Update Neugeborenenscreening: Neue Zielkrankheiten

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2022.01.03

Seit Oktober 2021 werden in Deutschland alle Neugeborenen neben den bisherigen 14 Zielerkrankungen zusätzlich auf die Spinale Muskelatrophie (SMA) und die Sichelzellkrankheit (SCD) gescreent. Die Einführung des SMA-Screenings stellt einen grundlegenden Paradigmenwechsel dar, weil hier zum ersten Mal das Screening primär und ausschließlich über die genetische Diagnostik erfolgt.

Schlüsselwörter: Neugeborenenscreening, Zielkrankheiten, Gendiagnostik, G-BA

Ich möchte den Artikel mit einem Zitat von J. A. Gray und J. Austoker [1] beginnen: „All screening programmes do harm; some also do good. The responsibility of the policy-maker is to decide which programmes do more good than harm at reasonable cost and then introduce them, once they are confident that the screening programme could and will reach the standard of quality required for success. The ratio of benefit to harm is not, however, constant and this relationship demonstrates a shifting balance.”

Vor mehr als 50 Jahren wurde in Deutschland das Neugeborenenscreening auf die Phenylketonurie (PKU) eingeführt. In den folgenden Jahrzehnten kamen schrittweise weitere Erkrankungen hinzu: Galaktos­ämie und Hypothyreose sowie in einzelnen Bundesländern auch Biotinidase-Mangel, Ahornsirupkrankheit, Homozystinurie und Adrenogenitales Syndrom. Für jede dieser Erkrankungen musste im Labor ein neuer Test etabliert und durchgeführt werden. Ende der 1990er-Jahre wurde mit der Tandem-Massenspektrometrie erstmals ein Multiplexverfahren im Neugeborenenscreening eingeführt. Mit dieser Methode kann aus einer 3 µl Vollblutprobe, dem sogenannten „dried-blood spot“ (DBS), ein ganzes Spektrum von Aminosäuren und Acylcarnitinen bestimmt werden. Richard Mauerer [2] hat an dieser Stelle vor drei Jahren bereits ausführlich über die letzten Neuerungen berichtet: die Einführung des Screenings auf Mukoviszidose (Zystische Fibrose, CF) in 2016, auf Tyrosinämie Typ I in 2017, auf den schweren kombinierten Immun­defekt (SCID) in 2019 sowie die damals noch in Beratung befindliche Einführung des Screenings auf die spinale Muskelatrophie (SMA) und die Sichelzellkrankheit (SCD). Die letzten beiden Erkrankungen sind seit Oktober 2021 ebenfalls Teil des Neugeborenenscreenings, das aktuell 19 Zielkrankheiten umfasst (Tab. 1).

 Tab. 1: Zielkrankheiten des deutschen Neugeborenenscreenings, Interferenzen und mögliche 2nd-tier-Methoden.
(CE = Kapillarelektrophorese; FG = Frühgeburtlichkeit; FIA = Fluoreszenz-Immunoassay; HPLC = Hochleistungsflüssigkeitschromatographie; LC-MS/MS = Liquid Chromatography Tandem-Massenspektrometrie; TMS = Tandem-Massenspektrometrie;  *Duarte = Enzymvariante der Galaktose-1-Phosphat-Uridyltransferase).

Zielkrankheit Analysemethode Interferenzen 2nd-tier
Endokrinopathien
Hypothyreose FIA    
Adrenogenitales Syndrom (AGS) FIA Stress, FG Steroidprofil (LC-MS/MS) [1]
Stoffwechselkrankheiten
Störungen des Aminosäurestoffwechsels
Phenylketonurie (PKU) und Hyperphenylalaninämie (HPA)
Ahornsirupkrankheit (MSUD)
Tyrosinämie Typ
 
TMS
TMS
TMS

 

Leberunreife

 

Allo-Isoleuzin (LC-MS/MS) [2]

Organoazidopathien
Glutarazidurie Typ I (GA I)
Isovalerianazidämie (IVA)
 

TMS
TMS

 

 

Pivmecillinam

 

 

Pivaloylcarnitin (LC-MS/MS) [3]

Fettsäureoxidationsdefekte
Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (MCAD)
Long-Chain-3-OH-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (LCHAD)
Very-Long-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (VLCAD)
Carnitin-Palmitoyl-Transferase-I-Mangel (CPT-I)
Carnitin-Palmitoyl-Transferase-II-Mangel (CPT-II)
Carnitin-Acylcarnitin-Translokase-Mangel 

TMS
TMS
TMS
TMS
TMS
TMS
   
Sonstige Stoffwechselerkrankungen
Biotinidasemangel
Klassische Galaktosämie (GALT-Mangel)
Zystische Fibrose (Mukoviszidose)

Photom./Fluorim.
Photom./Fluorim.
Stufe 1 + 2: FIA, Stufe 3:
Molekulargenetisch

 

 

Hitze/Duarte*

 

 

Galaktose 

Immundefekte
Schwere kombinierte Immundefekte (SCID) Molekulargenetisch    
Muskelerkrankungen
Spinale Muskelatrophie Molekulargenetisch    
Hämoglobinopathien
Sichelzellkrankheit TMS/HPLC/CE Transfusion  

Aufgrund neuer diagnostischer Möglichkeiten und neuer Therapieoptionen berät der Gemeinsame Bundesauschuss (G-BA) mittlerweile beinahe regelmäßig über die mögliche Einführung neuer Zielkrankheiten. Bei diesen Beratungen und Überlegungen spielen neben den Kriterien nach Wilson & Jungner [3, 4] auch immer die ethischen Gesichtspunkte eine wichtige Rolle. Das eingangs erwähnte Zitat beschreibt meines Erachtens das Spannungsfeld, in dem solche Entscheidungen getroffen werden müssen, sehr anschaulich. Dennoch kann man insgesamt für das Neugeborenenscreening und die in Tab. 1 aufgeführten Erkrankungen sicher sagen, dass der Nutzen den möglichen Schaden bei weitem übersteigt. Durch die konsequente Anwendung qualitätskontrollierter Analysemethoden und Einführung neuer und sensitiver Analysemethoden tragen die Screeninglaboratorien kontinuierlich zur Verbesserung des Screenings insgesamt und zur Verbesserung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses bei.

Ein sehr wichtiger Punkt, den ich an dieser Stelle hervorheben möchte, ist die Tatsache, dass das Neugeborenenscreening keine reine bzw. alleinige Laborleistung ist. Das Neugeborenenscreening ist ein Programm, bei dem das Screeninglabor und die Labor­untersuchung eine zentrale Rolle spielen, aber auch in gewisser Weise das Bindeglied zwischen allen beteiligten Berufsgruppen (Geburtshelfer:innen, Kinderkrankenpfleger:innen, ärztliches Personal aus Gynäkologie, Neonatologie, niedergelassener Bereich der Pädiatrie und spezialisierte Behandlungszentren) sind. Tab. 2 zeigt die wesentlichen Schritte und Punkte zur Blutabnahme und Dokumentation.

Wie wichtig jeder einzelne im gesamten Screeningprozess ist, wurde erst kürzlich durch den Vorfall in Halle deutlich [5]:  Die Einführung des Sichelzellscreenings und die damit verbundene Differenzierung der Hämoglobinvarianten hat aufgrund von völlig fehlendem fetalen Hämoglobin (HbF) den Hinweis ergeben, dass es sich bei drei Blutproben nicht um das Blut von Neugeborenen handeln konnte. Aber unabhängig von diesem (hoffentlichen) Einzelfall der Probenmanipulation ist es bei steigender Anzahl von Screening-Erkrankungen und immer komplexerer Diagnostik besonders wichtig, neben den üblichen Angaben zum Kind und der Mutter auch die zusätzlichen Angaben auf den Filterkarten, z. B. Transfusion mit Datum der letzten Transfusion, Medikamente usw., sorgfältig auszufüllen. Bei den Medikamenten spielen auch teilweise diejenigen eine Rolle, die der Mutter während der Schwangerschaft verschrieben wurden. Dies betrifft insbesondere das Antibiotikum Pivmecillinam, das zur Behandlung von Harnwegsinfekten bei Schwangeren eingesetzt wird. Je nach Zeitpunkt der Behandlung kann dies zu einem falsch-positiven Verdacht auf eine Isovalerianazidämie führen [6].

Oberstes Ziel im Neugeborenenscreening ist natürlich, alle Kinder, die eine der Ziel­erkrankungen haben, im Screeningprozess zu finden; die Anzahl der falsch-positiven Befunde sollte dabei aber möglichst gering sein. Bei jeder Screeninguntersuchung gibt es immer eine gewisse Überlappung zwischen der Kohorte der gesunden und der betroffenen Kinder, d. h. durch den Laborparameter kann i. d. R. nicht hunderprozentig vorhergesagt werden, ob ein Kind betroffen ist oder nicht. Zur Verbesserung des Screeningprozesses, insbesondere zur Reduktion der Anzahl falsch-positiver Befunde, können bei einem auffälligen Wert des jeweiligen primären Markers sogenannte 2nd-tier-Methoden angewandt werden. Dabei wird mit einer zweiten, spezifischeren Methode aus der gleichen Blutprobe eine Zusatzuntersuchung durchgeführt, mit der die Verdachtsdiagnose aus dem ersten Test bestätigt oder verworfen werden kann (Tab. 1).

Mit dem SMA-Screenings wurde in Deutschland zum ersten Mal eine genetische Untersuchung als primärer Screening­test eingeführt. Unter dem Titel „Gendiagnostik-Angst“ [7] hat Prof. R. Gruber als Kommentar zum Artikel von R. Mauerer [2] seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass sich die Einstellung zur Gen­diagnostik damit ändern würde. Dass sich diese Hoffnungen trotz der Einführung des SMA-Screenings wohl (noch) nicht erfüllt haben, kann man aus dem gleichzeitig eingeführten Sichelzellscreening ablesen. Beim Screening auf die 5q-assoziierte SMA werden über die Detektion einer homo­zygoten Deletion etwa 95 % der Kinder mit SMA gefunden. Beim Screening auf die Sichelzellkrankheit könnte man mit der gleichen Methodik als primäre Diagnostik alle Kinder mit Sichelzellkrankheit erfassen, weil die Bildung des Sichelzellhämoglobins HbS auf einer einzigen Punktmutation im ß-Globin-Gen beruht. Der G-BA hat sich aber beim Sichelzellscreening gegen die direkte Mutationsanalytik entschieden, obwohl in diesem Fall die genetische Information auch direkt aus dem Hämoglobinprofil ablesbar ist. Ob und wann hier ein Paradigmenwechsel erfolgt, bleibt abzuwarten. Die positiven Effekte und die Machbarkeit sind schon seit Langem bekannt und beschrieben, z. B. für das AGS-Screening [8]. Für alle angeborenen Erkrankungen, bei denen es keine Markermetaboliten im peripheren Blut gibt, ist die direkte Gendia­gnostik die einzige Möglichkeit, betroffene Kinder einer frühzeitigen präsymptomatischen Behandlung zuzuführen.

Autor
PD Dr. rer. nat. Ralph Fingerhut
SYNLAB Medizinisches Versorgungs­zentrum Weiden GmbH