Schwerpunkt Immunologie: Tödliche Ästhetik

430 v. Chr. beschrieb der Historiker Thucydides eine unbekannte Seuche: „Sie überfiel jeden mit einer Wucht ohne Menschenmaß“. Interessanterweise konnten die Genesenen die Betroffenen gefahrlos betreuen, da sie kein zweites Mal erkrankten. 
Wenn man so will, war diese Beobachtung die Geburtsstunde der Immunologie. Letztlich resultierte daraus eine der größten Errungenschaften der Medizin, die Erstbeschreibung einer erfolgreichen Impfung durch den englischen Arzt Edward Jenner im Jahre 1796. In der aktuellen Pandemie feiert das Fach gerade wieder enorme technologische Erfolge.
Wie aber schafft es ein System aus Zellen und löslichen Abwehrstoffen, die unvorstellbare Diversität fremder Invasoren zu erkennen und zu bekämpfen – und das in friedlicher Koexistenz mit Milliarden anderer Bakterien, Viren und auch Parasiten in und auf unserem Körper, die fremd aber unschädlich, zum Teil sogar überlebenswichtig für uns sind? 
1908 erhielt der russische (nach heutigem Geografieverständnis ukrainische) Biologe Elias Metschnikow gemeinsam mit Paul Ehrlich den Medizinnobelpreis „in Anerkennung seiner Arbeiten über die Immunität“. Er unterschied Makrophagen von Mikrophagen (heute neutrophile Granulozyten) und gilt damit als Entdecker der zellulären Immunabwehr. Seine Theorien standen im Widerspruch zu der damals vorherrschenden Auffassung, wonach Immunität gegen ansteckende Krankheiten von nicht näher definierten „chemischen Eigenschaften des Blutes“ abhing. Erst 1948 schlug die Schwedin Astrid Fagraeus am Karolinska-Institut Stockholm die Brücke zwischen den unvereinbar scheinenden Welten der Zellen und löslicher Proteine, indem sie zeigte, dass Antikörper von Plasmazellen gebildet werden. 
Damit war das erste Einteilungsprinzip des Immunsystems beschrieben: zellulär versus humoral. Eine zweite Einteilung beruht auf der Unterscheidung von angeborenem versus erworbenem Immun­system. Didaktisch sind solche Einteilungen nützlich, aber in der Realität greifen alle diese Systeme wie ein gewaltiges Räderwerk ineinander. Nobelpreise gab es sowohl für die Charakterisierung der wichtigsten humoralen Faktoren – Antikörper und Komplementfaktoren – als auch für Entdeckungen im Bereich der zellulären Abwehr durch T-Lymphozyten, die zum Beispiel zwischen Selbst und Fremd mithilfe des MHC-Systems unterscheiden können. 
Ein weiterer mit einem Nobelpreis bedachter Meilenstein der Immunologie war die künstliche Erzeugung von monoklonalen Antikörpern mit einer einzigen, exakt definierten Bindungseigenschaft. Plötzlich war es möglich, im Blut Hormone in niedrigsten Konzentrationen mittels Immunoassays nachzuweisen und spezifische Medikamente gegen Tumorantigene oder Infektionserreger wie etwa SARS-CoV-2 im industriellen Maßstab herzustellen. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch therapeutische Antikörper gegen körpereigene Rezeptoren des Immunsystems; sie werden eingesetzt, um eine überschießende Reaktion beim sogenannten Zytokinsturm zu unterdrücken.  
Noch komplexer sind die Verhältnisse bei der Antikörper-abhängigen Zyto­toxizität (ADCC). Hier erfolgt eine Bindung sowohl der variablen Fab-Region an die Zielstruktur auf einer fremden Zelle als auch der konstanten Hinge-Region an den Fc-Rezeptor einer Abwehrzellzelle. Was in der symbolischen Abbildung links so ästhetisch erscheint, steht also letztlich für ein Todessignal, mit dem die fremde Zelle zum Abschuss durch eine Killerzelle unseres Immunsystems freigegeben wird.

Prof. Dr. med. Rudolf Gruber
Prof. Dr. med. Georg Hoffmann
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