Ein Plädoyer für individualisierte Belastungsanalysen und Genehmigungsverfahren

Zucht und Haltung immundefizienter Mauslinien unter SPF-Bedingungen

DOI: https://doi.org/10.47184/ti.2020.04.05

Zucht und Haltung immundefizienter Mäuse müssen gegenwärtig in Europa als Tierversuch beantragt werden. Das zugrunde liegende Gesetz basiert auf der Annahme, dass Immundefizienz per se zur Beeinträchtigung des Tierwohls führt, auch wenn die Mäuse frei von Infektionen gehalten werden. Allein die Annahme einer Infektionsanfälligkeit bei potentiellen Hygieneeinbrüchen ist ausschlaggebend für die Genehmigungspflicht. Aktuelle Daten zeigen nun, dass es für zwei schwer immundefiziente Mauslinien keine messbaren Hinweise für Belastungen unter SPF-Bedingungen gibt. Im vorliegenden Artikel beleuchten wir diese neuen Erkenntnisse aus immunologischer Sicht und diskutieren mögliche Konsequenzen für die Belastungsbeurteilung und Genehmigungsverfahren der Zucht und Haltung immundefizienter Mäuse.

Schlüsselwörter: Immundefizienz, Belastungsanalyse, Tierexperiment, 3R, Infektionsrisiko

Die Zellen des Immunsystems zeichnen sich durch ein großes Maß an Mobilität aus. Dies ermöglicht es ihnen, nahezu jeden Ort im Körper zu erreichen, um dort Pathogene zu bekämpfen. Erfolgreiche Immunantworten beruhen auf dem komplexen Zusammenspiel zahlreicher Immunzelltypen an unterschiedlichen Orten im Körper. Die Initiation adaptiver Immunantworten setzt z. B. die Einwanderung peripherer dendritischer Zellen in sekundäre lymphatische Organe (SLO) voraus, wo es zur Aktivierung Pathogen-spezifischer naiver T-Zellen kommt. Nach ihrer Aktivierung verlassen sie als Effektor-T-Zellen das SLO, um am Infektionsort das jeweilige Pathogen zu bekämpfen. Allein diese äußerst oberflächliche Beschreibung einer adaptiven Immunantwort macht deutlich, dass das Studium des Immunsystems immer auch die sich zeitlich und räumlich verändernden multizellulären Interaktionen berücksichtigen muss, die zum Erfolg einer Immunantwort beitragen. Während modernste Zellkulturtechniken und Computersimulationen durchaus dazu geeignet sein können, zeitlich und räumlich isolierte Aspekte biologischer Prozesse in vitro nachzuahmen, so gilt dies bisher noch nicht für das Studium von Immunantworten. Demnach können Immunologen auf absehbare Zeit nicht ganz auf Tiermodelle verzichten. Vor allem in der präklinischen Forschung spielen Tierversuche eine zentrale Rolle. So wurden beispielsweise moderne RNA-Vakzinierungsstrategien, die aktuell bei der SARS-CoV-2- Impfung Anwendung finden, in Mäusen entwickelt [1]. In der immunologischen Forschung wird häufig mit genetisch veränderten Mäusen gearbeitet, die unter spezifisch Pathogen-freien (SPF) Bedingungen [2] gehalten werden. Gegenwärtig wird allerdings kontrovers diskutiert, inwieweit solche Mäuse in SPF-Haltungen eine Belastung erfahren. Ausgangspunkt der Kontroverse ist die 2010 verabschiedete EU-Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (2010/63/EU). Sie legt fest, dass die Zucht transgener Tiere genehmigungspflichtig ist, wenn die genetische Veränderung Schmerzen, Leiden, Ängste oder Schäden verursacht. Die mit der Auslegung dieser Richtlinie beauftragte Arbeitsgruppe legte 2013 fest, dass allein das Risiko, Schmerzen, Ängste oder Schäden zu erleiden, als genehmigungspflichtige Belastung einzustufen sei. Basierend auf dieser Definition wurden Zucht und Haltung von Tieren mit „geschwächtem Immunsystem“ aufgrund einer vermeintlichen Infektionsgefahr genehmigungspflichtig. Dies gilt unabhängig davon, ob diese Tiere in Abwesenheit definierter infektiöser Erreger unter SPF-Bedingungen gehalten werden. In der Richtlinie heißt es: "Genetisch veränderte Linien, bei denen das Risiko der Entwicklung eines schädlichen Phänotyps (z. B. eine Tumor­erkrankung mit fortschreitendem Alter; Infektionsgefahr aufgrund eines geschwächten Immunsystems) unabhängig von dem angewandten Refinement (z. B. Barrierebedingungen, Keulung im frühen Alter, bevor der Tumor entsteht) bestehen bleibt, bedürfen gemäß Artikel 1 Absatz 2 ihrer Züchtung einer Projektgenehmigung, da die Anwendung des Refinements das Risiko nicht beseitigt“ [3]. Diese Argumentation ist in mehrfacher Hinsicht problematisch, was in den folgenden Abschnitten dargelegt wird.

SPF-Zuchten sind keine Refinementmaßnahmen, sondern gute wissenschaftliche Praxis

Bei der Gleichsetzung von SPF-Barrierehaltungen mit „Refinementmaßnahmen“ im Sinne des 3R-Konzepts [4] handelt es sich aus immunologischer Sicht um eine Fehleinschätzung. Vielmehr sind die standardisierte Zucht und Haltung von Mäusen unter SPF-Bedingungen eine „conditio sine qua non“. Wie bei allen naturwissenschaftlichen Experimenten gilt es auch bei Tierexperimenten, die experimentellen Bedingungen konstant zu halten, um reproduzierbare Ergebnisse erzielen zu können. Um z. B. den Einfluss eines Gens auf den Verlauf einer Immun­antwort bestimmen zu können, müssen Geschwistertiere mit bzw. ohne Gendefekt verglichen werden. Definierte Haltungsbedingungen sind hierbei von entscheidender Bedeutung für die Interpretier- und Reproduzierbarkeit der Experimente, da sie einen erheblichen Einfluss auf die Funktionsweise des Immunsystem haben. Nur so lassen sich Umwelteinflüsse (z. B. Infektionen) als Ursache für Unterschiede zwischen den verglichenen Mauslinien ausschließen und der Einfluss des Gendefekts definieren. Damit hilft die SPF-Haltung, die Reproduzierbarkeit von Experimenten zu gewährleisten, wodurch die statistische Signifikanz eines Experiments mit weniger Tieren erzielt werden kann. Dies ist im Sinne des Tierwohls und nach dem 3R-Prinzip (formuliert von William Russell und Rex Burch [4], erstellt  unter der wissenschaftlichen Anleitung des Immunologen Sir Peter Medawar [5]) eine Reduktion, stellt aber für das Individuum im Experiment kein Refinement im klassischen Sinne dar. Vielmehr handelt es sich bei der SPF-Haltung um einen wichtigen Beitrag zur guten wissenschaftlichen Praxis.

Was ist ein geschwächtes Immunsystem? Können wir Infektionsresistenz voraus­sagen?

An der Auslegung der EU-Richtlinie ist vor allem auch die Definition eines geschwächten Immunsystems („a compromised immune system“) problematisch. Es wird davon ausgegangen, dass Veränderungen immunologisch relevanter Gene automatisch mit einem erhöhten Infektionsrisiko einhergehen. Dabei wird vernachlässigt, dass sowohl positive als auch negative Rückkopplungsmechanismen miteinander vernetzt sein müssen, um eine effiziente Immunantwort zu ermöglichen. Diese komplexen regulatorischen Netzwerke helfen dabei, eine Immunantwort so zu steuern, dass Pathogene eliminiert werden können, ohne dass dies zu Gewebsschäden führt. Daraus ergibt sich, dass es mindestens zwei Klassen von immunologisch relevanten Genen geben muss, nämlich solche, die Immunantworten fördern, und solche, die überschießende Immunantworten verhindern. In welche der beiden Kategorien ein neu identifiziertes Gen fällt, ist vorab nicht absehbar. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Infektanfälligkeit der entsprechenden Gen-defizienten Maus erhöht sein muss. Genauso könnte sie verringert oder auch unverändert sein. Des Weiteren gilt es zu bedenken, dass Immunantworten in unterschiedlichen Ausprägungen ablaufen können. Beispielsweise versterben immunkompetente BALB/c-Mäuse an einer Infektion mit bestimmten Leishmania-Stämmen, da sie keine schützende TH1-Antwort entwickeln können. Im Gegensatz dazu entwickeln immunkompetente C57BL/6-Mäuse sehr effiziente TH1-Antworten und sind somit vor diesen Krankheitserregern geschützt [6]. Dies macht deutlich, dass selbst bei genetisch völlig unveränderten, voll immunkompetenten Tieren sowohl der genetische Hintergrund als auch der Erregertyp darüber entscheiden, ob eine produktive Immun­antwort entstehen kann oder nicht.
Wie wir am Beispiel der aktuellen SARS-CoV-2-Pandemie sehr gut beobachten können, gibt es auch beim Menschen große Unterschiede hinsichtlich der Immunantworten gegen einen bestimmten Krankheitserreger. Hier sind von asymptomatischen über milde bis zu schweren Verläufen die unterschiedlichsten Krankheitsbilder beschrieben. Wohlgemerkt handelt es sich hierbei in den allermeisten Fällen um immunkompetente Personen, die sich aber hinsichtlich ihrer Genetik und Lebensumstände unterscheiden. Diese Beispiele sollen verdeutlichen, dass selbst für genetisch nicht manipulierte Individuen der Grad ihrer Immunkompetenz gegenüber einem bestimmten Erreger nicht vorhersehbar ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies für die Definition eines geschwächten Immunsystems laut EU-Richtlinie, dass nicht vorhergesagt werden kann, ob und unter welchen Bedingungen eine genetisch veränderte Mauslinie resistent gegenüber einer Infektion ist oder erkrankt und eine Belastung erfährt.

Zucht und Haltung immundefizienter Mauslininen – ein Plädoyer für die individualisierte Genehmigungspflicht

Im Jahre 2013 wurde bereits das Risiko, Schmerzen, Ängste oder Schäden zu erleiden, als genehmigungspflichtige Belastung eingestuft. Wie oben erwähnt können Schäden für immundefiziente Mäuse nicht ausgeschlossen werden, wenn der jeweilige Gendefekt effiziente Immunantworten gegen bestimmte Krankheitserreger verhindert. Aufgrund der hohen Hygienestandards moderner SPF-Barrieren ist jedoch das Risiko einer ungewollten Infektion extrem gering. Gemessen an diesem sehr geringen Risiko ist es schwer nachvollziehbar, weshalb eine allgemeine Genehmigungspflicht für die Haltung und Zucht immundefizienter Mauslinien festgelegt wurde.
Von einigen wenigen genetisch veränderten Mauslinien ist bekannt, dass sie bereits ohne Behandlung Autoimmunität entwickeln. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das inaktivierte Gen z. B. überschießende Immunantworten verhindert [7]. Für die übergroße Mehrzahl der unter SPF-Bedingungen gehaltenen immundefizienten Mäuse gibt es bisher aber keinerlei Hinweise auf Belastungen. So zeigt beispielsweise der Vergleich diverser Zytokin- bzw. Immunzell-defizienter Mäuse mit genetisch unveränderten Kontrolltieren zwar minimale Veränderungen in der Darmflora, diese haben aber keinen messbaren Einfluss auf die Produktion pro- und anti-inflammatorischer Zytokine [8, 9]. Außerdem konnten wir kürzlich zeigen, dass selbst schwer immundefiziente Mäuse unter SPF-Bedingungen keinerlei Belastungen zeigen [10]. Es bleibt festzuhalten, dass die Belastungen unbehandelter immundefizienter Mauslinien unter modernen Haltungsbedingungen zwar variieren können, in den wenigsten Fällen jedoch messbare Belastungen nachweisbar sind. Es erscheint daher nicht mehr zeitgemäß, an der pauschalen Belastungsdefinition und der Genehmigungspflicht für immundefiziente Mauslinien festzuhalten. Vielmehr schlagen wir individualisierte, linienspezifische Belastungsbeurteilungen [11] und Genehmigungsverfahren vor, wie sie auch bei anderen genetisch veränderten Mauslinien Anwendung finden.

Fazit

Das Wohlergehen der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere ist sowohl ethisch geboten, als auch wissenschaftlich notwendig. Bei genetisch veränderten Mäusen mit Immundefizienz wird in der EU gegenwärtig pauschal eine Belastung auf Grund eines theoretisch erhöhten Infektionsrisikos definiert. In modernen Tierhaltungseinrichtungen (SPF-Haltung) besteht für immundefiziente Mäuse ein verschwindend geringes Risiko, mit bestimmten Pathogenen in Kontakt kommen. Außerdem legen aktuelle Daten nahe, dass selbst schwere Immundefizienzen unter SPF-Bedingungen keine messbaren Auswirkungen auf das Tierwohl haben. Es erscheint daher angemessen, für immundefiziente Mauslinien individualisierte, linienspezifische Belastungsbeurteilungen [11] und Genehmigungsverfahren einzuführen, wie dies auch bei anderen genetisch veränderten Mauslinien bereits üblich ist.

Autoren
Dr. rer. nat Thomas Kammertoens
Institut für Immunologie
Charité Campus Berlin Buch
Prof. Dr. rer. nat. Thomas Schüler
Institut für Molekulare und Klinische Immunologie, Medizinische Fakultät, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
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