Bei labormedizinischen Untersuchungen ist der alleinige Messwert wenig aussagekräftig, wenn es um die diagnostische Interpretation des Wertes geht. Ein Messwert kann nur sinnvoll eingeordnet werden, wenn zusätzliche Entscheidungsgrenzen bekannt sind und der Anteil falsch-positiver und falsch-negativer Entscheidungen eingeschätzt werden kann. Hersteller geben meist ein Referenzintervall an, das das Labor weitgehend ungeprüft in das Laborinformationssystem übernimmt. Es erlaubt laut IFCC-Leitlinie eine Aussage darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Ergebnis von einer „offenbar gesunden Referenzperson“ stammt. Diese Grenzwerte sind wohlgemerkt nicht identisch mit den Entscheidungsgrenzen für bestimmte Krankheiten [1], aber sie erlauben doch eine erste Orientierung, welchen Resultaten unter klinischen Gesichtspunkten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Für viele Laborparameter sind mittlerweile geschlechtsabhängige Referenzintervalle vorhanden.
Um Missverständnissen vorzubeugen, ist eine kurze Begriffsbestimmung notwendig: Wenn wir von geschlechtsabhängigen Referenzintervallen sprechen, so beziehen wir uns auf statistisch ermittelte Größen, die aus Messungen von physiologisch im Blut zirkulierenden Hormonen abgeleitet sind. Die Einteilung der Patienten:innen in Bezug auf das Geschlecht geschieht also nur im Hinblick auf das körperliche Geschlecht („sex“).
Neuere Daten zeigen, dass bei Berücksichtigung aller Varianten der Geschlechtsentwicklung („Differences of Sexual Development“, DSD) ca. 1 % der Bevölkerung nicht eindeutig in ein binäres Geschlechtersystem eingeordnet werden kann [2]. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass 99 % der Bevölkerung im genetischen/phänotypischen Geschlechterspektrum eindeutig als Mann oder Frau identifiziert werden können. Diese ausschließlich auf das körperliche Geschlecht ausgerichtete Sichtweise dient dabei nicht einer Ablehnung der vorhandenen Geschlechtervielfalt, sondern sie soll durch Referenzintervalle, die möglichst genau zur Physiologie der überwiegenden Mehrheit aller zu untersuchenden Personen passen, deren bestmögliche Versorgung gewährleisten. Ergänzend hierzu ist es also eine wichtige Aufgabe der Labormedizin, die medizinische Versorgung der zahlenmäßig kleinen, aber nicht vernachlässigbaren Minderheit von transidenten Menschen und Menschen mit DSD mittels medizinisch plausibler Konzepte sicherzustellen.