Umgang mit Verdachtsfällen von Impfnebenwirkungen und -komplikationen

Aus der Klinischen Forschung

Impfungen sind eine wichtige Maßnahme der Primärprävention. Sie sind heute in allen entwickelten Ländern in ausreichender Menge verfügbar. Nachdem die Inzidenzraten für impfpräventable Krankheiten lange Zeit kontinuierlich gefallen sind, steigen sie für einige Infektionserkrankungen, z. B. für Masern, wieder an. In vielen hoch entwickelten Ländern macht sich ein regelrechter Trend zur Verzögerung oder Vermeidung von Impfungen trotz deren Verfügbarkeit bemerkbar. Die Gründe dafür sind vielfältig, ein wichtiger ist die Angst vor Impfkomplikationen. Der vorliegende Artikel möchte aufzeigen, wie das für die Überwachung der Impfstoffsicherheit in Deutschland zuständige Bundesinstitut, das Paul-Ehrlich-Institut, mit Verdachtsfällen von Impfnebenwirkungen/-komplikationen umgeht.
Schlüsselwörter:  Impfungen, Impfmüdigkeit, Impfnebenwirkungen, Impfkomplikationen, Kausalität

Im Januar 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Verzögerung oder Vermeidung von Impfungen trotz Verfügbarkeit („vaccine hesitancy“) zu einer von zehn globalen Gesundheitsbedrohungen erklärt1). Das ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass es durch niedrige Impfraten, und damit unzureichenden Impfschutz in der Bevölkerung, wie z. B. bei Masern, leicht zu Ausbrüchen bzw. Epidemien kommen kann, und Personen besonders gefährdet sind, die (noch) nicht geimpft werden können. Die Gründe für diesen Trend sind vielfältig; ein wichtiger ist die Angst vor Impfnebenwirkungen/-komplikationen. Um auf diese Bedenken einzugehen, zeigt der vorliegende Beitrag auf, wie das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) mit Verdachtsfällen von Impf­neben­wirkun­gen/-komplikationen umgeht.

Impfkomplikationen und Meldepflicht

Eine namentliche Meldepflicht für Ärzte und Heilpraktiker an das örtliche Gesundheitsamt besteht nach §6 Abs. 1, Nr. 3 Infektionsschutzgesetz (IfSG) dann, wenn nach einer Impfung auftretende Krankheitserscheinungen in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Impfung stehen könnten und über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „Verdachtsfällen von Impfkomplikationen“.
Nicht meldepflichtig wären damit kurzzeitig vorübergehende Lokal- und Allgemeinreaktionen, die als Ausdruck der Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff anzusehen sind [1], zum Beispiel:
für die Dauer von 1–3 Tagen (gelegentlich länger) anhaltende Rötung, Schwellung oder Schmerzhaftigkeit an der Injektionsstelle;
Fieber unter 39,5 °C (bei rektaler Messung), Kopf- und Gliederschmerzen, Mattigkeit, Unwohlsein, Übelkeit, Unruhe, Schwellung der regionären Lymphknoten oder im gleichen Sinne zu deutende Sym­ptome einer „Impfkrankheit“ (1–3 Wochen nach der Impfung), z. B. leichte Parotisschwellung oder ein Masern- bzw. Varizellen-ähnliches Exanthem oder kurzzeitige Arthralgien nach der Verabreichung von auf der Basis abgeschwächter Lebendviren hergestellten Impfstoffen gegen Mumps, Masern, Röteln oder Varizellen. Ärzte und Heilpraktiker können über ein Online-Portal auch direkt ans PEI melden.
Die Gesundheitsämter sind nach §11 Abs. 2 IfSG verpflichtet, die gemeldeten Verdachtsfälle unverzüglich der zuständigen Landesbehörde weiterzuleiten. Die zuständige Behörde meldet diese in pseudonymisierter Form dem PEI. Ärzte und Apotheker haben außerdem standesrechtliche Verpflichtungen zur Meldung des Verdachts einer Nebenwirkung an die jeweilige Arzneimittelkommission (Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, AKdÄ, bzw. Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker, AMK), was für alle Arzneimittel und selbstverständlich auch für Impfstoffe gilt. AKdÄ und AMK wiederum leiten die Verdachtsfallmeldungen an die jeweils zuständige Bundesoberbehörde (für Impfstoffe das PEI) weiter. Daneben haben Zulassungsinhaber nach §63c Arzneimittelgesetz (AMG) eine gesetzlich geregelte Meldeverpflichtung, wobei diese seit November 2017 Verdachtsfallmeldungen von Nebenwirkungen elektronisch an die Nebenwirkungsdatenbank der EU bei der Europäischen Arzneimittelagentur (European Medicines Agency, EMA) senden, zu der das PEI Zugang hat. Die Meldungen der Zulassungsinhaber aus Deutschland werden dem PEI von der EU-Datenbank elektronisch weitergeleitet. Seit 2012 können auch Bürger und Bürgerinnen über ein Internetportal3) Impfnebenwirkungen melden.
Die in Deutschland geltenden Verpflichtungen nach Standesrecht, IfSG und AMG, Verdachtsfälle von Impfkomplikationen zu melden, dienen der Überwachung der Impfstoffsicherheit. Dadurch können Sicherheitssignale zeitnah detektiert, weiter untersucht und ggf. risiko­minimierende Maßnahmen eingeleitet werden. Auch das Online-Meldesystem für Bürgerinnen und Bürger ist Teil des Früherkennungssystems im Bereich der Arzneimittelsicherheit.

Impfschäden

Unter einem Impfschaden versteht man nach §2 Nr. 11 IfSG die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung. Ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde. Die Entscheidung über die Anerkennung von Impfschäden liegt im Zuständigkeitsbereich der örtlichen Versorgungsämter, daher sind Impfschäden nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags.

Bewertung des Zusammenhangs zwischen Impfung und Impfnebenwirkungen

Der Zusammenhang zwischen Impfung und einzelnen Impfnebenwirkungen (syn. unerwünschte Arzneimittelwirkungen, UAW) wird von wissenschaftlichen Mitarbeitern im PEI nach der Klassifikation der WHO in der überarbeiteten Fassung von 2013 bewertet [2], die insbesondere wissenschaftliche Erkenntnisse in die Bewertung einbezieht.

Häufigkeit der gemeldeten Verdachtsfälle

Im Jahr 2017 erhielt das PEI insgesamt 4027 Einzelfallmeldungen über Verdachtsfälle von Impfnebenwirkungen/Impfkomplikationen, davon 27,6 % schwerwiegend [3]. Als „schwerwiegend“ gelten Verdachtsfallmeldungen mit lebensbedrohlichem oder tödlichem Ausgang sowie solche, die einen Krankenhausaufenthalt nach sich ziehen oder einen solchen verlängern bzw. zur Schädigung von Ungeborenen oder Behinderung führen. In 1.910 Verdachtsfällen handelte es sich um Erwachsene, in 1.951 um Kinder und Jugendliche und in 166 Verdachtsfällen lagen keine Informationen zum Alter vor. In 58,4 % der Verdachtsfälle waren die Patienten weiblichen und in 35,0 % männlichen Geschlechts, bei 6,6 % der Verdachtsfälle war das Geschlecht nicht bekannt. In Abb. 1 ist der Ausgang der Verdachtsfälle zum Zeitpunkt der Meldung dargestellt, auf Fälle mit bleibendem Schaden und tödlichem Ausgang wird unten detailliert eingegangen.

 

Die häufigsten gemeldeten unerwünschten Arzneimittelwirkungen

Die Zahl der UAW übersteigt die Anzahl der Verdachtsfallmeldungen, da ein Fallbericht mehrere UAW enthalten kann, z. B. ein(e) Patient(in) entwickelt nach einer Impfung Fieber und Übelkeit. Die Gesamtzahl der gemeldeten UAW belief sich im Jahr 2017 auf 11.844, wobei die häufigsten 40 mehr als die Hälfte aller UAW ausmachten; es dominierten Lokalreaktionen (UAW an der Einstichstelle), Fieber und Kopfschmerz (Abb. 2) [3].

Verdachtsfallmeldungen mit bleibendem Schaden

Bei 46 Verdachtsfällen (1,1 %) wurde ein bleibender Schaden gemeldet, 22 davon bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 2 Monaten bis 17 Jahren und 20 bei Erwachsenen im Alter von 18–58 Jahren. 4 Meldungen enthielten keine Angaben zum Alter, allerdings konnte man bei 3 dieser Verdachtsfälle den Fallbeschreibungen entnehmen, dass es sich um Kinder handelte.
3 Kinder im Alter zwischen 2 und 18 Monaten und 3 Kinder ohne genaue Altersangabe entwickelten jeweils einen sterilen Abszess mit Abheilung unter Narbenbildung, der auf die Wirkung von Aluminium in Kinderimpfstoffen zurückgeführt wird [4, 5].
Bei 2 Kindern, die beide 3 Monate alt waren, wurde 1–2 Wochen nach einer Rotavirusimpfung eine Darminvagination diagnostiziert, die eine operative Entfernung des Invaginats erforderlich machte. Invagination ist eine bekannte Nebenwirkung der Rotavirusimpfung, die zumeist innerhalb von 7 Tagen nach der ersten Impfung auftritt [6] und in der Fach- und Gebrauchsinformation beschrieben ist.
Bei 2 Kindern im Alter von 17 und 23 Monaten wurde nach einer Masern-Mumps-Röteln-Varizellen (MMRV)-Impfung sowie bei einem weiteren Kind im Alter von 4 Jahren nach einer Masern-Mumps-Röteln (MMR)-Impfung eine autistische Erkrankung diagnostiziert. Die wissenschaftliche Literatur beschreibt keinen Zusammenhang zwischen der Entwicklung von autistischen Krankheitsbildern und Impfungen [7].
Bei 3 Kindern im Alter von 14 und 29 Monaten sowie 4 Jahren und bei einem erwachsenen Mann im Alter von 40 Jahren wurde ein Diabetes mellitus (DM) Typ 1 im Zeitabstand von 5 Tagen bis zu 5 Monaten nach Impfung festgestellt. Die Kinder wurden mit einem Frühsommermeningoenzephalitis (FSME)-, MMR-Impfstoff bzw. Meningokokken-B-Impfstoff geimpft. Der 40-jährige Mann erhielt einen FSME-Impfstoff. In der Literatur gibt es keinen Hinweis für einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von DM Typ 1 und Impfungen [8–10].

Im Jahr 2017 wurden dem PEI 7 Fälle einer Narkolepsie bei 4 Kindern bzw. Jugendlichen im Alter zwischen 11 und 17 Jahren und bei 3 Erwachsenen im Alter von 18 bis 26 Jahren berichtet. 5 der 7 betroffenen Personen wurden mit dem pandemischen Grippeimpfstoff Pandemrix® geimpft. Über eine Assoziation zwischen Narkolepsie und Impfung mit Pandemrix® wurde in mehreren Studien [11–15] einschließlich der in Deutschland durchgeführten Fall-Kontroll-Studie [16] berichtet. Folglich wurde der Zusammenhang zwischen der Impfung mit Pandemrix® und Narkolepsie als „vereinbar mit einem kausalen Zusammenhang zur Impfung“ bewertet. In 2 weiteren Fällen wurden Sym­ptome der Narkolepsie nach einer Impfung mit einem Impfstoff gegen humane Papillomviren (HPV) festgestellt. Es liegen keine Hinweise aus der Literatur darauf vor, dass die HPV-Impfung mit Narkolepsie assoziiert sein könnte.
Bei 13 Personen im Alter von 17 bis 44 Jahren wurde im zeitlichen Zusammenhang mit unterschiedlichen Impfungen gegen HPV, Hepatitis B (HBV), Hepatitis A (HAV) sowie Tetanus eine multiple Sklerose (MS) diagnostiziert. Epidemiologische Studien weisen nicht auf einen Zusammenhang zwischen diesen Impfungen und dem Entstehen einer MS hin [17–20]. Das PEI sieht daher einen rein zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von MS und den oben genannten Impfstoffen.
Bei 3 Kindern im Alter von 5, 8 und 12 Jahren und einer heute erwachsenen Person wurden motorische Entwicklungsverzögerungen berichtet. Diese fallen zumeist im Säuglingsalter auf, d. h. in einem Lebensalter, in dem auch die meisten Kinderimpfungen verabreicht werden. Bei diesen Fällen geht das PEI von einem zeitlichen Zusammenhang aus.
Bei 4 Erwachsenen zwischen 26 und 58 Jahren und 3 Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahren wurden verschiedene Diagnosen und Krankheitsbilder nach Gabe unterschiedlicher Totimpfstoffe gemeldet: rheumatoide Arthritis, Lupus erythematodes, multifokale motorische Neuropathie, chronisches Fatigue-Syndrom, akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) sowie Polyarthritis bei bekannter Osteoarthose. Bei keiner dieser Meldungen konnte ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den verabreichten Impfstoffen und Erkrankung festgestellt werden.

Verdachtsfallmeldungen mit tödlichem Ausgang

Unter den Verdachtsfallmeldungen waren 18 (0,4 %) mit tödlichem Ausgang. Dabei handelte es sich um 12 Kinder im Alter von 2 Monaten bis 12 Jahren und ein Kind ohne genaue Altersangabe sowie 5 Erwachsene im Alter von 20–77 Jahren.
Acht Kinder starben am plötzlichen Kindstod (sudden infant death syndrome, SIDS), wobei in der Literatur bisher keine Assoziation zwischen SIDS und Kinderimpfstoffen berichtet wurde [21].
Ein 12 Monate altes ehemals frühgeborenes Mädchen mit postnataler Hirnblutung und einer chronischen Lungenerkrankung starb 2 Tage nach einer Varizella-Zoster-Virus (VZV)-Impfung infolge einer Pneumonie.
Ein 12 Monate alter Junge mit bekanntem Immundefekt verstarb an einer Pneumokokkeninfektion mit einem nicht im Impfstoff vorhandenen Serotyp (16F) 10 Monate nach einer Pneumokokkenimpfung.
Ein 3-jähriger Junge mit bekanntem Asthma verstarb 13 Tage nach DTaP-IPV-Hib (Diphtherie, Tetanus, Pertussis azellulär, Polio inaktiviert, Haemophilus influenzae Typ B)-Impfung in der respiratorischen Insuffizienz während eines Asthmaanfalls.
Ein 12-jähriges Mädchen ertrank 8 Tage nach einer HPV-Impfung wegen eines Krampfanfalls beim Schwimmen.
In einem Fall fehlten Informationen zum Alter der geimpften Person, dem Zeitpunkt der Immunisierung mit DTaP-IPV-HBV/Hib (Diphtherie, Tetanus, Pertussis azellulär, Polio inaktiviert, Hepatitis B, Haemophilus influenzae Typ B)-Impfstoff und einem 13-valenten Pneumokokkenimpfstoff sowie zum Zeitpunkt und den Umständen des Todes.
Des Weiteren verstarben 3 Erwachsene (59, 70 und 77 Jahre) mit bekannter koronarer Herzkrankheit durch Herz-Kreislauf-Versagen nach Impfung mit einem saisonalen Grippeimpfstoff.
Ein 20-jähriger Mann verstarb 3 Wochen nach einer HAV/HBV (Hepatitis A und B)-Impfung infolge einer viralen Sepsis.
Eine 59-jährige Person ohne Angabe zum Geschlecht verstarb mehr als 5 Jahre nach einer Impfung mit dem pandemischen Impfstoff Pandemrix® infolge eines Nierenkarzinoms.
Bei keinem Todesfall sieht das PEI einen Zusammenhang mit der Impfung.

Fazit für die Praxis

Verzögerung oder Vermeidung von Impfungen ist ein zunehmender Trend in vielen hoch entwickelten Ländern. Die Mehrzahl der dem Paul-Ehrlich-Institut  gemeldeten Impfnebenwirkungen sind blande und von vorübergehender Natur. Nur für wenige schwerwiegende Impfkomplikationen ist ein kausaler Zusammenhang mit einer Impfung belegt. Die Risiken impfpräventabler Erkrankungen übersteigen die Risiken der Impfungen, die vor diesen schützen, um ein Vielfaches.

Autoren
Dr. med. Dr. rer. biol. hum. Doris Oberle, M. Sc.
(korrespondierende Autorin)
Referat Pharmakovigilanz S1 Paul-Ehrlich-Institut
Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, Langen
Dr. med. Dirk Mentzer,
Dr. med. Brigitte Keller-Stanislawski
Paul-Ehrlich-Institut, Abteilung Sicherheit von Arzneimitteln und Medizinprodukten
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