Quo vadis – 10 Jahre Mikrobiomforschung in Deutschland

Gasteditorial

Mikrobiom – eine kurze Reise durch die Zeit

Das Interesse an Mikrobengemeinschaften im Darm ist fast so alt wie die Etablierung der Infektionsmedizin durch Pioniere wie Robert Koch oder Louis Pasteur Ende des 19. Jahrhunderts. Elie Metchnikoff spekulierte schon 1908 in seinem Buch „The Prolongation of Life: Optimistic Studies“ (Metchnikoff, 1908), dass die „intestinale Flora“ die Gesundheit und Lebensspanne des Menschen beeinflusst. Erst jedoch mit der Möglichkeit, keimfreie (d. h. sterile) Tiere zu halten, konnte die Frage, ob und wie kommensale Mikrobengemeinschaften die Gesundheit des Wirts beeinflussen, systematisch untersucht werden (Gustafsson, 1946; Reyniers et al., 1948).
Auf dieser Grundlage definierten Pioniere der Mikrobiomforschung moderne Konzepte der Mikroben-Wirt-Inte­raktion (Haller et al., 2002; Hooper et al., 2001; Savage et al., 1968; Tannock und Savage, 1976). Während der Begriff „Flora“ zwar umgangssprachlich immer noch genutzt wird, jedoch aber die Pflanzenwelt beschreibt, wird nun im Licht eines zunehmenden Interesses an diesem Thema der Begriff „Mikrobiota“ (Lane-Petter, 1962) als die wissenschaftlich adäquate Begrifflichkeit zur Beschreibung mikrobieller Ökosysteme verwendet. Interessanterweise wird dem Kommentar von Joshua Leder­berg und Alexa T. McCray (2001, The Scientist) über die sprachliche Verwendung von „omes“ als Geburtsstunde einer weiteren Begrifflichkeit, dem „Micro­biome“ (oder Mikro­biom), zugeschrieben, wobei eine gewisse Unschärfe in der historischen Zuordnung dieser Erstbeschreibungen verdeutlicht, dass die Mikrobiomforschung schon ein halbes Jahrhundert aktiv ist (Prescott, 2017).
Letztlich sind es neue Technologien wie Next Generation Sequencing (NGS), die es erlaubt haben, komplexe mikro­bielle Ökosysteme erschwinglich, schnell und in großer Zahl zu untersuchen, sowie vor allem deren Funktion über ihre phylo­genetische Zusammensetzung hi­naus zu definieren. Relman und Kollegen beschreiben 2005 erstmals in hoher Auflösung die bakterielle Diversität im menschlichen Stuhl von drei Probanden (Eckburg et al., 2005). Die Zahl der pu­blizierten Studien zum Thema Mikrobiom entwickelt sich danach exponentiell (Abb. 1), und mehr als zehn Jahre später geben große Populationsstudien mit bis zu 7.000 Individuen einen deutlich besseren Einblick in die Variabilität und Diversität des mikrobiellen Ökosystems im Darm des Menschen (He et al., 2018). Der Darm ist besonders dicht mit Mikroben kolonisiert und steht im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses (Abb. 1; 52% der Daten; 23.236 Publikationen) (Sender et al., 2016). Im Moment sind 44.836 Publikationen (Stand September 2018) zum Thema Mikrobiom veröffentlicht worden, wobei allein in den letzten zwei bis drei Jahren fast die Hälfte dieser Information generiert wurde (22.391 Publikationen).
Joshua Lederberg und Alexa T. McCray (2001, The Scientist) sehen das Mikro­biom als hoch komplexes Gefüge, von dem man im Moment nur Teilaspekte beschreiben kann, das aber in seiner gesamten Funktionalität einen signifikanten Einfluss auf die Gesundheit des Menschen hat. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren dies noch Spekulationen, die sich aber in der folgenden Dekade verfestigt haben. Im Moment werden bei einer Vielzahl von Erkrankungen Veränderungen im Mikrobiom beschrieben, wobei allerdings kausale Zusammenhänge für nur wenige Erkrankungen eta­bliert sind.
Mit einem erneuten Blick in die Pu­blikationslandschaft wird deutlich, dass das Darmmikrobiom vor allem im Zusammenhang mit Entzündung, Infektion, Krebs und Stoffwechsel des Menschen diskutiert wird (Abb. 1). Klar ist auch jetzt schon, dass den Darm-Hirn-, Darm-Leber- oder auch Darm-Haut-Achsen eine zunehmend wichtige Rolle in der Pathogenese verschiedener Erkrankungen zugeschrieben werden wird. Obwohl moderne Analysen des Metagenoms einen Blick in die genetische Ausstattung menschlicher mikrobieller Ökosysteme bis hin zur Differenzierung individueller Bakterienstämme (aber auch Phagen u. a.) erlauben, so muss man doch eingestehen, dass große Teile der genomischen Information noch unbekannt sind, aber dass die Aktivität des Mikrobioms über das Metatranskriptom, Metaproteom oder Metametabolom komplettiert werden kann. Diese beschreibenden „omics“-Technologien liefern neue Einblicke in die komplexe Welt des Mikrobioms. Die sinnhafte Interpretation der Daten verlangt aber sowohl optimales Studiendesign als auch eine anspruchsvolle Bioinformatik und Datenmanagement.

Parallel zur beschreibenden Information ist es fundamental wichtig, ein Verständnis für die funktionelle Relevanz der Mikrobiom-Wirt-Interaktion zu entwickeln. Dazu müssen Interventionsstudien beim Menschen durchgeführt und Mechanismen in erkrankungsrelevanten Tiermodellen erarbeitet werden. Darüber hinaus müssen die hoch komplexen Zusammenhänge mittels definierter Mikrobenkonsortien auf ihre molekulare Natur reduziert werden. Dafür ist die Verfügbarkeit keimfreier Tiermodelle und der Nachweis kausaler Zusammenhänge entlang Koch’scher Postulate unerlässlich. Nur das interdisziplinäre Zusammenspiel von klinischer und Grundlagenforschung wird die Mikrobiomforschung auf die nächste Erkenntnisstufe bringen (Butto und Haller, 2017).

Mikrobiomforschung in Deutschland

US-amerikanische (HMP und Amer­ican Gut Project) (McDonald et al., 2018; Turnbaugh et al., 2007) und europäische Wissenschaftskonsortien (MetaHIT) (Arumugam et al., 2011; Li et al., 2014) prägen die Publikationslandschaft im Mikrobiomfeld und setzen alle Kraft auf die sequenzierungsbasierte Beschreibung des Mikrobioms. Hier geht der Blick schon über das humane Mikrobiom hinaus und zielt auf globale Verteilungsmuster mikrobieller Ökosysteme der Erde (Gilbert et al., 2018; Thompson et al., 2017).
Im Vergleich dazu waren die Bestrebungen zum Thema Mikrobiomforschung in Deutschland eher zaghaft. Die erste Initiative, dieses Forschungsgebiet sichtbar zu etablieren, war die Gründung einer neuen Fachgruppe im November 2007 (Gründungspräsident Haller) unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie (DGHM). Es folgten die Deutsche Gesellschaft für Mukosale Immunologie und Mikrobiom (Gründungspräsident Bischoff, 2008) und die Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie (VAAM; Gründungspräsidenten Schwiertz und Hentschel, 2009). Ein wichtiger Schritt, die Mikrobiomforschung in Deutschland weiterzuentwickeln, war die Etablierung des DFG-Schwerpunktprogrammes SPP 1656 „Intestinal microbiota – a microbial ecosystem at the edge of immune homeo­stasis and inflammation“. Der Antrag von Haller und Autenrieth wurde 2013 eingerichtet und 2016 (Haller) erfolgreich weitergeführt. In diesem interdisziplinären Forschungsprogramm sind bis 2019 insgesamt 40 Wissenschaftler/-innen mit 44 Projekten über sechs Jahre beteiligt (www.intestinal-microbiota.de). Das Schwerpunktprogramm hat zusammen mit der DGHM-Fachgruppe mittlerweile elf Seeon-Konferenzen und die erste „Summer School“ mit dem Titel „Micro­biome in Health and Disease“ organisiert. Dazu finden sich jedes Jahr Mikrobiologen, Immunologen, Gastroenterologen und Ernährungswissenschaftler zu einer internationalen Wissenschaftskonferenz im Kloster Seeon ein.
Parallel dazu bearbeiten der Sonderforschungsbereich SFB 1182 „Origin and Function of Metaorganisms“ (Koordinator Bosch) und das 2018 neu installierte Exzellenzcluster zur Infektionsforschung (Koordinator Peschel) Themen aus dem Feld der Mikrobiomforschung. Aus dem Schwerpunktprogramm heraus hat sich jetzt ein neuer Sonderforschungsbereich (SFB 1371) an der Technischen Universität München (Koordinator Haller) mit dem Thema „Microbiome Signatures“ entwickelt (zusammengefasst in Abb. 2).

Der Sonderforschungsbereich SFB 1371 untersucht ab Januar 2019 im Rahmen eines sehr interdisziplinären Forschungsverbundes die funktionelle Relevanz des Mikrobioms in grundlagenorientierten und klinischen Projekten. Entzündungs- (Morbus Crohn, Graft-versus-Host-Erkrankung, Infektion) und Tumorerkrankungen (Kolonkarzinom) sind klinisch relevante Endpunkte im Verdauungstrakt, deren Pathogenese und Verlauf mit dem Mikrobiom in Verbindung gebracht werden. Darüber hinaus sind Ernährung und die metabolische Aktivität des Wirtes reziproke Einflussfaktoren auf das Mikrobiom und den Wirt. Ein Alleinstellungsmerkmal dieses Forschungsverbundes ist die Möglichkeit, mit definierten Bakterienkonsortien die Komplexität des Darmmilieus in keimfreien und erkrankungsrelevanten Tiermodellen (Maus und Schwein) aufzulösen. Dabei sollen immun- und geweberelevante Mechanismen der Signalinte­gration auf molekularer und zellulärer Ebene geklärt werden. Das übergeordnete Ziel dieser Forschungsinitiative ist es, die Mikrobiom-Ernährung-Wirt-Interaktion mechanistisch besser zu verstehen, um auf dieser Grundlage klinisch anwendbare Interventionsstrategien für Entzündungs- und Tumorerkrankungen des Verdauungstraktes zu entwickeln (Abb. 3).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Mikrobiomforschung in Deutschland sehr an Fahrt aufgenommen hat. Mit zwei Sonderforschungsbereichen und einem Exzellenzcluster ist das Thema mittlerweile sichtbar in der Forschungslandschaft von Deutschland angekommen. Die Forschungsschwerpunkte in München, Kiel und Tübingen sind sehr komplementär zueinander aufgebaut. Die Zielvorgabe ist es, in zehn Jahren das Mikrobiom in Diagnostik und Therapie mit evidenzbasierten Aussagen in die klinische Anwendung zu bringen. Dazu ist es notwendig, grundlegende Mechanismen zur Interaktion zwischen Mikrobiom und Wirt zu begreifen. Die Seeon-Konferenz und Summer School soll auch in Zukunft eine Plattform für den interdisziplinären Austausch bieten und die Weiterbildung im Bereich Mikrobiomforschung fördern.

Autor
Prof. Dr. Dirk Haller
Technische Universität München Lehrstuhl für Ernährung und Immunologie
Freising-Weihenstephan