Chronische lymphatische Leukämie: kommende Erstlinien-Standards
Annual Meeting of the American Society of Hematology (ASH) 2018, San Diego

In der Therapie der chronischen lymphatischen Leukämie (CLL) hat es in den letzten zehn Jahren mehr Veränderungen gegeben als zuvor in Jahrzehnten, und die Dynamik dieser Entwicklung nimmt weiter zu, wie zuletzt bei der Jahrestagung der American Society of Hematology (ASH) im Dezember 2018 zu erkennen war: Dort wurden mehrere Studien vor allem zur Erstlinientherapie präsentiert, die die Behandlung unserer Patienten in der Praxis erneut verändern werden.
Schlüsselwörter: chronische lymphatische Leukämie, CLL, Erstlinientherapie, Rezidivtherapie, CD20-Antikörper, BTK-Inhibition, Bcl2-Inhibition, CAR-T-Zellen
Erstlinientherapie
Die Einführung zielgerichteter Therapien mit Inhibitoren der Bruton-Tyrosinkinase (BTK), Phosphoinositol-3-Kinase (PI3K) und des anti-apoptotischen Proteins Bcl2 hat die Rezidiv- und mittlerweile auch die Erstlinientherapie der CLL in den vergangenen Jahren geradezu revolutioniert. Drei beim ASH-Kongress vorgestellte große Phase-III-Studien sind geeignet, den BTK-Inhibitor Ibrutinib fest in der Erstlinientherapie zu etablieren:
• Die Standard-Erstlinientherapie der CLL war bislang eine Chemoimmuntherapie – bei fitten, jüngeren Patienten mit Fludarabin, Cyclophosphamid und Rituximab (FCR), bei älteren die weniger aggressive Kombination aus Bendamustin und Rituximab (BR), und bei komorbiden Patienten wird der Zweitgenerations-CD20-Antikörper Obinutuzumab mit Chlorambucil gegeben. In der großen internationalen ALLIANCE-Studie wurde nun bei 547 älteren Patienten (≥ 65 Jahre) mit nicht vorbehandelter CLL das BR-Regime randomisiert gegen die Kombination aus Ibrutinib (420 mg/d bis zur Progression) und Rituximab sowie gegen Ibrutinib alleine getestet [1].
Beim primären Endpunkt des progressionsfreien Überlebens, so Jennifer Woyach, Columbus, in der Plenarsitzung des Kongresses, waren die beiden Arme ohne Chemotherapie dem BR-Arm signifikant überlegen, mit einer Hazard Ratio von 0,39 (Ibrutinib-Monotherapie; p < 0,001) bzw. 0,38 (Ibrutinib/Rituximab; p < 0,001; Abb. 1). Die Ergebnisse für die beiden experimentellen Arme waren praktisch identisch, sodass Ibrutinib sich als neuer Standard in der Erstlinientherapie bei diesen Patienten anbietet, während der CD20-Antikörper in dieser Indikation entbehrlich erscheint. Einschränkend muss allerdings gesagt werden, dass Patienten mit günstiger Prognose, beispielsweise mit mutiertem IGVH, nicht von den neuen Therapieoptionen zu profitieren schienen: Bei ihnen war BR bezüglich des progressionsfreien Überlebens genauso wirksam wie die Ibrutinib-haltigen Protokolle. Beim Gesamtüberleben ist nach median 38 Monaten Nachbeobachtungsdauer noch kein Unterschied zu erkennen. Die Daten wurden zeitgleich mit dem Vortrag beim Kongress auch voll publiziert [2].
Da die Toxizität von Ibrutinib nicht zu vernachlässigen ist (Vorhofflimmern und Hypertonus waren signifikant häufiger als unter BR), ist eine engmaschige Kontrolle bei diesen älteren Patienten unerlässlich, und es sollten Woyach zufolge Strategien entwickelt werden, mit denen sich die Therapiedauer begrenzen lässt. Das wird aber mit Ibrutinib als Monotherapie oder in Kombination mit Rituximab kaum gelingen, denn in diesen beiden Armen war in der ALLIANCE-Studie der Anteil der Patienten, bei denen keine minimale Resterkrankung (MRD) mehr nachweisbar war, deutlich geringer (1% bzw. 4%) als unter dem BR-Protokoll (8%).

Bei ähnlichem Design ein ähnliches Ergebnis zeigte die ebenfalls internationale iLLUMINATE-Studie, in der bei 229 älteren oder weniger fitten Patienten mit neu diagnostizierter CLL der bisherige Standard Obinutuzumab/Chlorambucil, der auf der CLL11-Studie der Deutschen CLL-Studiengruppe (DCLLSG) basiert [3], mit der Kombination aus Obinutuzumab und Ibrutinib verglichen wurde [4]. Auch hier war das Ibrutinib-Regime beim progressionsfreien Überleben mit einer 30-Monats-Rate von 79% gegenüber 31% im Kontrollarm deutlich und signifikant überlegen (HR 0,231; p < 0,0001). Auch nach Ausschluss der Patienten mit besonders hohem Risiko aufgrund einer Deletion 17p betrug die Risikoreduktion noch 74% (HR 0,260; p < 0,0001), während der Unterschied bei den Patienten mit Hochrisiko-Konstellation (unmutiertes IGVH, del(11q), del(17p) und/oder TP53-Mutation) noch stärker ausgeprägt war (HR 0,154; p < 0,0001), entsprechend einer Risikoreduktion um 85%. Auch bei der Gesamtansprechrate (91% vs. 81%), der Komplettremissionsrate (41% vs. 16%) und bei den Raten an MRD-Negativität (35% vs. 25%) war Obinutuzumab/Ibrutinib dem alten Standard überlegen. Noch kein Unterschied war beim Gesamtüberleben zu bemerken, wohl aber bei der Zeit bis zur nächsten CLL-Therapie, bei der das Risiko durch Ibrutinib um 94% reduziert werden konnte (HR 0,063; p < 0,0001); lediglich 4% der Patienten im experimentellen Arm benötigten während des Nachbeobachtungszeitraums eine Salvagetherapie, im Kontrollarm hingegen 44%.
Ein Schönheitsfehler dieser Studie ist das Fehlen eines Arms, in dem der BTK-Inhibitor als Monotherapie ohne den CD20-Antikörper gegeben wurde. Dass eine Monotherapie ebenfalls sehr wirksam ist, wurde im vergangenen Jahr mit den Langzeitergebnissen der Studie
RESONATE 2 gezeigt, in der Ibrutinib randomisiert mit einer Chlorambucil-Monotherapie verglichen worden war. Nach vier Jahren lag die progressionsfreie Überlebensrate unter Ibrutinib bei 74% [5], was gut zu der 30-Monatsrate von 79% unter Ibrutinib/Obinutuzumab in der iLLUMINATE-Studie passt.
• Wirklich überraschend waren dann die in der Late-Breaking-Abstracts-Sitzung am letzten Kongresstag von Tait Shanafeldt, Standford, vorgestellten Daten einer Phase-III-Studie der ECOG-ACRIN Cancer Research Group [6]: Hier wurden 529 unter 70-jährige, fitte Patienten mit nicht vorbehandelter CLL im Verhältnis 2 : 1 randomisiert, entweder eine Kombination aus Ibrutinib und Rituximab oder die relativ aggressive FCR-Chemoimmuntherapie zu erhalten, die vor etwa zehn Jahren mit der CLL8-Studie der DCLLSG etabliert worden war und zu Langzeitremissionen sowie zu einer Verlängerung des Gesamtüberlebens im Vergleich zur reinen FC-Chemotherapie führt [7]. Patienten mit del(17p) waren in der ECOG-Studie ausgeschlossen, weil sie in der CLL8-Studie auf FCR schlecht angesprochen hatten.
Die Nachbeobachtungsdauer ist mit 33,4 Monaten auch hier noch relativ kurz, dennoch war unter der Ibrutinib-Kombination nicht nur das progressionsfreie (HR 0,352; p < 0,0001; Abb. 2a), sondern sogar das Gesamtüberleben hochsignifikant verlängert (HR 0,168; p = 0,0005; Abb. 2b), d. h. das Mortalitätsrisiko war durch den Austausch der Chemotherapie gegen den BTK-Inhibitor um etwa 83% reduziert worden. In einer Subgruppenanalyse verlängerte Ibrutinib das progressionsfreie Überleben für nahezu alle untersuchten Subgruppen; lediglich für diejenigen mit mutiertem IGVH, also niedrigerem Risiko, fiel der Unterschied nicht ganz signifikant aus (HR 0,435; p 0,07).
Mit diesen drei Studien und insbesondere dem in der ECOG-ACRIN-Studie nachgewiesenen Überlebensvorteil werden sich Therapien auf Ibrutinib-Basis endgültig in der Erstlinienbehandlung der CLL etablieren – sofern die Patienten für eine Dauertherapie mit dieser Substanz geeignet sind. Offen bleibt bis auf Weiteres die Frage, ob es überhaupt eines Antikörpers als Kombinationspartner bedarf: Sie wurde nur in der ALLIANCE-Studie randomisiert untersucht, und die Ergebnisse sprechen auf den ersten Blick dafür, dass der Antikörper entbehrlich sein könnte. Andererseits erscheint eine aus Sicht sowohl der Patienten als auch der Kostenträger wünschenswerte zeitliche Begrenzung der Therapie mit Ibrutinib alleine nicht aussichtsreich, wenn man beispielsweise die MRD-Ergebnisse der ALLIANCE-Studie betrachtet. Hier erscheint die Kombination des BTK-Inhibitors mit dem Bcl2-Inhibitor Venetoclax vielversprechend, wie eine in San Diego präsentierte Phase-II-Studie hoffen lässt [8]: Unter diesem Regime hat kein einziger Patient bisher eine Progression seiner CLL erlebt, die Gesamtansprechrate nach einem Jahr liegt bei 100% (92% Komplettremissionen), und 68% der Patienten sind MRD-negativ, so Nitin Jain, Houston (Abb. 3).

Rezidivierte/refraktäre CLL
MURANO: VR langfristig wirksam
Im Rezidiv ist Venetoclax mittlerweile in Kombination mit Rituximab (VR) zugelassen – auf der Basis der Daten der Phase-III-Studie MURANO. In dieser Studie war erstmals in großem Maßstab das Konzept der zeitlichen Begrenzung der Therapie erprobt worden – mit Erfolg, was die Überlegenheit der VR-Kombination gegenüber BR beim progressionsfreien Überleben gezeigt hatte [9]. Nachdem alle Patienten die maximal zweijährige Therapie beendet haben, konnte John Seymour, Melbourne, in San Diego aktuelle Ergebnisse mit einer medianen Nachbeobachtungszeit von drei Jahren vorstellen [10]: Das Risiko für Progression oder Tod konnte um 84% reduziert werden (HR 0,16; p < 0,0001), die 3-Jahres-Rate für progressionsfreies Überleben liegt im experimentellen Arm mit 71,4% fast fünfmal so hoch wie im Kontrollarm mit 15,2%. Auch das Mortalitätsrisiko wurde durch den Bcl2-Inhibitor halbiert (HR 0,50; p = 0,0093; 3-Jahres-Überlebensraten 87,9% vs. 79,5%).
In den ersten zwölf Monaten nach Ende der zweijährigen Venetoclax-Behandlung erlitten 13% der Patienten aus dem experimentellen Arm ein Rezidiv; d. h. das Konzept der zeitlich limitierten Behandlung ist machbar und sicher. Eine Protokolländerung gestattet nun eine Reexposition dieser Patienten mit Venetoclax/Rituximab und ihre weitere Beobachtung. Insgesamt stützen diese Ergebnisse die Vorstellung, dass man zum einen auf eine Chemotherapie verzichten und zum anderen die Therapiedauer bei der CLL begrenzen kann.
BIG, BIO, BAG: Venetoclax/Obinutuzumab überlegen
Letzteres scheint mit Venetoclax besonders erfolgversprechend zu sein: Die von der DCLLSG bereits vor fünf Jahren ausgerufene „sequenzielle Triple-T“-Therapie, die auf eine maßgeschneiderte („Tailored“), zielgerichtete („Targeted“) und auf totale Eradikation („Total“) der Erkrankung gerichtete Behandlung setzt [11], beginnt Früchte zu tragen – zumal für Hochrisiko-Patienten, wie die Studiengruppe in einer gepoolten Analyse mehrerer Phase-II-Studien zeigen konnte [12]. In den BIG-, BIO- und BAG-Studien erhielten Patienten mit therapienaiver oder rezidivierter CLL bei hoher Tumorlast zunächst eine zytoreduktive Therapie mit zwei Zyklen Bendamustin (B); die eigentliche Behandlung bestand in der BIG-Studie aus einer Kombination von Ibrutinib (I) und Obinutuzumab (G für GA-101), in der BIO-Studie aus Ibrutinib und Ofatumumab und in der BAG-Studie aus Venetoclax (ABT-199) und Obinutuzumab. Die Therapien wurden über mindestens zwei Jahre bzw. bis zum Eintritt von MRD-Negativität gegeben. Von 189 Patienten, die in diese drei Studien eingeschlossen wurden, wiesen 51 eine Deletion 17p oder eine TP53-Mutation auf und stellten damit eine Hochrisiko-Kohorte dar, der sich die von Paula Cramer, Köln, in San Diego vorgestellte Analyse widmete:
Nach acht Monaten betrugen die Ansprechraten dieser Hochrisiko-Patienten unter den drei Kombinationen (IO, IG und AG) 81%, 100% und 94%, die Raten für MRD-Negativität (0%, 23%, 82%) wiesen einen klaren Vorteil für die Venetoclax-Kombination aus. Von 17 Patienten, die die Therapie wie vorgesehen im MRD-negativen Status beendeten, sind 13 (77%) nach median 16 Monaten immer noch in Remission. Zweck dieser Phase-II-Studien war, die effektivste Kombination aus neuen Substanzen auszuwählen, mit der in der Folge randomisierte Studien durchgeführt werden sollen. Venetoclax/Obinutuzumab scheint hier vorne zu liegen und könnte, wenn sich das in einer Phase-III-Studie bestätigen lässt, zum neuen, Chemotherapie-freien Standard einer zeitlich begrenzten Therapie der CLL werden.
CAR-T-Zellen
CLL-Patienten, die refraktär gegenüber sogar den hochwirksamen neuen Therapien sind, haben bislang wenig Möglichkeiten. Auch hier zeichnen sich aber neue Ansätze ab, insbesondere mit den gentherapeutisch veränderten T-Zellen mit chimärem Antigenrezeptor (CAR-T-Zellen): Dabei werden autologe T-Lymphozyten des Patienten mithilfe eines viralen Vektors mit einem Gen für einen Oberflächenrezeptor ausgestattet, der ein auf den jeweils zu bekämpfenden Tumorzellen exprimiertes Antigen erkennt. Das CD19-Antigen findet sich auf allen
B-Lymphozyten, und CAR-T-Zellen, die sich gegen CD19 richten, sind bereits zur Behandlung von Patienten mit rezidivierten oder refraktären Formen von akuter lymphatischer Leukämie oder aggressiven B-Zell-Lymphomen zugelassen. In der Phase-I/II-Studie TRANSCEND CLL 004, die Tanya Siddiqi, Duarte, in San Diego vorstellte, waren mit einem solchen genetischen Konstrukt bislang zehn Patienten mit hochgradig therapierefraktärer CLL behandelt worden, von denen sechs bereits Venetoclax und Ibrutinib erhalten hatten [13]. 30 Tage nach Verabreichung der Zellen hatten sechs von acht auswertbaren Patienten angesprochen (75%), davon vier (50%) mit einer kompletten Remission. Sechs von sieben für eine minimale Resterkrankung auswertbaren Patienten waren MRD-negativ (85,7%), darunter auch Hochrisiko-Patienten.
Um die Remissionsraten noch zu erhöhen, kombinierten Kollegen an der University of Pennsylvania in einer Pilotstudie CAR-T-Zellen mit Ibrutinib [14]. Von 18 Patienten, die mit Ibrutinib keine Komplettremission erreicht hatten, waren drei Monate nach Gabe der CAR-T-Zellen 17 in einer morphologischen Komplettremission; 15 waren mit der hochsensitiven 9-Farb-Durchflusszytometrie MRD-negativ, nach einem Jahr waren das sieben von zehn Patienten, die eine Komplettremission erzielt hatten.
Das Gebiet der CAR-T-Zellen befindet sich derzeit in rascher Expansion, sodass es schwierig ist, Entwicklungen vorherzusagen, zumal auch an anderen Technologien mit allogenen Zellen gearbeitet wird, die mutmaßlich zu einer Senkung der extrem hohen Kosten führen dürften.