Epigenetik – offene Fragen und Projekte

Die Sequenzierung des menschlichen Genoms hat sich als ein wichtiges Hilfsmittel für die molekulargenetische Grundlagenforschung erwiesen, vor allem wenn damit genuin biologische Fragen bearbeitet werden. Allerdings liefert die Sequenz allein nur ein fragmentarisches Vokabular der Genetik, denn es fehlen die dazugehörigen Kenntnisse ihrer Grammatik, Syntax und genetischen Funktionen. Oft unterschätzen wir die Komplexitäten der Biologie, und gehen darüber mit forschen Sprüchen wie „from bench to bedside“ hinweg. Die Bezeichnung Epigenetik für sich bleibt eine Worthülse, die erst durch kritische Analysen spezifischer Regelfunktionen im Genom sinnvoll gemacht werden muss: Viele der molekularen Mechanismen in Biologie und Medizin sind unbekannt, beginnend mit der Konzeption, über die fetale Entwicklung bis zum höchst individualisierten Leben und den zahlreichen Krankheiten. Es stellt sich die Frage, wie und wann Umweltfaktoren unser Genom direkt oder indirekt beeinflussen, z. B. über spezifische Änderungen von DNA-Methylierungsprofilen. In diesem Beitrag habe ich persönliche Präferenzen und „off-Broadway“-Projekte zu spezifischen Fragestellungen in den Fokus gestellt. Vielleicht fühlen sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dadurch ermutigt, unkonventionelle und individuelle Wege zu wählen und sich von reichlich finanzierten Großkonsortien fernzuhalten, um ihre Unabhängigkeit zu wahren.

Schlüsselwörter: Epigenetik, Molekulargenetik, DNA- und Promotormethylierung

Einleitung

Das Teilgebiet der Genetik, das heute als Epigenetik bezeichnet wird, hat sich seit den 1980er-Jahren zu einem umfangreichen Corpus entwickelt: Im September 2019 weist PubMed unter den Schlagwörtern DNA-Methylierung bzw. Epigenetik > 72.500 bzw. > 32.000 Einträge auf. Daher werde ich in diesem Aufsatz eine sehr persönliche Sicht auf die Epigenetik vertreten und auf zusammenfassende Darstellungen verweisen, um wichtigen Beiträgen gerecht zu werden [1–5]. Nach einer Einführung in die Grundlagen der Epigenetik werden dann beispielhaft für viele Ansätze auf diesem umfassenden Gebiet auch Arbeiten aus unserem Laboratorium diskutiert.
Das menschliche Genom besteht aus etwa 3 Milliarden (109) Nukleotidpaaren, von denen aber nur 1–2% für die geschätzt 20.000 bis 25.000 Gene kodieren. Nicht-proteinkodierende Nukleotidsequenzen umfassen den größten Anteil des menschlichen Genoms, über deren Herkunft und funktionelle Bedeutung wenig bekannt ist. Die meisten dieser Genomabschnitte werden in RNA transkribiert. Manche Forscher haben die nicht-für-Gene-kodierenden Abschnitte des menschlichen Genoms als „junk DNA“ bezeichnet. Diese Interpretation erscheint sehr unwahrscheinlich, da 98% des Genoms, also etwa 2,9 Milliarden Nukleotidpaare, über Jahrmillionen wohl nicht erhalten geblieben wären, wenn sie nicht wichtige Funktionen hätten. Die Analyse dieses Paradoxons bleibt eine der zentralen Aufgaben in der molekularen Genetik. Dazu gehört vor allem die Klärung der sehr komplexen Regulation der Genaktivitäten. Wann und in welchen Zellen werden welche Gene in welcher Intensität und Dauer, insbesondere auch während der Entwicklung des Organismus, exprimiert? Was geschieht mit der fremden DNA, die durch Mikroorganismen oder in großen Mengen laufend mit der Nahrung aufgenommen wird? Modifikationen der DNA oder der DNA-gebundenen Histone spielen bei der langfristigen Modulation von Genaktivitäten eine wichtige Rolle. Eine große Zahl kleiner RNAs übernimmt wichtige, aber weitgehend unbekannte Funktionen. Bis jetzt haben die Ergebnisse auf diesem spannenden Gebiet aber die Einsicht gefördert, dass wir alle die Komplexität der Biologie erheblich unterschätzt haben.
Der unscharfe Terminus Epigenetik für diese komplexen, noch wenig verstandenen Mechanismen wird zwar weiterhin, aber leider zunehmend unkritisch, verwendet, und bleibt eine unglückliche Wahl (s. a. Hinweis auf diese Ungereimtheiten im Vorwort zu [4]). Spricht man von „Epigenetik“, muss man präzisieren, über exakt welche Mechanismen diskutiert wird [6]. In dem jetzigen Beitrag werde ich vorwiegend über die möglichen Funktionen der Modifikation der DNA-Sequenz durch die Einführung von 5-Methylcytosin (5-mC) berichten; denn letztlich ist alle Information über die Funktion von Zellen oder Organismen in deren DNA gespeichert.

Einige wichtige Fakten zur DNA-Methylierung im menschlichen Genom

• Das im menschlichen Genom am häufigsten modifizierte Nukleosid ist das Cytidin, das durch eine in der 5-Position des Pyrimidinrings angehängte Methylgruppe zum 5-Methylcytidin (5-mC) wird. Andere modifizierte Nukleotide kommen im menschlichen Genom nur in geringer Menge vor. Über deren Funktion gibt es keine gesicherten Kenntnisse.
• Die meisten 5-mC-Nukleotide findet man in der Dinukleotidkombination Cytidin-Guanosin (5‘-CpG-3‘), andere Konstellationen sind selten. Im menschlichen Genom von geschätzt 3 Milliarden Nukleotidpaaren findet man etwa 27 Millionen CpG-Dinukleotide. Wie in einem binären Code können diese entweder unmethyliert oder methyliert sein. Die Verteilung von 5-mC-Nukleotiden auf die 27 Millionen CpGs, d. h. das Methylierungsmuster eines Genoms, kann in jeder menschlichen Zellart sowie in den verschiedenen Entwicklungsstadien unterschiedlich sein.
• Im menschlichen Genom weisen 72% der Promotoren einen hohen CpG-Gehalt auf, in 28% der Promotoren entspricht das CpG-Vorkommen dem im Gesamtgenom [7].
• Die Sequenz-spezifische Methylierung von eukaryotischen Promotoren führt zur langfristigen Abschaltung von Genen, die je nach Ausmaß dieser Methylierung auch graduell sein kann. Promotormethylierung und Regulation der Gen­aktivität sind die am besten untersuchten Funktionen von 5-mC in eukaryotischen Genomen [8].
• Man unterscheidet (i) die main­tenance Methylierung, die gewährleistet, dass ein bestimmtes Methylierungsmuster nach der semikonservativen DNA-Replikation aufrecht erhalten bleibt, und (ii) die de novo Methylierung, die während der frühen Embryogenese nach Löschen der in der DNA der Keimzellen vorliegenden Methylierungsmuster das neue/alte Muster wieder herstellt. Außerdem kann fremde DNA, z. B. integrierte DNA von Viren, häufig in bestimmten Mustern de novo methyliert werden.
• Ein System von mehreren DNA-Methyltransferasen überträgt die Methylgruppe vom Methylgruppendonor, S-Adenosylmethionin, auf die 5-Position des Cytidins in spezifischen CpGs. Bei der maintenance Methylierung ist das Ziel dieser Methylierung durch das Muster im Elternstrang des semikonservativ replizierten DNA-Moleküls vorgegeben. Die Mechanismen, die die gezielte de novo Methylierung bewirken könnten, werden ebenso wie die Rolle der DNA- Methyltransferasen bei der Etablierung von DNA-Methylierungsprofilen im Genom gezielt untersucht [9].
• Ein bestehendes Methylierungsmuster kann passiv durch Hemmung der maintenance Methylierung oder aktiv durch enzymatische Demethylierung verändert werden [10]. Bei letzterer wird im ersten Schritt das 5-mC zum 5-Hydroxycytidin und durch weitere Oxidation bis zur Carbonsäure umgebaut, wonach der Pyrimidinring gespalten, das oxidierte C entfernt und die Lücke mit Cytidin repariert wird.
• Experimentell kann ein Methylierungsmuster durch den DNA-Methyltransferase-Inhibitor 5-aza-Cytidin (5-aza-C) verändert werden. Der Inhibitor bindet DNA-Methyltransferasen kovalent und hemmt sie bei der maintenance Methylierung, sodass das Muster der Methylierung zumindest teilweise verloren geht. Das C-Analogon 5-aza-C wird bei der Behandlung bestimmter maligner Tumorerkrankungen angewandt [11]. Allerdings ist diese Verbindung hoch toxisch.
• Die funktionelle Bedeutung der Muster der DNA-Methylierung in den 27 Millionen einer Modifikation zugänglichen CpG-Dinukleotiden ist unbekannt. Im menschlichen Genom gibt es Regionen, deren Methylierungsmuster interindividuell konserviert ist, in anderen Regionen können sie von Individuum zu Individuum unterschiedlich sein.
• Bei der Beurteilung von möglichen Zusammenhängen zwischen DNA-Methylierung und Umwelteinflüssen auf das Epigenom und das Genom einer Zelle oder gar eines Organismus muss man gegenüber voreiligen Interpretationen sehr kritisch bleiben.

Techniken zur Bestimmung der DNA-Methylierungsmuster

Während der 1970er- und 1980er-Jahre hat meine Arbeitsgruppe am Institut für Genetik in Köln in Fortführung früherer Ergebnisse [12, 13] umfangreiche Analysen zur Integration des Genoms des DNA-Tumorvirus Adenovirus Typ 12 (Ad12) in Ad12-induzierten Hamster-Tumorzellen durchgeführt [14]. Dazu wurden Restriktionsendonukleasen (RE) verwendet, die das Ad12-Genom in möglichst kleine Endfragmente schneiden sollten, um die Verbindungsstellen zwischen der kovalent gebundenen Ad12-DNA und der zellulären DNA möglichst genau erfassen, klonieren und sequenzie­ren zu können [14]. Die RE aus Haemophilus parainfluenzae (HpaII) erwies sich dafür als geeignet. Als Zufallsbefund hatten Waalwijk & Flavell [15], die den Promotor des β-Globin-Gens untersuchten, gefunden, dass HpaII und die isoschizomere RE MspI (aus Moraxella spec.) zwar die gleiche Nukleotidsequenz 5‘-CCGG-3‘ erkennen und spalten, dass aber HpaII diese Bedingung nur dann erfüllt, wenn das innere CpG nicht methyliert ist. MspI ist dagegen nicht methylierungssensitiv. Für Untersuchungen zur DNA-Methylierung in eukaryotischen und menschlichen Zellen erwies sich dieses RE-Paar als sehr hilfreich, obwohl damit nur etwa 10% aller CpG-Dinukleotide in einem Genom erfasst werden konnten. Seit 1992 gilt für diese Analysen die genomische Bisulfit-Sequenzierungs-methode [16] als „Goldstandard“. Mit diesem Verfahren können alle 5-mC-Nukleoside in einem Genomabschnitt erfasst werden. Heute wird diese Methode hochtechnisch zur Ermittlung des Epigenoms (DNA-Methylierungsmusters) ganzer Genome durch die Illumina Platform-Technik angewandt. Allerdings erfordert die statistische Auswertung der so generierten riesigen Datenmengen und deren kritische Interpretation biostatistische Kompetenz. Die Bisulfit-Reaktion konvertiert alle Cytidin- zu Uridin-Nukleosiden und nach PCR-Amplifikation zu Thymidin. Die 5-mCs sind gegen Bisulfit-Umwandlung resistent. Bei bekannter DNA-Sequenz eines Genomabschnittes zeigen dann die nach der Bisulfit-Konversion verbleibenden Cs die 5-mC-Positionen an.

Ausgewählte Fragestellungen

Promotorinaktivierung – historischer Rückblick

Mithilfe der RE-Analysen konnten wir in den späten 1970er-Jahren in dem von uns langfristig untersuchten Adenovirussystem zeigen, dass zwischen dem Ausmaß der Promotormethylierung und der Genaktivität ein umgekehrter Zusammenhang besteht [17, 18]. Auch in nicht viralen Systemen haben wir und andere gezeigt, dass Promotormethylierung direkt zur Geninaktivierung führen kann [8]. Dieser Effekt wird umkehrbar oder verhindert, wenn in den Zellen gleichzeitig starke Transaktivatoren, wie die E1-Gene von menschlichen Adenoviren, exprimiert werden [19]. Seit diesen frühen Arbeiten ist die Erkenntnis, dass eine Promotormethylierung langfristig zur Geninaktivierung führt, in vielen eukaryotischen Systemen bestätigt worden. Allerdings haben detailliertere Untersuchungen gezeigt, dass diese Zusammenhänge sehr komplex sein können, da eine Reihe zusätzlicher Faktoren – wie Histonmodifikationen, kleine RNAs oder strukturelle Änderungen der DNA im Promotorbereich – ebenfalls erheblichen Einfluss auf die Genaktivität haben können. Aktivierung und Deaktivierung von Genen ist ein fein gradierter Prozess, der noch nicht vollständig verstanden ist. Diese komplexen Fragen spielen gerade bei der Entwicklung des Menschen oder bei der Pathogenese vieler Krankheiten eine zentrale Rolle.

DNA-Methylierung und biomedizinische Probleme

Nach vielen Forscherjahren fragt sich der Autor, inwieweit in unseren Denkmodellen der molekularen Biologie und Medizin nicht noch grundlegend entscheidende Bausteine fehlen. Die beliebte These „from bench to bedside“ klingt fröhlich forsch, ist aber ein von der Wirklichkeit noch weit entferntes Narrativ. Vor die Erfüllung dieser zweifellos erstrebenswerten, manchmal realisierbaren Maxime hat die biologische Wirklichkeit die Notwendigkeit umfassender Grundlagenforschung gestellt. In sehr vielen Bereichen der medizinischen Grundlagenforschung, vor allem auch in der Onkologie, haben Untersuchungen über DNA-Methylierung große Bedeutung erlangt [20]. Es ist unmöglich, diese Ansätze hier auch nur näherungsweise zu beschreiben. Als quantitativen Hinweis, der natürlich keine Aussagen über die Qualität der Beiträge erlaubt, werden wieder die Anzahl der Einträge mit Bezug zum Suchbegriff DNA-Methylierung unter PubMed aufgeführt: Immunologie > 4.100; Tumorbiologie > 4.100; Medizinische Genetik  > 16.000; Onkologie 27.800 (Stand Oktober 2019). Für die weitere Entwicklung der biomedizinischen Grundlagenforschung wird es essentiell sein, unabhängig von Konsortien Fragen zu stellen, auf die es noch keine definitiven Antworten gibt.

Änderung der DNA-Methylierung nach Integration fremder DNA – Bedeutung während der Evolution

Unser Laboratorium hat sich in den letzten Jahren mit der Frage beschäftigt, inwieweit die Genom-weiten Muster der DNA-Methylierung durch das Eindringen fremder DNA in Zellen sowie durch die Integration fremder DNA in das Wirtsgenom grundlegend verändert werden können. Die Ergebnisse umfangreicher Studien zu diesem Thema, die hier im Einzelnen nicht dargestellt werden können, zeigen, dass sowohl Methylierungs- als auch Transkriptionsmuster von Hamster oder menschlichen Zellen erheblich beeinflusst werden können. Zunahmen wie Abnahmen der genannten Muster an distinkten Genomloci sind beobachtet worden. Als Fremdgenome wurden bei diesen Arbeiten integrierte Ad12-DNA (34 kbp), lambda-DNA (48,5 kbp), integrierte Bakterienplasmid-DNA (5,6 kbp) oder die episomal persistierende DNA des Epstein-Barr-Virus (EBV mit 172 kbp) untersucht [21]. Unsere Daten legen nahe, dass diese Änderungen der Methylierungsmuster in transgenomischen Zellen auch nach der Exzision der Transgenome stabil bleiben. Die langfristige Persistenz der diese Änderungen verursachenden Fremdgenome scheint also langfristig für die Stabilität der geänderten Methylierungsmuster nicht erforderlich zu sein. Wir stellen die Frage, wie DNA-Methylierungsmuster zur Stabilität von Genomen beitragen können.
Das ubiquitäre System der heterologen Rekombination, das häufig durch kurze Sequenzhomologien begünstigt wird, ermöglicht auch menschlichen Zellen, fremde DNA jeglicher Provenienz nach dem Eindringen in den Zellkern in ihr Genom zu integrieren. Folglich besteht die Möglichkeit, dass die im Laufe der Evolution erfolgte Invasion retroviraler Genome oder von Retrotransposons zu Änderungen der Transkriptionsmuster der betroffenen Zellen auf dem gerade beschriebenen Weg geführt hat. Dadurch wären dann Zellen mit grundlegend veränderter Funktion entstanden, über deren weiteres Schicksal evolutionäre Selektionsmechanismen entschieden haben könnten. Welche Funktion(en) haben die Genom-weiten Methylierungsmuster auch über die Genregulation hinaus? Die Beantwortung dieser Frage ist eine der wichtigen Aufgaben der Grundlagenforschung über die Profile der DNA-Methylierung in unterschiedlichen Organismen.

Schicksal von mit der Nahrung aufgenommener fremder DNA im Organismus

In früheren Arbeiten haben wir im Mausmodell gezeigt, dass die mit der Nahrung aufgenommene fremde DNA in kleinen Mengen und in fragmentierter Form transient während der Passage durch den Gastrointestinaltrakt persistiert. In noch kleineren Mengen wurden diese DNA-Fragmente auch in der Blutbahn nachgewiesen [22, 23]. In sehr seltenen Fällen könnten diese fremden DNA-Fragmente auch in das Genom von Körperzellen integriert werden. Die Evidenz dafür ist noch nicht lückenlos. Aber in einem Experiment wurde ein Fragment der mit der Nahrung aufgenommenen fremden DNA in kovalenter Bindung an eine DNA-Sequenz mit 70% Homologie zum Maus-IgE-Rezeptor-Gen durch Klonierung und Sequenzierung nachgewiesen (22). Die Körperzellen, die aus der Nahrung stammende fremde DNA aufgenommen haben, könnten durch die Änderungen ihrer Methylierungs- und Transkriptionsmuster als Folge der Integration fremder DNA ihre Funktion pathogenetisch relevant verändern und dadurch unter anderem auch zu Tumorzellen werden. Natürlich wird das Abwehrsystem des Organismus (immune surveillance) solche Zellen in vielen Fällen eliminieren, dies aber stochastisch nicht immer leisten können. Dieser Mechanismus bei der Pathogenese von Tumor- und anderen Krankheiten sollte in Zukunft mit verfeinerter molekulargenetischer Technologie genauer untersucht werden. Die dieser neuen Hypothese zugrunde liegenden experimentellen Daten sind in einem Manuskript beschrieben, das gerade zur Veröffentlichung eingereicht wurde [24].

Hinweise für den Einfluss von Umwelt­faktoren auf DNA-Methylierungsmuster

Die Analyse von DNA-Methylierungsmustern im Gehirn von neugeborenen Ratten hat gezeigt, dass das physiologische Verhaltensmuster von Rattenmutter zu Rattenjungen (Zuneigung, Säugen) entscheidend für die Demethylierung und damit für die rechtzeitige Aktivierung von Genen ist, die für die postnatale Entwicklung von Ratten essentiell sind [25]. In einer Zusammenarbeit der Arbeitsgruppe von Rattenpsychologen (Weaver, Meaney) mit der eines molekularen Genetikers (Szyf) wurden dazu die Methylierungsprofile in den Promotoren der für die postnatale Entwicklung entscheidenden Gene in bestimmten Gehirnregionen analysiert. Positive Interaktionen zwischen Rattenmutter und Rattenjungen korrelierten dabei mit der entwicklungsbiologisch rechtzeitigen Demethylierung und Aktivierung der Promotoren von zunächst abgeschalteten Rattengenen im Gehirn. Umgekehrt führten fehlende Interaktionen zwischen Rattenmutter und deren Jungen zu verspäteter Demethylierung und damit zu Entwicklungsverzögerungen [25]. Ausgehend von diesen Beobachtungen ist eine umfangreiche Literatur [Übersicht bei 26] über Zusammenhänge zwischen Umweltfaktoren und Änderungen im DNA-Methylierungsmuster spezifischer Gene in distinkten Gehirnregionen entstanden. Insbesondere sind die Auswirkungen von frühkindlichen Erfahrungen, von schweren psychischen Traumatisierungen, von Hungersnot während der Schwangerschaft, von Missbrauch im Kindesalter u. a. auf die Methylierungsmuster in bestimmten Genen in manchen Regionen des Gehirns analysiert worden [26]. Außerdem sind wichtige Beiträge zu Zusammenhängen zwischen DNA-Methylierungsmustern und psychiatrischen Erkrankungen publiziert worden [27]. Obwohl die Signifikanz von manchen dieser Untersuchungen noch kritisch zu beurteilen ist, besteht ein Konsens darüber, dass Umweltfaktoren über Veränderungen in DNA-Methylierungsmustern einen entscheidenden Einfluss auf die Steuerung von bestimmten Genen gewinnen können. Damit würden Faktoren oder Ereignisse aus der Umwelt von Organismen einen direkten Einfluss auf die Regulation von Genaktivitäten und damit auf das Schicksal des Organismus gewinnen können. Auf diesem Gebiet stehen entscheidende neue Erkenntnisse der Genetik-Epigenetik-Forschung noch aus. Auch die Mechanismen, über die Umweltfaktoren Einfluss auf die Regulation von Demethylierung und de novo Methylierung gewinnen können, sind noch unbekannt. Vor allem sind stringente Analysen und deren statistische Evaluierungen jedes dieser Ereignisse Voraussetzung für die Akzeptanz dieser noch neuen Forschungsrichtung.

„Genetische“ Erkrankungen mit
epigenetischer Ursache

Hier soll das gut untersuchte Fragile-X-Syndrom (FXS) des Menschen als relevantes Beispiel erörtert werden [28]. Das FXS wird verursacht durch das Fehlen des „fragile X mental retardation 1 (FMR1)“-Genproduktes während der menschlichen Entwicklung. Das FMR1-Protein beeinflusst viele wichtige Entwicklungsprozesse. Beim FXS, einer der häufigsten Ursachen schwerer geistiger Behinderung des Menschen, ist der translatierte Teil des FMR1-Gens selbst nicht verändert. Vielmehr finden sich bei FXS-Probanden die folgenden molekularen Veränderungen: (i) Im ersten nicht-translatierten Exon des Gens ist die bei nicht-FXS-Probanden auf < 50 CGG-Trinukleo­tide begrenzte Repetition auf > 200 bis > 1.000 Wiederholungen extrem amplifiziert; (ii) sind fast alle CpG-Di­nukleotide im Promotor des FMR1-Gens methyliert. Wie CGG-Amplifikation und Promotormethylierung funktionell zusammenhängen, ist nicht bekannt. In seltenen Fällen mit pathogener CGG-Amplifikation kommt es nicht zur Ausbildung des klinischen Syndroms, da die Promotorregion des FMR1-Gens unmethyliert bleibt [29]. Die Promotormethylierung könnte daher eine entscheidende epigenetische Ursache des FXS sein. In einem eigenen Beitrag zur molekulargenetischen Charakterisierung des FXS [30] haben wir gezeigt, dass beim Menschen oberhalb (upstream) der FMR1-Promotorregion eine scharfe Grenze (boundary) der DNA-Methylierung besteht, die in FXS-Genomen aufgehoben ist, wodurch es zur vollständigen Methylierung des FMR1-Promotors und zu dessen Abschaltung kommt. Die Nukleotidsequenz der boundary vermag es, spezifische Kernproteine aus menschlichen Zellen zu binden [30]. In menschlichen Zellen von Gesunden und von FXS-Individuen ist die DNA-Region weit oberhalb der boundary hypermethyliert. Diese Übermethylierung ist um den Faktor 4 in Zellen von FXS-Probanden oder von Gesunden vermindert, wenn die Zellen durch EBV (episomale Persistenz des viralen Genoms) oder durch das Telomerase-Gen (integrierte Persistenz) immortalisiert worden waren [29]. Möglicherweise handelt es sich auch hier um eine Veränderung des Methylierungsmusters von menschlichen Zellen durch das Eindringen fremder Genome (EBV, Telomerase-Gen) in menschliche Zellen.

Ausblick

Die in dieser Übersicht geschilderten Beispiele zeigen, dass genetische Signale, die nicht in den kodierenden Abschnitten des (menschlichen) Genoms liegen, einen wesentlichen Einfluss auf die Funktion von Genomen ausüben. In diesem Zusammenhang sollten nicht nur die „klassischen“ Faktoren epigenetischer Mechanismen – DNA- und Histon­modifikationen, kleine RNAs, strukturelle Modifikationen von Genomabschnitten – kritisch evaluiert werden, sondern auch der Einfluss anderer genetischer Signale berücksichtigt werden. Die molekulare Enzyklopädie ENCODE = encyclopedia of DNA elements [31] hat eine umfangreiche Sammlung von zum Teil kurzen DNA-Sequenzmotiven in der menschlichen DNA identifiziert. Diese Elemente liegen vorwiegend im nicht-kodierenden Bereich des Genoms; über deren mögliche Funktionen hat man aus Rekonstruktionsexperimenten nur vage Vorstellungen. Wie sich diese Elemente im Gesamtzusammenhang genetischer Aktivitäten auswirken und wo sie eingreifen, ist noch weitgehend unbekannt. Auch über die möglichen Funktionen von repetitiven Elementen, z. B. als Stabilisatoren spezifischer Konformationen von Genomabschnitten, ist nichts bekannt. Gewissermaßen sucht die menschliche DNA noch immer nach ihrem tatsächlichen Potenzial im Gesamtzusammenhang: DNA is a molecule in search of additional functions. Hier fehlen entscheidende Einsichten in der molekularen Genetik, die auch für die Ursachenforschung menschlicher Erkrankungen eine conditio sine qua non darstellen. Mit anderen Worten, trotz erheblicher Einsichten in die Mechanismen der molekularen Genetik und Epigenetik seit 1944 [32] müssen wir erkennen, dass die Hauptarbeit noch vor uns liegt. Mit dieser Ermunterung vor allem für junge Forscherinnen und Forscher entlasse ich uns jetzt in eine Phase der intellektuellen Unruhe und mit der Ermutigung, möglichst unkonventionell über die zu lösenden Probleme in Biologie und Medizin nachzudenken – und dann experimentell gezielt einzugreifen. Let's get restless!  

Förderung

Der Autor dankt Bernhard Fleckenstein, Klaus Überla und dem Kollegium des Instituts für Klinische und Molekulare Virologie der FAU Erlangen-Nürnberg für die langjährige Unterstützung unserer Arbeitsgruppe Epigenetik. Unsere Projekte wurden zu verschiedenen Zeiten zwischen 1972 und 2002 am Institut für Genetik der Universität zu Köln  gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft in Bonn-Bad Godesberg (SFB 74 und SFB 274), vom Genzentrum Köln und vom Center for Molecular Medicine Cologne (CMMC, TP13). Seit 2002 wurden wir an der FAU Erlangen-Nürnberg unterstützt durch die Fritz Thyssen Stiftung in Köln (Az. 10.07.2.138 sowie mit einem Stipendium für A. Naumann Az. 40.12.0.029.), durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft Bonn-Bad Godesberg (DO 165/28-1), die US National Institutes of Health (UO1-AI 35004), durch die Staedtler Stiftung in Nürnberg (WW/eh 01/15) und zurzeit durch die Dr. Robert Pfleger-Stiftung in Bamberg.

Autor
Prof. em. Dr. med. Dr. h. c. Walter Doerfler
Virologisches Institut, Klinische und Molekulare Virologie
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
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