Geschlechtsabhängige Referenzbereiche: To discriminate or not to discriminate
DOI: https://doi.org/10.47184/td.2021.04.06 Um einen Messwert interpretieren zu können, muss dieser in Bezug zu Referenz- oder Entscheidungsgrenzen gesetzt werden. Diese gelten häufig nur für ganz bestimmte Kollektive, stratifiziert nach Alter, Geschlecht oder Ethnie. Um eine Diskriminierung zu vermeiden und den Anforderungen des Datenschutzes zu genügen, muss häufig sehr genau abgewogen werden, wann welche Daten erhoben werden dürfen.
Sex, Gender, Transgender, Transsexualität, Non-binary Gender, Adrenogenitales Syndrom, prostataspezifisches Antigen, eGFR, ALAT
Eine Blutentnahme stellt eine Körperverletzung dar, die nur deshalb straffrei ist, weil aufgrund ihres medizinischen Nutzens von einer impliziten Einwilligung der Patient:innen ausgegangen werden kann. Damit ist aber im Zweifelsfall „juristisches Glatteis“ vorprogrammiert. Genau um solche juristischen Problemfälle in den Graubereichen des „gesunden Menschenverstands“ soll es in diesem Beitrag gehen.
Für einen labormedizinischen Befund ist es regelmäßig notwendig, den erhaltenen Messwert mit vorgegebenen Referenz- oder Entscheidungsgrenzen zu vergleichen [1]. In der Mehrzahl der Fälle stammen diese Vergleichswerte von „offensichtlich Gesunden“, bei einigen Analyten wie etwa dem LDL-Cholesterin oder den Troponinen werden sie aber aufgrund klinischer Studien festgelegt, um langfristige Risiken zu minimieren bzw. akute Risiken schneller zu erkennen.
Grundlage für diese Stratifizierung von Grenzwerten sind in der Regel einfache demografische Daten wie Alter und Geschlecht; teilweise kommen auch Angaben zu Schwangerschaft, Menstruationszyklus und Einnahme von Kontrazeptiva, veganer Ernährung oder ethnischer Zugehörigkeit hinzu. Oft ist den Anfordernden und ihren Patient:innen völlig unklar, warum für eine Laboruntersuchung so viele Informationen notwendig sind, insbesondere wenn diese Informationen dann nicht einmal mitgeteilt werden, um eine mögliche Diskriminierung zu vermeiden.
Aktuelles Praxisbeispiel
Dies sei am Beispiel einer ethnischen Angabe verdeutlicht. In Fachkreisen wird derzeit über die Berechnung der eGFR (estimated glomerular filtration rate) mit Berücksichtigung von zusätzlichen demografischen Angaben intensiv diskutiert.
Tatsächlich führte der Faktor „Black American“ bei der sog. MDRD-Formel (MDRD = Modification of Diet in Renal Disease) in amerikanischen Studien zu einem Unterschied von ca. 10 % bei der Berechnung dieses Kriteriums für die Nierenfunktion. Die muss beispielsweise bei der Medikamentendosierung als medizinisch relevant angesehen werden. Allerdings ist unklar, ob dieser – vor vielen Jahrzehnten identifizierte – Effekt auf die eGFR tatsächlich unmittelbar durch die ethnische Abstammung oder aber durch ganz andere Faktoren wie Ernährung, körperliche Aktivität oder Unterschiede im Lebensstil bedingt ist [2]. Interessanterweise wurde bei Untersuchungen in anderen Ländern keine Abhängigkeit von der Hautfarbe gefunden.
Schnell kann hier eine politische Diskussion über den Begriff der „Rasse“ in der Medizin und die Zulässigkeit solcher Abfragen aufkommen. Die Konsequenz aber ist, dass die Bewertung der Nierenfunktion mit dem Faktor „African American“ aktuell meist unterbleibt, wohl wissend, dass ein Teil der eGFR-Werte dann zumindest teilweise falsch interpretiert wird.
Dichotome Parameter
Bislang erfolgen viele Bewertungen von Referenzgrenzen anhand binärer Merkmalsausprägungen wie männlich/weiblich oder African American/Non-African American. Auch bei Altersabhängigkeiten werden häufig fixe Gruppen gebildet, etwa > 18 Jahre für Erwachsene.
Tatsächlich liegen aber alle diese Subgruppen nicht in jeweils zwei eindeutigen Ausprägungen vor, sondern hängen von einem Kontinuum biologischer Faktoren ab. So korreliert der Effekt des Wachstums in der Kindheit und Jugend recht gut mit dem kalendarischen Alter, aber die alkalische Phosphatase als Biomarker des Knochenwachstums verändert sich natürlich nicht schlagartig mit dem Erreichen eines bestimmten Geburtstags, sondern aufgrund vielfältiger Einflüsse kontinuierlich. Bei den Geschlechtsunterschieden der Transaminasen mit höherer Prävalenz leicht pathologischer Werte bei Männern im mittleren Alter im Vergleich zu gleichaltrigen Frauen ist die Ursache noch weitgehend unklar.