung stellte das Komitee schließlich das Konzept „nachhaltige Referenzintervalle“ (Sustainable Reference Intervals) vor. Es ergänzt die bislang üblichen Zahlenwerte um methodische Details wie Messverfahren und Einheit und berücksichtigt auch demografische Faktoren wie Alter, Geschlecht, ethnischen Hintergrund und regionale Unterschiede. Eine einheitliche Terminologie ermöglicht dabei nicht nur die Vergleichbarkeit, sondern macht auch Fälle von Nichtvergleichbarkeit kenntlich. Solche nachhaltigen Referenzintervalle versetzen Labore und Kliniken in die Lage, spezifische Grenzwerte für unterschiedliche Patientengruppen zu definieren.
Neue CLSI-Richtlinien
Das US-amerikanische Clinical and Laboratory Standards Institute (CLSI) reagiert auf diese Entwicklungen: In der kommenden Richtlinie EP44 ED4PD:2024 (Nachfolgerin von EP28-A3C:2010) trennt sie die Abschätzung und Verifizierung von Referenzgrenzen in zwei Dokumente. Zwar bleiben direkte Studien mit gesunden Proband:innen vorerst der Goldstandard zur Abschätzung, doch schon heute erweist sich die Verifizierung mittels indirekter Methoden als überlegen. Deshalb wird das CLSI-Dokument EP45 in einem nächsten Schritt die indirekten Verfahren offiziell würdigen und damit ihren Weg in die Routine ebnen.
Für die Etablierung von Entscheidungsgrenzen gibt es bislang keine IFCC-Leitlinie, aber die Bedeutung der Unterscheidung von Referenz- und Entscheidungsgrenzen wurde in einer Stellungnahme der IFCC betont [1]. Während Erstere von jedem Labor mit statistischen Verfahren selbst überprüft werden können, basieren Letztere auf klinischen Studien, die in der Regel eine Kombination aus labormedizinischer und klinischer Expertise benötigen (Abb. 1).
Fazit
Die Etablierung laborübergreifender, nachhaltiger Referenzintervalle verlangt multizentrische Studien, die direkte und indirekte Verfahren (auch mittels reflimR; siehe nächste Seite) kombinieren und extern validieren. Initiativen in Deutschland, Kanada und Australien zeigen, dass dieser Ansatz funktioniert: Mit Big-Data-Analysen und innovativen Statistikmethoden soll die Laboratoriumsmedizin in ein neues Zeitalter eintreten, in dem die Interpretation von Laborwerten durch harmonisierte – idealerweise standardisierte – Referenzgrenzen erheblich vereinfacht und verbessert wird.