Omics für das Routinelabor

Multiparametrische Urinanalytik

Neue Analysetechniken erschließen der Urindiagnostik die Welt der „Omics", insbesondere der Metabolomics und Proteomics. Erste Forschungsergebnisse zu multivariaten Profilen klingen Erfolg versprechend, doch bis zur Einführung in die Routinediagnostik renaler und extrarenaler Erkrankungen sind noch viele präanalytische, analytische und bioinformatische Herausforderungen zu meistern.

Schlüsselwörter: Urinanalytik, Metabolomics, Proteomics, Massenspektrometrie

Die Urinuntersuchung ist das vermutlich älteste labordiagnostische Verfahren; sie wurde schon in der Antike im Rahmen der Harnschau zur Diagnosefindung genutzt. So konnte durch organoleptische Prüfung der Harnprobe und Beschreibung eines „honigsüßen Durchflusses" bereits sehr früh ein Diabetes mellitus charakterisiert werden. Auch andere Stoffwechselerkrankungen wie beispielsweise die Phenyl­ketonurie weisen schon durch die Namensgebung auf die besondere diagnostische Bedeutung der Urinanalytik hin.

 

Klassische Metabolit-Analytik

Der größte Vorteil von Urin als Untersuchungsmaterial ist seine nicht-invasive Gewinnung. Insbesondere Stoffwechselprodukte, die über die Nieren aus­geschieden werden, liegen oftmals in hoher Konzentration vor und haben deshalb ihren festen Platz in der Routinediagnostik gefunden (Tab. 1). Im Vordergrund stehen massenspektrometrische Verfahren nach Vorreinigung mittels HPLC oder Gaschromatografie. Als störend erweist sich hierbei der im Vergleich zu Serum oder Plasma extrem hohe Salzgehalt; dafür liegen Proteine, die die massenspektrome­trische Bestimmung beeinflussen könnten, in sehr geringen Konzentrationen vor. Da der Verdünnungsgrad der Analyte mit der Trinkmenge, Nierenfunktion und anderen Einflussgrößen stark schwankt, bezieht man die Ergebnisse in der Regel nicht auf das Urinvolumen, sondern auf einen möglichst konstant ausgeschiedenen Metaboliten wie etwa den Kreatiningehalt.

Metabolit

Indikation

Methodik

5-Hydroxy-indolessigsäure

Karzinoid Syndrom

LC-MS

Aminosäuren1

Diverse Stoffwechseldefekte

LC-MS

Aminolävulinsäure

akute hepat. Porphyrien, Bleivergiftung

LC-MS

Karnitin

Diverse Stoffwechseldefekte

LC-MS

Hippursäure

Toxikologie (Toluolbelastung)

LC-MS

Katecholamine1

Metanephrine1

Arterielle Hypertonie,

Phäochromo­zytom, Neuroblastome

LC-MS

Methylmalonsäure

Methylmalonsäure

LC-MS

Nukleinsäuren1

Störung des Nukleotid-Metabolismus

LC-MS

Steroide1

Diverse Endokrinopathien

LC-MS

Acylglycin

Angeborene Stoffwechselstörung

GC-MS

Galaktitol

Galaktosämie

GC-MS

Organische Säuren1

Angeborene Stoffwechselstörungen

GC-MS

Pipecolinsäure

Peroxisomaler Defekt

GC-MS

D-Laktat

Kurzdarmsyndrom

enzymatisch

Harnstoff

Nierenfunktion

enzymatisch

Harnsäure

Gicht-Nephropathie

enzymatisch

Kreatinin

Nierenfunktion

enzymatisch

Histamin

Mastozytose, Allergische Diathese

RIA

Tab. 1: Routinemäßig eingesetzte Biomarker im Urin (Internet-basierte Abfrage der Leistungsverzeichnisse großer Einsendelaboratorien, modifiziert nach [1]).

1 Biomarker-Panel mit bis zu 30 Analyten. LC-MS = liquid chromatography/mass spectrometry, GC-MS = gas chromatography/mass spectrometry, RIA = Radioimmunoassay.

 

Urin-Metabolom und -Proteom

Wie die nebenstehende Tabelle zeigt, werden Biomarker im Urin bislang einzeln oder in Panels von weniger als 30 Analyten bestimmt. Die Auswahl erfolgt dabei stets indikationsbezogen, also beispielsweise zur Erkennung eines adrenogenitalen Syndroms oder eines Morbus Cushing bei Verdacht auf eine Endokrinopathie.

Diesen validierten Biomarkern stehen Tausende weitere Substanzen gegenüber, die in den letzten Jahren in Urinproben identifiziert werden konnten. Ihre Gesamtheit bezeichnet man als Urin-Metabolom bzw. -Proteom. So weist die Datenbank www.hmdb.ca derzeit deutlich über 4.000 chemische Verbindungen auf (Stand November 2017). Diese Fülle an Inhaltsstoffen ist bislang noch nicht diagnostisch nutzbar, doch mit der Entwicklung hochauflösender Messverfahren, insbesondere der Massenspektrometrie (MS) und der kernmagnetischen Resonanz-Spektroskopie (NMR), rückt die Möglichkeit in greifbare Nähe, Hunderte von (in der Regel niedermolekularen) Analyten simultan in einem geringen Probenvolumen zu quantifizieren.

 

Diagnostische Profile

Bei dieser Art der Analytik untersucht man indikationsunabhängig immer die maximale Anzahl von Substanzen und filtert mit statistischen Verfahren diejenigen molekularen Profile heraus, die bei bestimmten Grunderkrankungen gehäuft vorkommen. Nach Aufbau einer Datenbank können die krankheitsasso­ziierten Profilvariationen dann wie Fingerabdrücke genutzt werden, um diagnostische Aussagen zu treffen. In den letzten Jahren wurden zunehmend praktische Anwendungsmöglichkeiten für dieses „metabolomic und peptidomic profiling" in Urinproben beschrieben, von denen hier einige skizziert werden sollen.

Naheliegend ist der Einsatz bei Erkrankungen des Urogenitaltrakts, da hier besonders hohe Konzentrationen an charakteristischen Biomarkern zu erwarten sind. In der Tat können Nieren-, Harnblasen- und Prostatakarzinome durch Profiling klassifiziert werden, und auch nicht-maligne Erkrankungen wie etwa eine drohende Abstoßungsreaktion nach Nierentransplantation sind damit nicht-invasiv und sicher zu erkennen[2]. Systemerkrankungen, die sekundär eine Nephropathie induzieren, führen ebenfalls zu molekularen Profilen, die beispielsweise bei diabetischen Pa­tienten für eine differenzierte Stadieneinteilung sowie zur Effektivitätsbeurteilung von therapeutischen Maßnahmen genutzt werden können[3]. Ein weiteres Beispiel sind Speicherkrankheiten, die die Niere schädigen, wie etwa der M. Fabry oder die renale Amyloidose bei multiplem Myelom[4].

Schließlich können auch extraurogenitale Erkrankungen zu charakteristischen Veränderungen der Omics-Profile im Urin führen, wenn sie die Zusammensetzung der ausgeschiedenen Molekülklassen beeinflussen. Exemplarisch seien Intoxikationen, Lungen-, Leber- und Mammakarzinome sowie chronisch entzündliche und neurodegenerative Erkrankungen genannt[5, 6]. Sogar Virusinfektionen, beispielsweise mit HCV oder RSV, hinterlassen charakteristische Spuren in den jeweiligen Urinprofilen[7].

 

Von der Forschung zur Routine

Angesichts so vieler positiver Meldungen erhebt sich natürlich die Frage, warum Omics-basierte Urinprofile nicht längst Einzug in die Routinediagnostik gehalten haben. Fast allen Studien ist gemeinsam, dass es sich um retrospektive Untersuchungen an relativ kleinen, gut charakterisierten Patientenkollektiven handelt. Was fehlt, ist die prospektive, multizen­trische Validierung der Ergebnisse, um die Robustheit und Routinetauglichkeit der multiparametrischen Analytik beurteilen zu können. Außerhalb der gut kontrollierbaren Studienbedingungen werden die Messungen erwartungsgemäß sehr viel stärker von methodischen und physiologischen Faktoren beeinflusst (Abb. 1). So sind Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft, Ernährungsgewohnheiten und körperliche Aktivität in ihrer Auswirkung auf Omics-Profile bisher nur ansatzweise sys­tematisch untersucht worden[4, 8]. Ferner variieren Urinproben in Abhängigkeit von Sammelbedingungen und Ernährung ganz erheblich in Bezug auf pH, Salz­gehalt und Biomarkerkonzentration, was sich auf die Stabilität von zahlreichen Metaboliten und Peptiden auswirken kann. Es konnte allerdings gezeigt werden, dass sich NMR-basierte Metabolitprofile durch Kühlung bei 10 °C sehr gut für bis zu 24 h stabilisieren lassen[9]. Schließlich hat auch die verwendete Geräteplattform (GC-MS, LC-MS, NMR) großen Einfluss auf die Zusammensetzung der gefundenen Omics-Profile; aufgrund fehlender Standardisierung sind die Ergebnisse der verschiedenen Studien oft kaum vergleichbar.

 

Ausblick

Die multiparametrischen Klassifikationsergebnisse der bislang publizierten Studien klingen oft vielversprechend, doch wie bei allen neuen Techniken ist Vorsicht geboten. Von den ersten erfolgreichen Machbarkeitsstudien bis zur Einführung in die Routinediagnostik liegt noch ein langer, steiniger Weg vor uns. Neben den bereits angesprochenen prospektiven Validierungen, der Methodenstandardisierung und der Erfassung präanalytischer Störfaktoren sind insbesondere auch bio­informatische Herausforderungen zu meis­tern – von umfangreichen Datenbanken zur Erfassung der Profilvariationen bis zu robusten Auswertealgorithmen, die aus dem statistischen Rauschen die diagnostisch wertvollen Daten herausfiltern[10].

Am Ende dieser Entwicklung erhoffen wir uns eine multiparametrische Analytik, die indikations- und hypothesenfrei eine Momentaufnahme des aktuellen Krankheitszustandes liefert und aufgrund der nichtinvasiven Probengewinnung auch wiederholte Messungen über längere Zeiträume ermöglicht.


Prof. Dr. med. Peter Findeisen

MVZ Labor Dr. Limbach & Kollegen GbR