Das intestinale Virom: Das große Unbekannte

Während das Mikrobiom „in aller Munde“ ist, fristet das Virom noch ein Schattendasein, obwohl die Gesamtzahl der Viren die der Bakterien im Körper um etwa das Zehnfache übertrifft. Mit der Entwicklung und gehäuften Anwendung der Metagenomik verstärken sich die Hinweise, dass Viren bei intestinalen Erkrankungen mehr als nur ein Wort mitreden.

Schlüsselwörter: Metagenomik, Bakteriophagen, fäkaler Mikrobiota-Transfer, fäkaler Filtrat-Transfer

In den vergangenen 15 Jahren sind die Publikationen zum Mikrobiom (Gesamtmenge aller Bakterien, Viren, Pilzen und Protozoen in einem Organismus) exponentiell angestiegen, während die entsprechenden Zahlen beim Virom um fast zwei Größenordnungen niedriger liegen (Abb. 1). 

Dieser Unterschied ist unter anderem in der technologischen Entwicklung begründet: 1989 wurde in der 16S rDNA von Bakterien ein Bereich großer Homologie zwischen allen Spezies beschrieben [1], der es erlaubte, mittels PCR nicht nur alle Bakterien zu erfassen, sondern über die Sequenzierung auch zu typisieren. Das Next Generation Sequencing ermöglichte, dieses 16S-rDNA-Amplifikat in einer großen Tiefe aufzuschlüsseln, wodurch nicht nur die vorherrschende Bakterienspezies, sondern auch minore Varianten (0,1−0,2 %) sichtbar gemacht werden konnten. So kann nun die Gesamtzahl aller in einer Probe vorhandenen Bakterienspezies charakterisiert werden, auch wenn noch eine weitere Standardisierung dieses Verfahrens, insbesondere der Extraktion, notwendig ist [2].
Leider gibt es wegen der Diversität der Viren keine über alle viralen Spezies homologen Sequenzen, weshalb hier der deutlich komplexere Ansatz der Metagenomik verfolgt werden muss: Alle in einer Probe vorhandenen Nukleinsäuren werden sequenziert, um nach Abscheidung der humanen Sequenzen über einen bioinformatisch unterstützten GenBank-Abgleich Virus- und virusähnliche Nukleinsäuren zu identifizieren. Allerdings lässt sich bei der Mehrheit der nachgewiesenen Sequenzen die Identität nicht klären, weswegen man diese auch als dark matter bezeichnet.
Während das Mikrobiom im engeren Sinn die Gesamtmenge aller Bakterienspezies einschließt, handelt es sich beim Virom um im menschlichen Genom verankerte Viren (endogene Retroviren quasi als „Fossilien“), um eukaryotische Zellen infizierende Viren, und um Viren, die Archaeen und Bakterien infizieren (Bakteriophagen = Phagom). Das Virom unterscheidet sich je nach Lokalisation [3]. In Nase, Haut, Mund, Vagina und Stuhl von insgesamt 102 gesunden Probanden konnten im Mittel 5,5 Virusfamilien nachgewiesen werden, wobei die Vielzahl an Papillom- und Polyomaviren überraschte [4]. Während die Bakterien die Zahl der menschlichen Zellen um den Faktor 10 übertreffen, ist es bei den Viren der Faktor 100 (Übersicht in [5] und [6]). Viren sind also häufig – aber ihre Rolle in Gesundheit oder Krankheit ist in vielen Fällen unklar. Angesichts der Tatsache, dass Bakteriophagen für Pathogenitätsfaktoren (z. B. Diphtherie-, Botulinus-, Cholera-, Shiga-like-, erythrogenes Toxin) kodieren, könnten nicht nur Verschiebungen des Mikrobioms, sondern auch des Viroms für Erkrankungen verantwortlich sein. So konnte bei entzündlichen Darmerkrankungen (v. a. M. Crohn) eine Reduktion der bakteriellen Diversität beobachtet werden, wohingegen die virale Diversität, insbesondere von Caudovirales, dsDNA-Bakteriophagen, zunahm [7].
Dass es sich nicht nur um eine Hypothese handelt, zeigen neue spannende Daten zum intestinalen Virom. Bei rekurrierender Clostridium-difficile-Enterokolitis hat sich bei Versagen der konventionellen medikamentösen Therapie der fäkale Mikrobiota-Transfer (FMT, „Stuhltransplantation“) in vielen Studien als wirkungsvolle Alternative herausgestellt, die nach der ersten bzw. zweiten Gabe bei 85–90 % bzw. 100 % der Patienten zum Sistieren der Durchfälle führt. Der Transfer lebender Bakterien ist allerdings bei immunsupprimierten Patienten nicht ohne Risiko, weshalb in einer kürzlich veröffentlichten Studie bei insgesamt fünf immunsupprimierten Patienten (HIV-Infektion, Nierentransplantation, Magen- bzw. Colon-Karzinom, Divertikulitis mit Sigma-Resektion) mit schwerer rezidivierender Clostridium- difficile-Enterokolitis ein modifi​ziertes Vorgehen ausgetestet wurde [8]. Nach Verflüssigung und grober Aufreinigung der jeweiligen Stuhlprobe wurde eine Hochdruckfiltration angeschlossen und so die vermehrungsfähigen Bakterien abgetrennt (Abb. 2). 

Dieses fäkale Filtrat wurde mittels nasojejunaler Sonde appliziert (FFT). Alle Patienten konnten einen Tag danach entlassen werden; bei allen sistierte die Diarrhöe nach ein bis vier Tagen. Im Beobachtungszeitraum konnte bis zu 33 Monate nach Applikation kein Rezidiv beobachtet werden.
Bei vier Patienten wurde das Mikrobiom im Spender und Empfänger (vor Gabe und eine bzw. sechs Wochen nach FFT-Applikation) untersucht. Bei den Empfängern zeigte sich vor FFT eine Mikrobiom-Verschiebung durch Vermehrung von Proteobacteria (insbesondere E. coli) und/oder Bacteroidetes (v. a. Prevotella). Nach FFT glich sich das Mikrobiom des Empfängers dem des Spenders an und die bakterielle Diversität nahm zu, was angesichts des fehlenden Transfers vermehrungsfähiger Bakterien nicht unbedingt zu erwarten war. Die das Mikrobiom des Empfängers modifizierenden Faktoren könnten somit nicht die Bakterien selbst, sondern bakterieller Debris, Proteine, antimikrobielle Faktoren, Metaboliten, Nukleinsäuren oder Bakteriophagen sein. Die Autoren schlossen mittels massenspektroskopischer Untersuchungen allerdings Unterschiede im Proteom aus [8]. Dagegen fanden sie bei einem Patienten im longitudinalen Verlauf Verschiebungen im Phagom, bei denen sich die Lactococcus-Phagen-Spezies im Empfänger nach FFT an die des Spenders anglichen. Veränderungen im Virom könnten also Veränderungen im Mikrobiom nach sich ziehen, auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass sowohl Mikrobiom- als auch Virom-Veränderungen sekundärer Natur sind.
Diese Daten werden durch Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen gestützt, die zeigen, dass der Erfolg einer FMT mit dem Phagentransfer vom Spender auf den Empfänger korreliert [9–10]. Mit der weiteren Verbreitung der Metagenomik wird sich zeigen, ob sich im Virom (wie im Mikrobiom) „gute“ und „schlechte“ Spezies voneinander differenzieren lassen. Sollte sich den Viren bei verschiedenen Erkrankungen eine ursächliche, über die bloße Assoziation hinausgehende Rolle zuschreiben lassen, könnte das Virom einen ähnlichen publikatorischen Aufschwung erleben wie das Mikrobiom.   

 

Das Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag finden Sie auf der Trillium-Webseite.

Autor
Prof. Dr. Barbara Schmidt
Institut für Mikrobiologie und Hygiene
Universität Regensburg
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