Referenzintervalle und Entscheidungsgrenzen: Laborwerte im Zwielicht

Bei der Bewertung von Laborergebnissen geraten nicht nur Laien, sondern auch Fachleute oft ins Spannungsfeld zwischen „Was ist normal?“ und „Wann eingreifen?“ – womöglich ohne sich dieses fundamentalen Unterschieds bewusst zu sein. Hier überlagern sich zwei klinisch bedeutsame Konzepte: Referenzintervalle (Reference Intervals; RI) und Entscheidungsgrenzen (Clinical Decision Limits; CDL).

Statistik versus Expertenkonsens

Referenzintervalle beruhen auf der Verteilung von Messergebnissen gesunder Referenzpersonen und werden als zentrales 95 %-Intervall zwischen dem 2,5. und dem 97,5. Perzentil angegeben. Sie beschreiben, in welchem Bereich sich die Mehrheit der Messwerte für eine Population ohne offensichtliche Krankheit bewegt. 

Der Begriff „normal“ ist dabei vieldeutig und manchmal irreführend, denn Messwerte innerhalb des Referenzintervalls sind keineswegs „genormt“, sondern können regional stark schwanken. Schon gar nicht ist der Umkehrschluss erlaubt, dass „normale“ Werte das Vorliegen von Krankheiten oder Risiken ausschließen. Und fast noch wichtiger: Die obige Definition beinhaltet zwingend, dass auch bei offensichtlich Gesunden nur etwa 95 % der Werte innerhalb der jeweiligen Referenzgrenzen liegen. Jeder 20. Wert sollte bei ihnen also im Befundbericht als auffällig markiert sein; andernfalls besteht der Verdacht, dass die Referenzintervalle zu weit gewählt wurden.

Entscheidungsgrenzen hingegen definieren genau eine Schwelle, bei deren Über- oder Unterschreitung zum Beispiel das Risiko für eine bestimmte Erkrankung ansteigt, eine Diagnose gestellt werden kann oder eine therapeutische Maßnahme ergriffen werden soll. Diese Grenzwerte basieren auf klinischen Endpunkten – etwa Mortalitätsdaten, prospektiven Kohorten oder ROC-Analysen. Sie werden in der Regel von Fachgesellschaften im Rahmen von Empfehlungen und Leitlinien vorgegeben. Dabei können unterschiedliche Vorgaben durchaus miteinander konkurrieren.

Während RI vor allem von Laborfachleuten definiert werden und mit statistischen Verfahren überprüft werden müssen (z. B. CLSI EP28-A3c und ISO 15189), sind CDL das Ergebnis interdisziplinärer Auswertungen von Studienergebnissen und können von den Laboren ohne eigene Analysen unter Verweis auf die Literatur übernommen werden.

Riskante Verallgemeinerung

In der Praxis werden RI oft fälschlicherweise verallgemeinernd als Gesund-/Krank-Schwelle genutzt. Dies kann dazu führen, dass Laborwerte ohne Plus- und Minuszeichen in der Datenflut überhaupt nicht beachtet oder umgekehrt markierte Ergebnisse immer als pathologisch bewertet werden – mit der Gefahr teurer Folgemaßnahmen und belastender Fehldiagnosen. 

Wichtig wäre es daher eigentlich, im Laborbericht klar zu kennzeichnen, ob ein Ergebnis am Referenzintervall oder anhand einer klinischen Entscheidungsgrenze bewertet wird. So spricht ein Cholesterinwert von 6 mmol/L (230 mg/dL) keineswegs für eine Erkrankung des Fettstoffwechsels, sondern fordert lediglich dazu auf, das kardiovaskuläre Risiko differenzierter zu bewerten (siehe folgenden Artikel). Ein Kaliumwert von 6 mmol/L liegt hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit außerhalb des Referenzintervalls, wenn er nicht durch die Wahl eines ungeeigneten Probenmaterials verfälscht wurde (siehe folgenden Artikel).

Die Botschaft an Labore (und LIS-Hersteller) lautet daher: Nur eine konsequente Trennung und eine transparente Kommunikation der beiden Konzepte ermöglichen die fachgerechte Interpretation der Laborbefunde. Bislang ist hier noch viel „Luft nach oben“.