Myeloproliferative Neoplasien: neue Prognose-Scores
Annual Meeting of the American Society of Hematology (ASH) 2018, San Diego
Die myeloproliferativen Neoplasien, früher ein eher exotischer Bereich der Hämatologie, sind durch die Entdeckung spezifischer genetischer Aberrationen und die daraus folgende Verbesserung der Klassifizierung sowie die Entwicklung neuer Therapiekonzepte sehr viel stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Beim Kongress der American Society of Hemtaology (ASH) im Dezember 2018 in San Diego gab es keine aufsehenerregenden neuen Ergebnisse aus großen Therapiestudien, aber eine Reihe interessanter Neuigkeiten zum Beispiel über bessere Prognose-Scores für Erkrankungen wie die primäre Myelofibrose oder die systemische Mastozytose.
Schlüsselwörter: Myeloproliferative Neoplasien, Myelofibrose, Polycythaemia vera, essenzielle Thrombozythämie, systemische Mastozytose
Bei den myeloproliferativen Neoplasien (MPN) drehte sich lange Zeit alles um die chronische myeloische Leukämie (CML), die durch das Philadelphia-Chromosom (Ph) und die damit assoziierte BCR-ABL-Translokation eindeutig bestimmt ist. Ph-negative MPN waren zunächst nur klinisch und labormedizinisch zu charakterisieren, bis sich eher als Zufallsbefund Mutationen im Gen für die Janus-Kinase 2 (JAK2) und später weitere Veränderungen in den Genen für den Thrombopoetin-Rezeptor (MPL) und für Calreticulin (CALR) fanden, allerdings nur bei einem Teil der Patienten mit Myelofibrose, Polycythaemia vera und essenzieller Thrombozythämie – die übrigen Patienten wurden bisher als triple-negativ bezeichnet. Intensive Nachsuche brachte vor Kurzem in einer britischen Kohorte von über 2.000 Patienten mit Ph-negativen MPN mithilfe von Next Generation Sequencing (NGS) weitere genetische Veränderungen zutage [1]: Während knapp die Hälfte der Patienten lediglich eine der drei beschriebenen Treibermutationen aufwies, konnten bei anderen zum einen neue Mutationen im JAK2- und im MPL-Gen, zum anderen weitere Veränderungen in insgesamt 33 Genen identifiziert werden, die immer schon im Verdacht standen, etwas mit MPN zu tun zu haben. Eines der am häufigsten betroffenen Gene war dasjenige, das für die Proteinphosphatase 1D kodiert (PPM1D) und auch bei soliden Tumoren bereits aufgefallen war. Die britischen Kollegen konnten durch Integration der genomischen mit den klinischen Daten acht Subgruppen charakterisieren, die sich hinsichtlich des klinischen Phänotyps und der Prognose unterscheiden. Die Vorhersagegenauigkeit des auf der Basis dieser Veränderungen entwickelten Modells übertrifft bei Weitem das, was bisher aufgrund von klinischen und Laborparametern möglich war.
Beim ASH-Kongress stellte Juan Gonzalo Correa, Barcelona, nun eine kleine spanische Studie vor, die diese Befunde bestätigt [2]: Untersucht wurden 16 Patienten mit triple-negativer primärer Myelofibrose sowie 23 mit myelodysplastischen Syndromen (MDS) und Knochenmarkfibrose mit einem NGS-Panel, bei dem Gene im Fokus stehen, die bei myeloiden Erkrankungen verändert sein können. Es zeigte sich eine hohe Mutationsrate vor allem in den Genen TET2, U2AF1, SETBP1, TP53 oder RUNX1, die überdies bei den MDS-Patienten häufiger auftraten. Obwohl die Überlebenschancen in beiden Subgruppen nicht gut waren (median 1,6 Jahre bei triple-negativer Myelofibrose und 3,7 Jahre bei fibrotischem MDS), konnten die molekulargenetischen Befunde eine besonders ungünstige Population definieren: Patienten mit mindestens drei Mutationen in den untersuchten Genen überlebten median 1,6 Jahre, diejenigen mit weniger Veränderungen hingegen mit 8,3 Jahren fünfmal länger. Auch das Risiko einer Progression zur akuten myeloischen Leukämie (AML) war in letzterer Gruppe deutlich geringer (nach drei Jahren 16% vs. 45%; p = 0,039).
Vitamin-B1-Mangel kein Problem
Die einzige bisher zugelassene Therapie für Myelofibrose mit Splenomegalie oder konstitutionellen Symptomen ist der JAK1/2-Inhibitor Ruxolitinib. Er führt bei einem erheblichen Teil der Patienten zu einem klinischen Ansprechen, wobei sich allerdings bei manchen im Lauf der Zeit eine Resistenz entwickelt. Daher werden JAK-Inhibitoren der zweiten Generation entwickelt, die zum Teil spezifischer sind als Ruxolitinib: So hemmt Fedratinib lediglich die JAK2-Kinase und hat in der Phase-III-Studie JAKARTA bei Patienten mit primärer oder sekundärer Myelofibrose nach 24 Wochen ein Ansprechen der Splenomegalie bei rund der Hälfte der Patienten bewirkt. Der im Verlauf der Fedratinib-Studien aufgekommene Verdacht, dass JAK2-Inhibitoren zu einem Vitamin-B1-Mangel mit eventuell resultierender Wernicke-Enzephalopathie führen könnten, hatte die Entwicklung der Substanz unterbrochen [3], konnte aber mittlerweile weitgehend ausgeräumt werden. Kollegen an der Mayo Clinic in Rochester nahmen das zum Anlass, prospektiv die Thiamin-Konzentrationen in einer Kohorte von 115 Patienten unter die Lupe zu nehmen, die mit der Verdachtsdiagnose einer MPN aufgenommen wurden [4]:
Bei 87 von ihnen bestätigte sich dieser Verdacht auf eine MPN, und die Thiamin-Titer lagen bei allen bis auf zwei Patienten – einer mit und einer ohne MPN –im Normbereich. Sie zeigten auch keine Korrelation mit klinischen oder zytogenetischen Parametern oder dem jeweils vorliegenden Subtyp einer MPN. Die einzigen auffälligen Zusammenhänge betrafen das Vorliegen einer JAK2V617F-Mutation und einer Leukozytose (> 10 x 109/l): Patienten mit diesen beiden Merkmalen wiesen signifikant höhere mediane Thiamin-Konzentrationen (313 nmol/l) auf als solche ohne sie (JAK2-mutiert ohne Leukozytose 164 nmol/l; nicht mutiert mit oder ohne Leukozytose 192 bzw. 143 nmol/l); in allen Fällen lagen die Titer aber im Normbereich, der hier mit 70–180 nmol/l definiert war. Auch unter einer Therapie mit Hydroxyharnstoff oder JAK-Inhibitoren blieben die Medianwerte im Normalbereich; lediglich bei zwei Patienten, die im Rahmen einer Studie den JAK1/2-Inhibitor Momelotinib erhielten, war nach drei Jahren ein Absinken knapp unter den Normbereich zu sehen, das aber ein Jahr später wieder reversibel war.
Präzisere Prognosemodelle für Myelofibrose
Bisherige prognostische Modelle für Patienten mit primärer Myelofibrose orientieren sich vor allem an der Zielgröße Gesamtüberleben und benutzen Prognosewerkzeuge wie den MIPSS70 (mutationsverstärkter IPSS für Patienten im transplantationsfähigen Alter unter 70 Jahren), gegebenenfalls ergänzt um zytogenetische Daten (sog. MIPSS 70+; [5, 6]). Kollegen an der Mayo Clinic stellten mithilfe ihrer Datenbank von insgesamt 1.306 Patienten mit primärer Myelofibrose, die entweder in der Klinik diagnostiziert oder dorthin überwiesen worden waren, ein Prognosemodell für das Risiko einer leukämischen Transformation bzw. für leukämiefreies Überleben auf [7]. Für eine leukämische Transformation galten die Kriterien der neuen WHO-Klassifikation, die hierfür einen Anteil von mindestens 20% Blasten im peripheren Blut oder Knochenmark fordert[8].
Aus den multivariaten Analysen gingen klinische, zytogenetische und molekulargenetische Befunde in das Prognosemodell ein (Abb. 1): Am stärksten schlug eine Mutation im Gen für die Isocitrat-Dehydrogenase 1 (IDH1) zu Buche, gefolgt vom Blastenanteil im peripheren Blut, einer SRSF2-Mutation, dem Alter, einer ASXL1-Mutation und einer Anämie. In dem Modell, das auf den verfügbaren Daten von 456 Patienten basiert, lassen sich drei Risikogruppen hinsichtlich des leukämiefreien Überlebens deutlich voneinander trennen (Abb. 1). Das Transformationsrisiko nach fünf Jahren lag für die drei Gruppen bei 8%, 17% bzw. 57%; das Risiko war in der Gruppe mit intermediärem Risiko um den Faktor 4,1 und in der Hochrisikogruppe um beinahe das 40-Fache höher als in der Niedrigrisiko-Gruppe.


Klinische (Alter, Anämie, Blastenzahl) und genetische Faktoren sind also eindeutig mit dem Risiko für eine leukämische Transformation assoziiert – was sicherlich zu einem Großteil auch ihre Bedeutung für das Gesamtüberleben widerspiegelt.
Prognose nach Stammzelltransplantation
Ein ähnliches Risikomodell entwickelten deutsche und französische Transplanteure für Patienten mit Myelofibrose, die sich einer allogenen Stammzelltransplantation unterziehen [9]. Für eine Kohorte von 361 Patienten aus vier deutschen und französischen Zentren (260 mit primärer, 101 mit sekundärer Myelofibrose) fanden sie folgende acht Faktoren, die für das Gesamtüberleben ab dem Termin der Transplantation prognostisch waren, so Nico Gagelmann, Hamburg: Leukozyten > 25 x 109/l (Hazard Ratio 1,71), Thrombozyten < 150 x 109/l (HR 1,53), Karnofsky-Performancestatus < 90 (HR 1,63), Alter > 57 Jahre (HR 1,69), CMV-Serologie positiv beim Empfänger und negativ beim Spender (HR 1,68), ASXL1-Mutation (HR 1,74), JAK2- oder triple-negativ (HR 2,10) und ein schlecht gematchter, nicht verwandter Spender (HR 2,11). Wenn für die beiden letzten Parameter zwei und für die übrigen je ein Punkt vergeben wurde, ergab sich ein Risikoscore, der die Einteilung in vier Gruppen gestattete (0–2 Punkte: Niedrigrisiko, 3–4: intermediär, 5–6: hohes und 7–8: sehr hohes Risiko). Gegenüber der Niedrigrisiko-Gruppe war das Mortalitätsrisiko bei den drei anderen Gruppen um das 2,36-Fache, 4,65-Fache bzw. 9,72-Fache erhöht. Das galt für primäre ebenso wie für sekundäre Myelofibrose-Erkrankungen, für verschiedene Konditionierungs-Regimes und für mit Ruxolitinib vorbehandelte Patienten. Die Prognosestellung mit diesem MTSS (Myelofibrosis Transplantation Scoring System) war präziser als mit den herkömmlichen bei dieser Krankheit gebräuchlichen Scores, so Gagelmann, und sollte die therapeutischen Entscheidungen für eine Transplantation erleichtern.
Neue JAK-Inhibitoren dringend benötigt
Ruxolitinib ist bislang die einzige zugelassene JAK-Inhibitor-Therapie zur Behandlung der Myelofibrose mit Splenomegalie und Symptomen. Allerdings sprechen nicht alle Patienten darauf an, und auch von denen, dioe ansprechen, erleidet etwa die Hälfte im Lauf der Zeit ein Rezidiv. Eine italienische Studiengruppe analysierte die Daten einer Kohorte von 442 Myelofibrose-Patienten, von denen 214 eine Behandlung mit Ruxolitinib nach median 30 Monaten aus verschiedenen Gründen beendet hatten [10]. 98 von ihnen erhielten danach mindestens eine weitere Therapielinie, elf davon einen Zweitgenerations-JAK2-Inhibitor (Momelotinib, Fedratinib oder Pacritinib). Trotz dieser geringen Fallzahl, so Francesca Palandri, Bologna, war im Vergleich zu den übrigen, konventionellen Therapien (Hydroxyurea, allogene Stammzelltransplantation, Splenektomie, demethylierende Substanzen, Chemotherapie etc.) zumindest eine deutliche Tendenz zu einem besseren Überleben zu erkennen (Abb. 2).

Die Entwicklung und klinische Testung von neuen Medikamenten zur Behandlung myeloproliferativer Erkrankungen ist also ein dringendes Desideratum, so Palandri; entsprechende prospektive Studien laufen auch bereits für eine Reihe von Substanzen.
Systemische Mastozytose
Ebenfalls ein neuer Prognose-Score wurde für Patienten mit fortgeschrittener systemischer Mastozytose entwickelt – unter Verwendung der Daten von 210 Patienten aus dem deutschen Register [11]. Mohamad Jawhar, Mannheim, und Kollegen bezogen ebenfalls neben klinischen auch genetische Parameter ein, weil bekanntlich Mutationen vor allem in den Genen SRSF2, ASXL1 und RUNX1 den Phänotyp, die Prognose und das Ansprechen dieser Patienten auf eine Therapie, beispielsweise mit Midostaurin, negativ beeinflussen [12]. Der neu entwickelte Mannheim Prognostic Index (MPI) setzt auf die Variablen Alter (> 60 Jahre), Hämoglobin (< 10 g/dl), Thrombozyten (< 100 x 109/l) und Mutationen in den drei genannten Genen (1 vs. ≥ 2 Mutationen), und kann besser als die WHO-basierte Stratifizierung und ein lediglich auf den drei Mutationen beruhender Index bezüglich des Gesamtüberleben zwischen drei Risikogruppen differenzieren:
Die Hochrisikogruppe zeigte eine mediane Überlebensdauer von zwei Jahren, bei der Gruppe mit intermediärem Risiko waren es 3,9 Jahre, und in der Niedrigrisiko-Gruppe war der Medianwert auch nach zehn Jahren noch nicht erreicht. Besonders aussagekräftig ist der Index für die Kohorten mit systemischer Mastozytose und assoziierten hämatologischen Neoplasien (SM-AHN) sowie mit Mastzell-Leukämie (MCL) mit oder ohne AHN, die in dem untersuchten Kollektiv die Mehrzahl der Patienten ausmachten.
Kombinationstherapien gegen aggressive Mastzell-Erkrankungen?
Ebenfalls aus der Mannheimer Arbeitsgruppe berichtete Mathias Schneeweiss über In-vitro-Experimente zu Kombinationstherapien gegen die aggressive systemische Mastozytose und die Mastzell-Leukämie. Beide Unterformen sind selten, weisen meist die Mutation D816V im KIT-Gen auf und reagieren meist nicht auf die Therapie mit dem KIT-Inhibitor Midostaurin mit einer dauerhaften Remission – ebenso wenig wie auf alle anderen bisher getesteten Therapien. Die Cyclin-abhängigen Kinasen 4 und 6 (CDK4/6) spielen eine wichtige Rolle im Ablauf des Zellzyklus normaler ebenso wie neoplastischer Zellen, und drei Inhibitoren dieser Kinasen sind seit Kurzem zur Therapie des hormonsensitiven Mammakarzinoms zugelassen. In Zellkulturexperimenten behandelten die Mannheimer Kollegen daher primäre Knochenmarkzellen von Patienten mit KITD816V-positiver indolenter systemischer Mastozytose, fortgeschrittener SM-AHN und Mastzell-Leukämie mit den drei CDK4/6-Inhibitoren Palbociclib, Ribociclib und Abemaciclib und fanden einen Arrest des Zellzyklus in der G1-Phase [13]. Mit einer Kombination aus Midostaurin und Palbociclib wurde in einer aus einer Mastzell-Leukämie abstammenden Zelllinie eine synergistische Wirkung beider Prinzipien bei der Wachstumshemmung dieser Zellen gefunden. Ob dieses Vorgehen auch im Patienten Erfolg verspricht, muss nun in klinischen Studien erprobt werden.