Therapie mit Phagen: Wunsch und Wirklichkeit

Phagen weisen zahlreiche wünschenswerte Eigenschaften, wie beispielsweise die Spezifität für ein Zielbakterium und geringe Herstellungskosten, auf. Im Angesicht vermehrt auftretender Antibiotika-Resistenzen könnte die Phagentherapie daher einen Ausweg aus der Krise bieten. Bevor sie in der Therapie von bakteriellen Infektionen eingesetzt werden kann, gilt es aber zunächst erhebliche – insbesondere rechtliche – Hürden aus dem Weg zu räumen.

Schlüsselwörter: Arzneimittelgesetz, Patentrecht, Compassionate Therapy, personalisierte Therapie, Phagenbanken

Vor fast genau 100 Jahren beschrieben unabhängig voneinander der Engländer Frederik Twot (1915) und der Frankokanadier Felix D´Herelle (1917) eine „lytische“, d. h. antibakterielle Wirkung eines ultrafiltrablen Agens auf bestimmte Bakterien. Während es Twot dabei bewenden ließ, widmete D´Herelle sein gesamtes wissenschaftliches Leben der Erforschung dieser Entdeckung. Als Ursache für den Effekt postulierte er die Existenz von Viren und nannte sie „Bacteriophagen“ – Bakterienfresser. 
Bakteriophagen sind Viren, die streng auf einzelne Bakterienarten, z. T. sogar auf bestimmte Stämme spezialisiert sind. Mit geschätzten 1031 Einheiten hat das sog. Phagom zahlenmäßig einen großen, vielleicht sogar den größten Anteil an den Mikrobiota.
Taxonomisch werden die meisten Isolate anhand morphologischer und funktioneller Kriterien in drei Familien unterteilt:
1. Die Siphoviridae – Phagen mit einem langen Schwanz
2. Die Myoviridae – Phagen mit einem kurzen Schwanz
3. Die Podoviridae – Phagen ohne Schwanz

Phagen können mittels spezifischer Rezeptoren an „ihr“ Bakterium binden und ihre DNA injizieren (Abb. 1). Im Rahmen des lytischen Zyklus, der zwischen 20 und 60 Min. dauert, werden sie vom Synthesemechanismus der Zelle vermehrt und nach der Zerstörung des Wirtes wieder freigesetzt. Dabei entstehen zwischen 10 und mehreren 100 neue Phagen, die wiederum weitere Wirte infizieren können.

Alternativ kann im sog. lysogenen Zyklus das Phagengenom in die DNA der Wirtszelle eingebaut und mit dieser repliziert werden (Abb. 2). In diesem Zustand werden keine Phagen produziert, die Wirtszelle ist jedoch gegen weitere Infektionen resistent. Der lysogene Zustand kann durch exogene Faktoren wieder in einen lytischen umgewandelt werden. Für therapeutische Phagen ist der lysogene Zyklus unerwünscht.

Mit der erfolgreichen Anwendung bei der bakteriellen Ruhr, der Pest in Hongkong und der Cholera in Bengalen zeigte D´Herelle das therapeutische Potenzial auf, das in der Anwendung der Phagen steckte und das er zeitlebens zielstrebig propagierte.
Seine Entdeckung löste einen ersten Hype aus. Endlich war es gelungen, eine wirksame Therapie gegen bakterielle Infektionen zu finden. Zahlreiche Unternehmungen schossen aus dem Boden, sogar große Pharmafirmen stiegen in die Produktion und Vermarktung von Phagenpräparaten ein. 

Vorteile der Phagentherapie

  • Phagen greifen nur ein Zielbakterium an. 
  • Phagen stören nicht die Ökologie der übrigen Mikrobiota. 
  • Phagen sind gut verträglich und haben keinerlei Nebenwirkungen. 
  • Mit dem Verschwinden der Zielorganismen verschwinden auch die Phagen. 
  • Phagen sind einfach zu gewinnen und relativ kostengünstig in der Herstellung. 

Vorzeitiges Aus für die Phagen?

Mit der Entdeckung der Sulfonamide und vor allem der Einführung des Penicillins fand die Ära der Phagentherapie allerdings ein jähes Ende. Schon vorher wurde sie von vielen Zeitgenossen mit Skepsis betrachtet. Zum einen war ihre Virusnatur vor der Erfindung des Elektronenmikroskopes (1933) nicht zu beweisen, zum anderen waren die therapeutischen Anwendungen relativ häufig von Misserfolgen begleitet. In völliger Unkenntnis der Natur der Phagen wurden die Präparate oft auf unsachgemäße Art und Weise hergestellt, falsch gelagert und unkritisch angewendet. Die Phagentherapie geriet deshalb im Nachkriegswesten vollkommen in Vergessenheit. Phagen waren lediglich bei der Bakterientypisierung und bei genetischen Forschungen noch von Nutzen. 

Phagen im Aufwind

Im Gegensatz dazu fand die Phagentherapie – ausgehend vom Aliawa-Institut in Tiflis – in den Staaten des Ostblocks, v. a. in Georgien und Polen, weiterhin breite Akzeptanz und eine vielfache Anwendung. Diese Länder hatten den Anschluss an die „goldenen Jahre“ der Antibiotikaentwicklung verpasst und da der Eiserne Vorhang keine Lieferungen an den Feind gestattete, blieben Phagen die einzige therapeutische Option bei Infektionskrankheiten.
Erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts stießen Phagen in den USA und in Europa wieder auf ein verstärktes Interesse. Ursachen waren die zunehmende Ausbreitung multi­resistenter Keime und die mediale Berichterstattung über einzelne z. T. spektakuläre Therapieerfolge. Das führte dazu, dass Phagen heute oftmals als eine Alternative zu Antibio­tika und als ein möglicher Ausweg aus der Antibiotikakrise gesehen werden. 
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit besteht jedoch eine erhebliche Diskrepanz, denn für ihre therapeutische Anwendung sind fast unüberwindliche Hürden zu bewältigen.

Arzneimittel- und Patentrecht

Sollen Phagen zur antimikrobiellen Therapie verwendet werden, gelten sie als Arzneimittel und benötigen ein Zulassungsverfahren nach dem Arzneimittelrecht. Voraussetzung dafür sind die GMP-konforme Produktion sowie der Nachweis der Unbedenklichkeit und der ihrer Wirkung in doppelblinden, randomisierten, klinischen Studien. Obwohl Phagen bereits millionenfach angewendet wurden und immer noch werden, gibt es diese Nachweise bis heute nur für den Fall der Otitis externa, verursacht durch Pseudomonas aeruginosa. Im Falle von Phagoburn, einer Studie zur Behandlung von Pseudomonas-Infektionen auf Brandwunden, musste die Anwendung sogar abgebrochen werden, da sie der klassischen Behandlung mit Silber unterlegen war.
Erschwerend kommt hinzu, dass Phagenpräparate wie Chemikalien bzw. industrielle Medizinprodukte zu behandeln sind und nach ihrer Zulassung nicht mehr geändert werden dürfen. Weder in den USA noch in Europa trägt das Arzneimittelrecht der dynamischen Natur der Phagen-Erreger-Wirtsbeziehung Rechnung. Für diesen besonderen Umstand gibt es bisher keinen regulatorischen Pfad der Zulassung. Auch gelten Phagen nicht als Erfindung, sondern als Entdeckung und sind somit nicht patentierbar. Investoren scheuen deshalb den immensen finanziellen Aufwand von Zulassungsverfahren für den medizinischen Einsatz, der z. B. im Falle von sog. Phagencocktails für jeden Phagen einzeln erbracht werden müsste.

Niedrigere Hürden

Viele Hersteller weichen deshalb auf Anwendungsgebiete mit geringeren Zulassungshürden aus. So wurden z. B. eine Phagenmischung gegen Listeria monocytogenes, sowie ein Cocktail gegen Salmonellen, zur Anwendung auf Nahrungsmitteln von der amerikanischen FDA zugelassen.
Eine weitere Alternative ist die Entwicklung phagenspezifischer Enzyme, die für die lokale Anwendung am Menschen auf dem Weg der Zulassung ist. Bei diesen Endolysinen handelt es sich um Murein-spezifische Hydrolasen, die ursprünglich von Phagen für ihre Freisetzung eingesetzt werden. Sie können so modifiziert werden, dass sie sowohl grampositive als auch gramnegative Erreger erfassen. 

Maßgeschneiderte Phagen

Therapeutisch können Phagen bisher als nicht zugelassene Heilmittel nur in sog. „compassionate use“-Programmen zur „last resort“-Behandlung von Patienten, die an einer lebensbedrohlichen Infektion leiden und bei denen alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden, verwendet werden.
Für Medizintouristen bieten sich Behandlungsmöglichkeiten in Georgien (Aliawa-Institut in Tiflis), Polen (Ludwik-Hirszfeld-Institut für Immunologie und Experimentelle Therapie in Breslau), den USA (The Center for Innovative Phage Applications and Therapeutics at UC San Diego, CA) und neuerdings in Belgien (Queen Astrid Military Hospital in Brüssel) an. 
Dort wurde ein Verfahren entwickelt, das nicht im Widerspruch zu den europäischen Anwendungskriterien für Medikamente steht. Dabei wurde eine pragmatische Regelung implementiert, die dem „compounding pharmacy“-Konzept in den USA entspricht, d. h. basierend auf einer ärztlichen Verordnung werden maßgeschneiderte Phagenmedikamente von einer darauf spezialisierten Einrichtung individuell hergestellt (Abb. 3).

Ein ähnliches Konzept verfolgt in Deutschland das Phagoflow-Projekt, um die Möglichkeit einer personalisierten Phagen­therapie in der stationären Alltagsversorgung unter den zur Verfügung stehenden infrastrukturellen Bedingungen und unter Beachtung der aktuellen gesetzlichen Vorgaben zu evaluieren. Das Projekt, eine Kooperation der Apotheke der Bundeswehr, dem Fraunhofer-Institut für Toxikologie und experimentelle Medizin (ITM) und dem Leibnitz-Institut DMSZ GmbH, beschränkt sich auf die Behandlung von Wundinfektionen an Extremitäten mit multiresistenten Staphylococcus aureus, Pseudomonas aeruginosa und Escherichia coli.
Im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt Phage4cure, einem gemeinsamen Unternehmen der Leibnitz-Institut DMSZ GmbH, der Fraunhofergesellschaft und Instituten der Charité, wird seit 2017 ein inhalierbares Phagenpräparat zur Therapie von Pseudomonas-Infektionen bei Patienten mit zystischer Fibrose (Mukoviszidose) entwickelt und soll nach klinischer Prüfung zur arzneimittelrechtlichen Zulassung gebracht werden.

Phagenbanken

Voraussetzung für Phagentherapien sind sog. Phagenbanken, die Phagen – meist aus der Umwelt – isolieren, charakterisieren und bevorraten. Aus ihnen können fixe Phagenkombinationen, z. B. gegen Staphylokokken, ausgewählt, unter GMP-Bedingungen industriell hergestellt und als Fertigarzneimittel zugelassen und vermarktet werden. 
Alternativ besteht die Möglichkeit einer individualisierten, maßgeschneiderten Therapie, sobald der Erreger des Patienten isoliert werden kann. Anhand eines Phagogramms werden dann wirksame Phagen ausgewählt und unter GMP-Bedingungen produziert. Auf Anordnung eines Arztes werden diese in einer Krankenhausapotheke als „magistrale Anfertigung“ zu einem Phagencocktail zusammengesetzt und mithilfe eines Carriers in die gewünschte Darreichungsform gebracht. Dieses Verfahren bietet die Möglichkeit, den Phagencocktail im Falle einer Resistenzentwicklung oder eines Erregerwechsels zu modifizieren.
Phagenbanken existierten z. B. in Deutschland am Leibniz-Institut DSMZ Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH in Braunschweig und weltweit in zahlreichen weiteren Sammlungen von Mikroorganismen (wie z. B. am Aliawa-Institut in Tiflis und an der US-amerikanischen American Type Culture Collection ATCC).

Auswahlbedingungen für Phagen

  • Die Phagen dürfen keine temperenten Eigenschaften besitzen, d. h. sie dürfen nicht in den Zustand der Lysogenie übergehen. 
  • Die Phagen müssen frei von bakterieller DNA sein. 
  • Das Erregerspektrum der Phagen muss definiert und sollte möglichst breit sein. 
  • Der Phagentiter sollte möglichst stabil und die Phagen über lange Zeit wirksam sein. 
  • In den Phagenpräparaten dürfen weder Endotoxin noch Hämolysin nachweisbar sein. 

Die Zukunft der Phagen

Diese bisherige Praxis der „compassionate therapy“ ist der Versuch einer Anknüpfung an die frühe Ära der Phagentherapie und eröffnete für viele „hoffnungslose“ und „austherapierte“ Fälle die Chance auf eine erfolgreiche Bewältigung ihrer Infektion, ist aber noch weit entfernt davon, eine ernsthafte Alternative zur Antibiotikatherapie zu werden und einen nennenswerten Beitrag zur Einsparung des Antibiotikaverbrauchs zu leisten. 
Weder im „Global action plan on antimicrobial resistance“ der WHO noch in lokalen Programmen wie z. B. der DART 2020 werden Phagen als Alternative zu Antibiotika genannt. 
Dazu müsste viel passieren: Es müssten phagenspezifische Zulassungskriterien erstellt werden, die ähnlich wie bei der Impfstoffherstellung unabhängig vom Inhalt nur die Verfahren der Phagenherstellung und ihre Qualität regulieren. Neben umfassend ausgestatteten Phagenbanken und leistungsfähigen GMP-konformen Herstellungsmöglichkeiten müssten klinisch geprüfte Anwendungsbereiche definiert und zugelassen werden. Und letztendlich müssten auch die Kassen sich zu dieser Therapie bekennen und die Kosten dafür übernehmen. 

Autor
Dr. med. Dr. rer. nat. Anton Hartinger
Mitglied im Fachbeirat
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