Dem Rätsel auf der Spur

Was das Allergen zum Allergen und den Menschen zum Allergiker macht

Allergene sind harmlose Proteine aus der Umwelt, die bei empfänglichen Individuen Allergien vom Soforttyp auslösen. Kennzeichen sind eine Th2-dominierte T-Zell-Antwort, IgE-Antikörper und die Aktivierung von Mastzellen, Basophilen und Eosinophilen in betroffenen Geweben. Lange Zeit über beherrschten zwei grundlegende Fragen die Allergologie. Erstens: Was macht ein harmloses Umweltprotein zum Allergen? Und zweitens: Warum neigen manche Menschen von Kindheit an zu Allergien, während andere niemals oder erst spät im Leben eine Allergie entwickeln? In den letzten Jahren ist die Wissenschaft der Lösung des Rätsels Allergie ein großes Stück näher gekommen. Allergie entsteht durch ein komplexes Wechselspiel zwischen den Faktoren Mensch, Allergen und Umwelt. Dieser Artikel gibt einen kurzen Überblick hierüber und fügt dann die verschiedenen Teile des Puzzles zu einem Ganzen zusammen.

Allergien sind komplexe Umwelterkrankungen mit weltweit steigender Prävalenz

Allergene sind harmlose Antigene aus der Umwelt, die bei suszeptiblen Individuen allergische Immunreaktionen auslösen. Die „korrekte“ Immunreaktion auf solche Antigene ist die periphere Toleranz, ein aktiver Prozess, der an den Grenzflächen des Körpers initiiert wird und in der Ausbildung von spezifischen regulatorischen T-Zellen (Treg) resultiert. Bei der allergischen Sensibilisierung versagt dieser Mechanismus oder eine bestehende Toleranz geht verloren. Es gibt vier Klassen von Hypersensitivitätsreaktionen. Wenn man von „Allergie“, z. B. gegen Pollen oder Nahrungsmittel spricht, ist meistens von der Typ-I-Hypersensitivität (auch: Hypersensitivität vom Soforttyp) die Rede. Hier kommt es zu einer Th2-dominierten, IgE-vermittelten Immunantwort gegen das Umweltantigen. Unverträglichkeiten gegenüber Arzneimitteln können durch IgE-, aber auch durch IgG-Antikörper oder Immunkomplexe vermittelt werden (Typ-II- oder Typ-III-Hypersensitivität). Typ-IV-Hypersensitivitätsreaktionen sind z. B. das allergische Kontaktekzem (bekanntes Beispiel: Nickelallergie). Im Folgenden wird von der Typ-I-Hypersensitivität die Rede sein.
Die offensichtlichen Fragen sind: Was macht überhaupt ein Allergen zum Allergen? Und was macht bestimmte Menschen anfälliger für allergische Immunreaktionen als andere? Allergene sind Proteine aus der Umwelt. Warum aber haben Allergien in den letzten Jahren so dramatisch zugenommen? Und stimmt es tatsächlich, dass Allergene durch Klimawandel oder Luftverschmutzung „aggressiver“ werden? Es stellt sich daher die Frage, was die Rolle der Umwelt bei der Allergieentstehung ist. Allergien sind komplexe, multikausale Erkrankungen, bedingt durch Eigenschaften der Umwelt, des Allergens und des Menschen. Um das komplexe Geschehen zu verstehen, betrachten wir zunächst alle Teile des Puzzles für sich genommen und fügen dann das Ganze zu einem Bild zusammen.

Ein Zusammenspiel vieler Gene bedingt die individuelle Allergie­neigung

Die Erkenntnisse über genetische Prädispositionsfaktoren für Allergie, Atopie und Asthma stammen aus genomweiten Assoziierungsstudien (GWAS), vornehmlich SNP (single nucleotide polymorphism)-Analysen. Die Datenlage bezüglich GWAS bei Erkrankungen des allergischen Formenkreises ist komplex, und das Gesamtbild erscheint recht unübersichtlich. So zeigen Gene, die mit allergischem Asthma assoziiert sind, häufig auch Assoziationen mit anderen chronisch inflammatorischen Lungenerkrankungen wie z. B. die Chronische Obstruktive Pulmonäre Erkrankung (COPD). Das atopische Ekzem dagegen ist am deutlichsten mit Genen der epidermalen Barriere, in geringerem Ausmaß aber auch mit Immunsystem-Genen assoziiert.
Die komplizierte Genetik der Allergien spiegelt die Tatsache wider, dass es sich um heterogene, multifaktorielle und multikausale Erkrankungen handelt, die sich in verschiedenen Organen manifestieren. Dennoch ließen sich SNPs in einer Reihe von Genen in mehreren Kohorten reproduzieren. Zu den gut belegten Suszeptibilitätsgenen gehören u. a. Gene des IL4-Clusters (IL4, IL4RA, IL13), Th2- oder ILC2-assoziierte Gene (STAT6, IL33, TSLP), Untereinheiten des IgE-Rezeptors (FCER1A, FCER1B), Gene des MHC-II-Genclusters (HLA-DRB1, HLA-DQB1), Chemokin- (RANTES) und Zytokin-Gene (IL6, IL10, TNFA), Gene des epidermalen Differenzierungskomplexes (FLG, SPINK5), sowie Gene für pattern recognition-Rezeptoren (CD14, TLR7, TLR9, S100A7) [1].

Innate Immunstimulation ist der Schlüssel zur Allergenität

Warum sensibilisieren wir uns häufiger gegen bestimmte Proteine, gegen andere dagegen gar nicht oder nur äußerst selten? Gibt es „typische“ Allergene?
Zu den Allergenen gehören die unterschiedlichsten Proteine. Es erstaunt daher nicht besonders, dass Versuche, gemeinsame Strukturmerkmale zu identifizieren, bisher wenig erfolgreich blieben. Repetitive IgE-Epitope in einem Protein begünstigen eine Kreuzvernetzung des FcεRI auf Mastzellen [2]. Allerdings sagt dieser Mechanismus nichts über die Sensibilisierung gegen ein Protein aus. Ein bioinformatischer Ansatz zur Lösung des Rätsels der Allergenstruktur ergab immerhin, dass nur 5% aller anhand von Strukturkriterien klassifizierten Proteinfamilien Allergene enthalten [3]. Dennoch ist es bislang nicht gelungen, allein anhand der Struktur vorherzusagen, ob ein gegebenes Protein als Allergen fungiert oder nicht.
Die Route der Exposition spielt dagegen eine gewisse Rolle. Aufgrund ihrer hohen Dichte an oralen Langerhanszellen (oLCs) ist die Mundschleimhaut besonders gut geeignet, Toleranz zu induzieren. Diese Tatsache macht man sich in der sublingualen Immuntherapie (SLIT) zunutze, bei der ein Allergen-Lyophilisat unter der Zunge appliziert wird. Das tolerogene Potenzial von oLCs kommt unter anderem dadurch zustande, dass sie eine dichte Expression an inhibitorischen kostimulatorischen Molekülen der B7-Familie aufweisen und nach Aktivierung über TLR4 zur Differenzierung von Treg neigen [4]. Immuntherapie-Präparate der neueren Generation enthalten daher als Monophosphoryl-Lipid-A, einen TLR4-Liganden, der weniger zytotoxisch  wirkt als LPS. Wie man hieran bereits erahnen kann, kommt dem angeborenen Immunsystem eine Schlüsselstellung bei der Entscheidung zu, ob ein gegebenes Protein toleriert wird oder ob es zur allergischen Sensibilisierung kommt. Erste Hinweise hierauf gaben die Befunde, dass mehrere Hauptallergene der Hausstaubmilbe eine Aktivierung von Rezeptoren des innaten Immunsystems bewirken. So ist das Hausstaubmilbenallergen Derp2 strukturverwandt zum LPS-bindenden Protein MD-2, das zusammen mit LPS den TLR4-Rezeptor aktiviert [5].

Auf den Kontext kommt es an: Was wir vom Pollen lernen können

Für andere bedeutende Allergene, z. B. solche aus Pollen, ließ sich jedoch eine vergleichbare intrinsische, immunstimulatorische Funktion bisher nicht nachweisen. Hier wird stattdessen vermutet, dass Kofaktoren aus Pollen, z. B. Oxidasen, Proteasen oder Lipide, gemeinsam mit dem Allergen vom Immunsystem gesehen werden. Solche Ko-Faktoren fungieren als pathogen- oder danger-associated molecular patterns (PAMPs, DAMPs) und fördern eine Sensibilisierung gegen Pollenproteine [6] (Abb. 1).
Pollen sind insofern speziell unter den Allergenträgern, als sie sowohl Th2-fördernde als auch potenziell tolerogene Substanzen freisetzen, so das Adenosin [7]. Adenosin ist ein zentraler Mediator der Immuntoleranz und wird von Tumorzellen, besonders in soliden Tumoren, und von Tregs aus den Vorläufern ATP, ADP und AMP gebildet. Bei unreifen DCs bewirkt Adenosin über A2-Rezeptoren eine vermehrte Neigung zur Differenzierung von Tregs. Die Tatsache, dass Pollen große Mengen davon freisetzen, könnte beim Nichtallergiker einer Sensibilisierung gegen Pollen entgegenwirken. Interessanterweise können jedoch DCs von Allergikern, im Gegensatz zu Nichtallergiker-DCs, das Adenosin aus dem Pollen nicht vernünftig erkennen, und die Adenosin-vermittelte Treg-Differenzierung funktioniert nicht. Beim Allergiker wirkt das Adenosin aus Pollen daher womöglich sogar als allergiefördernd [8].
 

Dysbiose und Fehljustierung des Immunsystems: Die Rolle der körpereigenen Mikrobiota

Innerhalb der letzten Jahrzehnte haben Hypersensitivitätsreaktionen, darunter die Allergien, weltweit zugenommen. In den Industrienationen ist mittlerweile beinahe die Hälfte der Bevölkerung betroffen, und auch in den Schwellenländern nehmen Allergien zu. Woher dieser dramatische Anstieg innerhalb so kurzer Zeit? Liegt es am sogenannten westlichen Lebensstil? Und schützt „ein bisschen Dreck“ tatsächlich gegen Allergien, wie die ursprüngliche Hygiene-Hypothese zu implizieren schien?
Inzwischen weiß man recht genau, welche Faktoren des „westlichen Lebensstils“ und der „Hygiene“ ausschlaggebend sind. Zu Beginn stand die Beobachtung aus der Epidemiologie, dass es günstige und weniger günstige Umwelt- und Lebensstilfaktoren gibt, die sich pränatal oder in der frühen Kindheit prägend auswirken. Zu den günstigen Faktoren zählen ein Aufwachsen in ländlicher Umgebung mit Kontakt zu (Stall-)tieren (farming effect), eine überwiegend pflanzliche, faserreiche Ernährung und der Kontakt zu Gleichaltrigen in der Kindheit. Was all diese Faktoren gemeinsam haben ist, dass sie zur Ausprägung einer „gesunden“, sprich vielfältigen mikrobiellen Flora an den Grenzflächen des Körpers beitragen. Die Interaktion dieser natürlichen Mikrobiota mit dem menschlichen Immunsystem ist kritisch für die Einstellung einer Art Grundtonus der angeborenen Immunität. Dieser wie­de­rum bedingt eine optimale Immun-Homöostase im späteren Leben, also ein ausgewogenes Verhältnis aus Reagibilität gegenüber Pathogenen und peripherer Toleranz gegenüber harmlosen Selbst- und Fremdantigenen. Ungünstige Umwelt- und Lebensstilfaktoren wie Bewegungsmangel, häufige Antibiotikaeinnahmen, Ernährung mit überwiegend industriell gefertigten Lebensmitteln und ein Aufwachsen in naturferner, relativ keimarmer Umgebung bringen dagegen eine Dysbiose an den Grenzflächen des Körpers mit sich [9]. Diese wiederum bedingt, dass sich bereits in der Kindheit der Grundtonus des angeborenen Immunsystems verstellt, was die Entstehung von Hypersensitivität im späteren Leben begünstigt [10].

Luftverschmutzung, Klimawandel, Stress – wie die Umwelt zum Feind wird

Aber unsere Umwelt besteht nicht nur aus Mikroben. Auch die Luftqualität, also die Art der Aerosole, denen wir täglich ausgesetzt sind, entscheidet mit, ob wir ein erhöhtes Risiko für Allergien entwickeln oder nicht. Verkehrsbedingter Feinstaub, Dieselruß, Zigarettenrauch und Reizgase wie Ozon oder NOx bewirken eine chronische Entzündung der Atemwege, was die Entstehung von Allergien fördert. Teils wirken sich diese Effekte bereits in utero aus. „Nützliche“ Stäube enthalten dagegen bakterielle TLR-Liganden oder pflanzliche Zuckerverbindungen und können nachweislich das Allergie­risiko senken [11, 12].
Nicht zuletzt zählt psychischer Stress zu denjenigen Umweltfaktoren, denen wir zunehmend ausgesetzt sind. Die Bedeutung des Faktors Stress wird vor allem von epidemiologischen Studien untermauert. So weisen Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft unter chronischem Stress litten, ein erhöhtes Risiko für die Entstehung von Allergien und atopischem Ekzem auf als Kinder von nicht gestressten Müttern. Während der Zusammenhang zwischen Psyche und Immunsystem in der Allergie recht eindeutig belegt ist, ist der zugrunde liegende Mechanismus auf zellulärer und molekularer Ebene noch weitgehend unerforscht.

Allergene Pflanzen werden durch Umweltfaktoren beeinflusst

Allergene stammen aus der Umwelt und werden als solche selbst von Umweltfaktoren beeinflusst. So produzieren Pflanzen Abwehrstoffe, zu denen auch Betv1, das Hauptallergen der Birkenpollen, zählt. Birken, die abiotischen Stressfaktoren ausgesetzt sind, antworten mit der Induktion von Stoffwechselwegen, die in der vermehrten Produktion von Betv1 und entzündungsfördernden Lipiden resultieren. Diese verleihen den Pollen solcher Bäume ein stärkeres allergenes Potenzial [13]. Auch die Zusammensetzung von Mikroben auf den Pollen selbst könnte ihre Allergenität beeinflussen, entweder durch die Regulation der Expression von Allergenen und/oder adjuvanten Stoffen im Pollen, oder durch die Bereitstellung mikrobieller Ko-Faktoren, die eine allergische Sensibilisierung fördern könnten [14]. Auch der Klimawandel sei an dieser Stelle genannt. Bereits heute bewirken höhere Temperaturen in den gemäßigten Breiten eine messbare Verlängerung der Blühphase von Pflanzen und damit insgesamt eine höhere jährliche Pollenbelastung. Verschiebungen im lokalen Klima begünstigen zudem die Ausbreitung eingeschleppter allergener Pflanzenspezies wie der Beifußambrosie (Ambrosia artemisiifolia) in Teilen Europas [15]. Man muss damit rechnen, dass in diesen Regio­nen in Zukunft neue, potenziell schwere Atemwegsallergien auftreten werden.

Ein Zusammenspiel der Gene und der Umwelt steuert das individuelle Risiko für Allergien

Auch der Mensch, aufgrund seiner Genetik mehr oder weniger suszeptibel für Allergien, unterliegt den Einflüssen der Umwelt, die mit seiner individuellen genetischen Ausstattung in Wechselwirkung treten. Über epigenetische Mechanismen können sowohl günstige als auch ungünstige Umwelt- und Lebensstilfaktoren eine Veränderung der Expression von allergierelevanten Genen bewirken. Besonders anhand des Zusammenspiels von mikrobieller Umwelt und genetischem Hintergrund lässt sich verstehen, wie bestimmte Umweltfaktoren manchen Menschen einen Schutz vor Allergien verleihen, anderen dagegen nicht. So haben beispielsweise SNP-Analysen Allele der Gene CD14, TLR2, TLR4 und TLR6 identifiziert, die ihre Träger empfänglich für den vor Allergien und Asthma schützenden farming effect machen [16, 17].

Rätsel gelöst?

Innerhalb der letzten Jahre kam die Wissenschaft dem Rätsel der Allergie ein gutes Stück auf die Spur. Was macht das Allergen zum Allergen? Die Antwort: Allergene sind entweder intrinsisch, z. B. durch molekulare Mimikry, in der Lage, Rezeptoren des angeborenen Immunsystems zu aktivieren, wie die Hauptallergene der Hausstaubmilbe. Oder sie werden dem Gewebe zusammen mit extrinsischen Gefahrensignalen präsentiert, DAMPs oder PAMPs, die vom Allergenträger oder von assoziierten Mikroben stammen. So ist es für Pollenallergene der Fall. Und was macht uns Menschen zu Allergikern? Der Schlüssel zu dieser Frage ist sicherlich die Erkenntnis, dass eine direkte Beziehung besteht zwischen Lebensstil, abiotischer und biotischer Umwelt, körpereigener Mikroflora und der Justierung des innaten Immunsystems in der frühen Kindheit. Diese Effekte der „Umwelt“ im weitesten Sinne spielen sich vor dem Hintergrund der individuellen genetischen Prädisposition ab und können diese durch epigenetische Mechanismen beeinflussen (Abb. 2). Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Praxis? Zum einen ist zu erwarten, dass in absehbarer Zeit bessere Adjuvanzien für effektivere Immuntherapie-Präparate entwickelt werden. Zum anderen sollte das Verständnis davon, wie Verhalten, Stress, Schadstoffe und Mikrobiota unsere Allergieneigung beeinflussen, langfristig dazu führen, dass wir unseren Lebensstil anpassen und uns eine gesündere Umwelt schaffen.


Abstract

Allergens are innocuous environmental proteins that cause allergic immune reactions in susceptible individuals. Hallmarks of allergies are a dominance of Th2 cells, IgE antibodies and the activation of mast cells, basophils and eosinophils in exposed tissues. For a long time there have been two main questions. Firstly: What makes a harmless environmental protein an allergen? And second: Why are some people prone to become allergic even early in life, whereas others never develop any allergies or only do so late in their life? During the last years, science has moved a huge step forward in solving the puzzle of allergy. Allergic diseases involve a complex interplay between the host, allergens and the environment. This article provides a brief overview and aims at putting the pieces of the puzzle together to get the full picture.

Autor
PD Dr. Stefanie Gilles
Lehrstuhl für Umweltmedizin, UNIKA-T
Technische Universität München
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