Geschlechtsabhängige Referenzintervalle in der endokrinologischen Labordiagnostik: Komplexe Abhängigkeiten

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2021.04.07

Mit wenigen Ausnahmen benötigt man zur Interpretation von endokrinologischen Parametern geschlechtsabhängige Referenzintervalle. Darüber hinaus sind diese Referenzintervalle abhängig von Alter, Pubertäts­stadium und ggf. Zyklustag. Auch klinische Entscheidungsgrenzen werden in der endokrinologischen Diagnostik häufig zusätzlich zu den Referenzintervallen verwendet. Die gesellschaftliche Entwicklung mit einer steigenden Zahl von transidenten Menschen und Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung sowie das gesetzlich verankerte „dritte Geschlecht“ stellt die Labormedizin im Bereich der Referenzintervalle vor Herausforderungen.

Schlüsselwörter: Cut-off, DSD, Transidentität, indirekte Referenzintervall-Überprüfung, Testosteron, Hämoglobin

Bei labormedizinischen Untersuchungen ist der alleinige Messwert wenig aussagekräftig, wenn es um die diagnostische Interpretation des Wertes geht. Ein Messwert kann nur sinnvoll eingeordnet werden, wenn zusätzliche Entscheidungsgrenzen bekannt sind und der Anteil falsch-positiver und falsch-negativer Entscheidungen eingeschätzt werden kann. Hersteller geben meist ein Referenzintervall an, das das Labor weitgehend ungeprüft in das Laborinformationssystem übernimmt. Es erlaubt laut IFCC-Leitlinie eine Aussage darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Ergebnis von einer „offenbar gesunden Referenzperson“ stammt. Diese Grenzwerte sind wohlgemerkt nicht identisch mit den Entscheidungsgrenzen für bestimmte Krankheiten [1], aber sie erlauben doch eine erste Orientierung, welchen Resultaten unter klinischen Gesichtspunkten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Für viele Laborparameter sind mittlerweile geschlechtsabhängige Referenzintervalle vorhanden.
Um Missverständnissen vorzubeugen, ist eine kurze Begriffsbestimmung notwendig: Wenn wir von geschlechtsabhängigen Referenzintervallen sprechen, so beziehen wir uns auf statis­tisch ermittelte Größen, die aus Messungen von physiologisch im Blut zirkulierenden Hormonen abgeleitet sind. Die Einteilung der Patienten:innen in Bezug auf das Geschlecht geschieht also nur im Hinblick auf das körperliche Geschlecht („sex“).
Neuere Daten zeigen, dass bei Berücksichtigung aller Varianten der Geschlechts­entwicklung („Differences of Sexual Development“, DSD) ca. 1 % der Bevölkerung nicht eindeutig in ein binäres Geschlechtersystem eingeordnet werden kann [2]. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass 99 % der Bevölkerung im genetischen/phänotypischen Geschlechterspektrum eindeutig als Mann oder Frau identifiziert werden können. Diese ausschließlich auf das körperliche Geschlecht ausgerichtete Sichtweise dient dabei nicht einer Ablehnung der vorhandenen Geschlechtervielfalt, sondern sie soll durch Referenzintervalle, die möglichst genau zur Physiologie der überwiegenden Mehrheit aller zu untersuchenden Personen passen, deren bestmögliche Versorgung gewährleisten. Ergänzend hierzu ist es also eine wichtige Aufgabe der Labormedizin, die medizinische Versorgung der zahlenmäßig kleinen, aber nicht vernachlässigbaren Minderheit von transidenten Menschen und Menschen mit DSD mittels medizinisch plausibler Konzepte sicherzustellen.

Alters-, Geschlechts-, Zyklus- und Pubertätsstadienabhängigkeit

Wenn wir die Laborparameter in der Endokrinologie betrachen, wird klar, dass eine sinnvolle endokrinologische Diagnostik nur mittels geschlechts-, alters- und ggf. zyklusabhängiger Referenzintervalle möglich ist. Auch wenn die meisten Parameter eine Geschlechtsabhängigkeit zeigen, so gibt es auch vereinzelte endokrinologische Parameter wie Kortisol oder das Thyroidea-stimulierende Hormon (TSH), die nicht zwingend geschlechtsabhängiger Referenzintervalle bedürfen.
Die Altersabhängigkeit ist bei Hormonen wie Testosteron, Östradiol oder den Gonadotropinen vor allem auch im Kontext der pubertären Entwicklung sowie dabei auftretenden Störungen wie der Pubertas praecox oder der Pubertas tarda von hoher Relevanz. Die pubertäre Entwicklung verläuft sehr heterogen und eine reine Betrachtung der Altersabhängigkeit wird der Komplexität der individuellen pubertären Entwicklung in diesem Kontext nicht gerecht. Daher existieren für viele Parameter zusätzlich pubertätsstadienabhängige Referenzintervalle.
Betrachten wir das biologisch weibliche Geschlecht, so verlangt die Physiologie des Menstruationszyklus auch zyklusabhängige Referenzintervalle für bestimmte Hormone wie den Gonadotropinen, dem Östradiol und dem Progesteron. Aber auch Androgene, z. B. Gesamt-Testosteron, Androstendion und Dehydroepiandrosteron-Sulfat (DHEA-S), sowie Prolaktin zeigen eine Zyklusabhängigkeit mit höheren Messwerten in der zweiten Zyklushälfte (Mittzyklus sowie Lutealphase). So können allein für ein einziges Hormon mitunter eine zweistellige Anzahl von Referenzintervallen vorhanden sein, die alle bei der Interpretation des Hormonbefundes berücksichtigt werden sollten. Als Beispiel der Komplexität ist in Tab. 1 die Vielfalt der Referenzintervalle beispielhaft für das Gesamt-Testosteron dargestellt.

Tab. 1: Beispielhafte Referenzintervalle und klinische Entscheidungsgrenzen des Gesamt-Testosterons.

Alter biologisch männliches Geschlecht biologisch weibliches Geschlecht
  Testosteron nach Alter (nmol/l) nach Pubertätsstadium (Tanner, nmol/l) Testosteron nach Alter (nmol/l) nach Pubertätsstadium (Tanner, nmol/l)
< 1 Jahr ≤ 0,08 – 13,86 Stadium 1: < 0,087 ≤ 0,08 – 0,45 Stadium 1: < 0,087 – 0,21
1 – < 9 Jahre ≤ 0,08 – 0,47 Stadium 2: < 0,087 – 15,0 ≤ 0,08 – 0,45 Stadium 2: < 0,087 – 0,36
9 – < 14 Jahre 0,26 – 15,21 Stadium 3: 2,25 – 27,0 0,26 – 1,37 Stadium 3: < 0,087 – 0,82
14 – < 19 Jahre 1,06 – 26,23 Stadium 4: 6,25 – 26,5 0,62 – 1,98 Stadium 4: < 0,087 – 0,93
    Stadium 5: 6,52 – 30,6   Stadium 5: 0,16 – 1,33
20 – < 30 Jahre 9,68 – 29,60 0,5 – 2,3
30 – < 40 Jahre 8,68 – 26,00 0,5 – 2,7
40 – < 50 Jahre 7,81 – 22,00 0,5 – 2,5
50 – < 60 Jahre 8,78 – 21,60 0,5 – 2,1
60 – < 70 Jahre 5,79 – 22,70 0,5 – 2,8
> 60 Jahre 0,80 – 22,00  
Erwachsene klinische Entscheidungsgrenze Hypogonadismus    
normwertig: > 12,0 nmol/l    
grenzwertig: 8,0 – 12,0 nmol/l    
erniedrigt: < 8,0 nmol/l    

Referenzintervalle für Kinder bis 19 Jahre nach [6], für Erwachsene nach [7] (die untere Messgrenze des Tests betrug 0,5 nmol/l); klinische Entscheidungsgrenzen Hypogonadismus des Mannes nach [5]. 

Klinische Entscheidungsgrenzen

Zusätzlich zu den Referenzintervallen existieren für viele Hormone, wie oben bereits erwähnt, klinische Entscheidungsgrenzen. Während Referenzintervalle statistisch abgeleitete Messwertbereiche mit einer Ober- und einer Untergrenze sind, werden klinische Entscheidungsgrenzen (häufig auch Cut-off genannt) aus klinischen Studien abgeleitet und beziehen sich zumeist auf ein spezifisches Krankheitsbild [1]. In der Endokrinologie ist dies in aller Regel eine komplexe Symptomatik oder klinische Konstellation, die durch die Diagnostik abgeklärt werden soll. Zum Beispiel existiert für das Kortisol ein Cut-off nach Dexamethason-Hemmtest zum Ausschluss eines Hyperkortisolismus sowie ein Cut-off nach ACTH-Stimulationstest zum Ausschluss einer Nebennierenrindeninsuffizienz. Es bedarf somit einer engen Kommunikation zwischen den Einsendenden und dem Labor, damit je nach Fragestellung entweder das Referenzintervall oder die jeweilige klinische Entscheidungsgrenze zur Interpretation herangezogen werden kann. Als weiteres Beispiel sei die Diagnostik eines Hypogonadismus bei biologischen Männern genannt. Neben den alters- und geschlechtsabhängigen Referenzintervallen für das Gesamt-Testosteron existieren Entscheidungsgrenzen, nach denen ein Gesamt-Testosteron zwischen 8,0 und 12,0 nmol/l (entspricht 230–350 ng/dl) als grenzwertig gilt und über eine zusätzliche Berechnung des freien Testosterons nach Sartorius [3] aus Gesamt-Testosteron und SHBG bzw. nach Vermeulen [4] zusätzlich aus Albumin weiter auf das Vorliegen eines Hypogonadismus getestet werden sollte [5]. Für das freie berechnete Testosteron exis­tieren zwar in der Fachliteratur Referenzintervalle; die EAU-Leitlinie für sexuelle und reproduktive Gesundheit von 2021 empfiehlt hier aber eine klinische Entscheidungsgrenze von 225 pmol/l, da ab dieser Grenze häufig Symptome eines Hypogonadismus auftreten [5]. Noch komplexer wird der Sachverhalt dadurch, dass Assays zur Messung des freien Testosterons meist nur einen gewissen Teil des freien Testosterons direkt messen und somit Messwerte in ganz anderen Höhen erzeugen als das berechnete freie Testosteron (mitunter um den Faktor 10 niedriger).

Indirekte Verfahren

Seit einiger Zeit haben Methoden zur indirekten Referenzintervall-Überprüfung Einzug in die Labormedizin gehalten. Jedes Labor ist verpflichtet, Referenzintervalle anzugeben und diese regelmäßig zu überprüfen [8]. Der Goldstandard sind hierbei direkte Methoden, bei denen die Referenz­intervalle aus einer in Bezug auf den gemessenen Parameter „anscheinend gesunden“ Referenzkohorte ermittelt werden [9]. Betrachten wir die Komplexität der endokrinologischen Referenzintervalle, so dürfte es für kaum ein Labor möglich sein, diese Referenzintervalle mittels direkter Verfahren für beide biologischen Geschlechter, alle Altersgruppen, alle Pubertätsstadien und und alle Zyklusphasen zu ermitteln. Aufgrund dieser Herausforderung wurde in den letzten Jahren den indirekten Verfahren zur Referenzintervall-Ermittlung und -Überprüfung immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt, die mittlerweile als Alternative akzeptiert und empfohlen werden [9]. Hierbei werden die Referenzintervalle mittels verschiedener statistischer Algorithmen zur Identifizierung der „wahrscheinlich gesunden“ Personen aus den täglich anfallenden Laborroutinedaten berechnet [10–13]. Bei allen Herangehensweisen ist hier wichtig, dass der prozentuale Anteil von pathologischen Messwerten in der untersuchten Kohorte nicht zu hoch sein darf [14]. Als absolute Obergrenze kann man einen Anteil von 25 % ansetzen, aber im Einzelfall können auch 10 % bereits zu einer Verfälschung der Ergebnisse indirekter Verfahren führen. Daraus ergibt sich speziell in der Endokrinologie eine weitere Herausforderung: Während Parameter wie zum Beispiel die Alanin-Aminotransferase (ALAT, GPT) auch im Rahmen von Routine- und Check-Up-Untersuchungen angefordert werden und somit genügen Messwerte von „gesunden“ Personen vorhanden sind, werden endokrinologische Parameter meist nur bei begründetem Verdacht durch die Einsendenden angefordert, wodurch der prozentuale Anteil pathologischer Messwerte stark ansteigt. Hier besteht für die Labormedizin die Aufgabe, geeignete Methoden zur Überprüfung und Ermittlung von Referenzintervallen endokrinologischer Parameter zu entwickeln.

Ausblick

Die in diesem kurzen Beitrag dargestellte Problematik ist nur die Spitze eines wahren Eisbergs an noch ungeklärten Fragen. Künftig wird uns die gesetzlich verankerte Kategorie des „diversen“ Geschlechtes bezüglich der Referenzintervalle vor Herausforderungen stellen. Dabei gestaltet sich die Situation bei transidenten Menschen einfacher, da die meisten transidenten Menschen eine Geschlechtsangleichung innerhalb des binären Geschlechtskonstruktes suchen und somit nicht in die Kategorie „divers“ fallen. Bedeutend schwieriger gestaltet sich die Frage nach Referenzintervallen bei Menschen mit ausgeprägteren Formen einer DSD. Die Labormedizin ist hier in der Pflicht, geeignete Konzepte zu finden, um alle Patient:innen abseits der Kategorien „sex“ und „gender“ lege artis zu versorgen, gegebenenfalls auch über eine Überarbeitung der Geschlechtskategorie „divers“.