Neue Zielkrankheiten

Update Neugeborenenscreening

In Deutschland wird bereits seit längerer Zeit ein Neugeborenenscreening auf angeborene Endokrinopathien und Stoffwechselkrankheiten angeboten. In den letzten Jahren kamen mit der Zystischen Fibrose (2016) und der Tyrosinämie Typ I (2017) zwei neue Zielkrankheiten hinzu. 
Schlüsselwörter: Neugeborenenscreening, Zielkrankheiten, G-BA

Jedes der jährlich knapp 800.000 Neugeborenen in Deutschland hat Anspruch auf die Durchführung eines Neugeborenenscreenings. Dazu wird in den ersten 36 bis 72 Lebensstunden Fersenblut auf Filterpapier – sogenannte Trockenblutkarten – aufgetropft und an ein autorisiertes Labor geschickt. Seit 2005 beinhaltet das Programm 14 angeborene Stoffwechsel- und Hormonstörungen, 2016 kam das Screening auf Mukoviszidose (Zystische Fibrose, CF), 2017 das auf Tyrosinämie Typ I hinzu (Tab. 1). Die Aufnahme primärer Immundefekte (SCID) wurde vom G-BA bereits beschlossen und tritt ab August 2019 in Kraft. 

 

 

Vor diesem Hintergrund wurde die S2k-Leitlinie „Neugeborenenscreening auf angeborene Stoffwechselstörungen, Endokrinopathien und Mukoviszidose“ Anfang des Jahres überarbeitet und ergänzt [1]. Diese enthält neben einer allgemeinen Einführung einschließlich rechtlicher Grundlagen und praktischer Hinweise zur Probennahme jeweils eine kurze Beschreibung der aktuellen Zielkrankheiten. 

Da es sich hierbei um seltene Erkrankungen handelt, ist insbesondere auch die Einschätzung der klinischen Wertigkeit für die schnelle Orientierung hilfreich. Die konkreten Empfehlungen bezüglich der einzuhaltenden Fristen reichen von unverzüglicher Einweisung – möglichst in ein pädiatrisches Stoffwechselzentrum (z. B. bei LCHAD-Mangel) – über Vorstellung am nächsten Werktag (z. B. Hypothyreose) bis zu Abklärung erst ab dem 14. Lebenstag (bei Mukoviszidose). Auch kurze Hinweise zur diagnostischen Abklärung auffälliger Screeningbefunde (Konfirmationsdiagnostik) bzw. Therapie werden gegeben. Eine detailliertere Darstellung der Konfirmationsdiagnostik findet sich in der S1-Leitlinie „Konfirmationsdiagnostik bei Verdacht auf angeborene Stoffwechselerkrankun-gen aus dem Neugeborenenscreening“, die derzeit ebenfalls überarbeitet wird [2].

Tyrosinämie Typ I

Bei der Tyrosinämie Typ I handelt es sich um eine angeborene Abbaustörung der Aminosäure Tyrosin. Der Erbgang ist autosomal-rezessiv, die Prävalenz wird mit ca. 1 : 135.000 geschätzt [1]. Durch Mutationen im FAH-Gen kommt es zu einem Mangel des Enzyms Fumaryl-Acetoacetat-Hydrolase (FAH) mit konse-kutiver Akkumulation zytotoxischer Metaboliten wie Maleyl- und Fumaryl-Acetoacetat, die eine schwere Schädigung der Leber und der Nieren verursachen können. Der klinische Verlauf ist variabel: Bei den schweren neonatalen Formen fallen ungescreente Kinder bereits in den ersten Lebensmonaten durch eine Hepatopathie mit Leberinsuffizienz (typischerweise Koagulopathie) auf, subakute Formen imponieren ab etwa dem sechsten Lebensmonat durch Gedeihstörun-gen, Hepatosplenomegalie, Nephropathie und hypophosphatämische Rachitis. Porphyrieartige neurologische Krisen können im weiteren Verlauf komplizierend auftreten [3]. 

Der laborchemische Leitparameter ist eine erhöhte Konzentration von Succin-ylaceton, das sich als Folgeprodukt im Blut anhäuft; die direkte Bestimmung des Tyrosins ist für die Diagnose zu wenig sensitiv. Bei positivem Ergebnis des Screenings liegt eine klinische Notfallsituation vor, die die klinische Vorstellung innerhalb von 24 Stunden in einem pädiatrischen Stoffwechselzentrum er-fordert. Die Konfirmationsdiagnostik umfasst die Bestimmung von Succin-ylaceton in Blut und Urin, die Bestimmung der FAH-Aktivität in Fibroblasten sowie die molekulargenetische Untersuchung des FAH-Gens. Die Therapie besteht in einer Phenylalanin- und Tyrosin-armen Diät sowie der Gabe von NTBC (Nitisinon), das die Umwandlung von Tyrosin zu den toxischen Metaboliten Maleyl- und Fumaryl-Acetoacetat hemmt [1, 2].

SCID

Primäre Immundefekte (PID) sind eine heterogene Gruppe angeborener Defekte des Immunsystems. Derzeit kennt man mehr als 300 –  zumeist molekular-genetische – Defekte, die von der International Union of Immunological Societies (IUIS) in neun phänotypisch-definierte Klassen eingeteilt werden [4].

Kombinierte Immundefekte (severe combined immunodeficiences, SCID), bei denen sowohl die zelluläre als auch die humorale Immunität beeinträchtigt ist, gehören zu den schwersten Formen der Immundefizienz überhaupt. Sie sind durch eine T-Lymphopenie mit oder ohne B-Lymphopenie definiert und verlaufen ohne adäquate Diagnostik und Therapie häufig bereits im ersten Lebensjahr letal. Die zunächst meist gesunden Kinder entwickeln ab etwa dem dritten Lebensmonat schwere, z. T. lebensbedrohliche Infekte, die wiederholte und prolongierte Anti­biotikagaben notwendig machen. Gedeihstörungen, ausgeprägte und protrahierte Durchfälle und Hautausschläge sind weitere Symptome. Die AWMF-Leitlinie „Diagnostik auf Vorliegen eines primären Immundefekts“ [5] fasst die typischen klinischen PID-Manifestationen im Akronym ELVIS zusammen und empfiehlt bei Infektionen durch ungewöhnliche Erreger, an ungewöhnlicher Lokalisation, mit ungewöhnlichem Verlauf bzw. erheblicher Intensität, die in Summe gehäuft auftreten, an einen primären Immundefekt zu denken.

 

Ziel des SCID-Screenings ist es, betroffene Kinder vor der klinischen Manifes-tation schwerer Infekte zu identifizieren, da gezeigt wurde, dass sich dadurch die Prognose verbessern lässt. So verbesserte sich das Gesamtüberleben bei frühzeitiger Diagnose (bei Geburt) und anschließender allogener Stammzell-transplantation auf 90% im Vergleich zu 40% bei verspäteter Diagnose (im Mittel Tag 143) [6].

Da aus den im Neugeborenenscreening eingesetzten Filterpapierkarten kein Differenzialblutbild bestimmt werden kann und zudem die Absolutzahl der T-Lymphozyten durch engraftete mütterliche T-Lymphozyten bzw. durch Expansion weniger T-Zellklonotypen bei manchen Kindern noch normal ist, war bis vor wenigen Jahren ein flächendeckendes Screening auf SCID nicht möglich. Dies änderte sich mit der Entwicklung einer PCR-Methode zur quantitativen Bestimmung von TRECs (T-cell receptor excision cycles). TRECs werden im Thymus während des T-Zellrezeptor-Rearrangements gebildet. Es handelt sich um kleine, analytisch stabile, zirkuläre DNA-Elemente, die fast exklusiv bei der Reifung der T-Zellen im Thymus entstehen und somit direkt mit der Produktion von T-Zellen im Thymus korrelieren. Sie werden nicht repliziert und sind damit ein idealer Marker zum Screening auf SCID, aber auch auf andere Erkrankungen bzw. Zustände, die mit einer erniedrigten T-Zellzahl einhergehen. Wie auch für alle anderen Zielkrankheiten im Neugeborenenscreening gilt daher, dass ein auffälliger Befund nur als Hinweis auf Vorliegen einer Erkrankung, nicht jedoch als Diagnose gewertet werden darf. 

Neben den TRECs wird zur Qualitätssicherung das „Housekeeping“-Gen β-Actin bestimmt. Das Screeninglabor wird daher je nach Befund entweder eine Kontrolluntersuchung oder die rasche Vorstellung in einer Immundefektambu-lanz empfehlen (Abb. 1) [8]. Zur Vermeidung einer CMV-Infektion sollte nach auffälligem Screening bis zum Vorliegen einer negativen CMV-Serologie der Mutter auf das Stillen verzichtet werden. Auch Lebendimpfungen sind bis zum sicheren Ausschluss eines falsch-positiven Screeningergebnisses nicht indiziert.

Die Folgediagnostik sollte in einer Einrichtung, die mit der Diagnose und Therapie von Immundefekten vertraut ist, erfolgen. Der erste Schritt umfasst dabei neben Anamnese und klinischer Untersuchung die Untersuchung des Differenzialblutbildes, die Bestimmung der Immunglobulinkonzentrationen (IgG, IgM, ggf. IgA und IgE) und die durchflusszytometrische Analyse der T- und B-Lymphozyten sowie der NK-Zellen. Ergibt sich daraus oder bereits im Screening der dringende Verdacht auf einen Immundefekt („urgent positive“), wird eine umgehende Vorstellung in einem Immundefektzentrum empfohlen. Dort erfolgen über die o. g. Tests hinaus diverse ergänzende Untersuchungen, etwa eine Subtypisierung der T-Zellpopulationen inkl. T-Zellproliferationsassays sowie Enzymaktivitätsbestimmungen (z. B. ADA). Vor einer allogenen Stammzelltransplantation sollte auch die Radiosensitivität der Lymphozyten untersucht werden. Geeignete Einrichtungen können z. B. über die Website der Arbeitsgemeinschaft pädiatrische Immunologie (www.api-ev.eu) aufgerufen werden.

Abschließend seien noch zwei Zielkrankheiten vorgestellt, die sich derzeit in der Prüfung durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) befinden. Eine davon ist selten, die andere gewinnt bei zunehmender Einwanderung aus Afrika sowie dem Mittelmeerraum und Nahen Osten immer stärker an Bedeutung.

SMA

Bei der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie (SMA) handelt es sich um eine autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, bei der es durch Mangel des Survival-Motor-Neuron-Proteins (SMN) zur Schädigung und zum Untergang der Motoneuronen im Vorderhorn des Rückenmarks kommt. Klinisch besteht eine progrediente Muskeldegeneration und -schwäche. Bei der schweren Form (SMA Typ 1) beginnt die Krankheit in den ersten Lebensmonaten; ohne Therapie erlernen die Kinder nie das freie Sitzen und versterben in den ersten beiden Lebensjahren durch respiratorische Insuffizienz und/oder Infektionen. 

Molekulare Grundlage sind zu 95% homozygote Deletionen der Exone 7 und ggf. 8 des SMA1-Gens auf dem langen Arm von Chromosom 5 (daher der Namenszusatz 5q-assoziiert). Die Inzidenz wird mit ca. 1 : 8.000 angegeben. Der dadurch entstehende Mangel des zum Überleben der Motoneuronen notwendigen SMN-Proteins kann teilweise durch die Produktion dieses Proteins durch das SMN2-Gen kompensiert werden. SMN2 codiert für zwei alternative Splice-Varianten, wobei die bevorzugte Form zur Bildung eines instabilen Proteins führt. Aus diesem Grund werden normalerweise nur ca. 5 bis 10% des stabilen und voll funktionsfähigen SMN-Proteins gebildet. Medikamentös wird dieser Mechanismus bei der Therapie mit Nusinersen genutzt, einem Antisense-Oligonukleotid, das die SMN2-codierte SMN-Proteinproduktion über die Bevorzugung der stabilen Splice-Variante erhöhen soll. Weitere gentherapeutische und supportive Therapien befinden sich in der klinischen Erprobung. 

Ziel des bislang nur im Rahmen von Pilotprojekten angebotenen Neugeborenenscreenings auf 5q-assoziierte SMA ist die frühere Identifikation von betroffenen Kindern. Dadurch soll ein möglichst frühzeitiger Beginn der Behandlung ermöglicht und somit die nur sehr eingeschränkt reversible Neurodegeneration verhindert werden. Das IQWIG wurde Ende 2018 vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) mit der Prüfung beauftragt. Die entsprechenden Anhörungen laufen, ein Abschlussbericht soll dem G-BA im ersten Quartal 2020 vorgelegt werden [9].

Sichelzellanämie

Weiter ist das IQWIG mit der Prüfung der Einführung eines Sichelzellscreenings befasst. Das Sichelzellscreening soll behandlungsbedürftige Patienten mit Sichelzellerkrankung, d. h. homozygote Träger des Sichelzellhämoglobins HbS (HbSS), compound-heterozygote HbS-Anlageträger in Kombination mit anderen anomalen Hämoglobinen (HbC, seltener Hb O Arab u. a.) oder mit β-Thalassämie (HbS-β-Thal), identifizieren. Inwieweit Patienten mit anderen klinisch relevanten Erkrankungen, z. B. einer β-Thalassaemia major, erfasst werden sollen, bleibt zu klären. In klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Großbritannien oder Frank­reich ist das Sichelzellscreening längst etabliert. 

Die frühzeitige Erkennung der Sichelzellerkrankung ermöglicht es, durch Vermeidung auslösender Faktoren und durch konsequente Infektionsprophylaxe inklusive Impfungen, Komplikationen und vaso-okklusive Krisen zu vermeiden. Ein wichtiger Baustein ist dabei die Schulung der Angehörigen, die u. a. in die Lage versetzt werden sollen, auf lebensbedrohliche Komplikationen, wie die Milzsequestration mit hypovolämischem Schock, adäquat zu reagieren. Der Anfang April dieses Jahres veröffentlichte Vorbericht des IQWIG zieht das positive Fazit, dass ein Screening, an das sich weitere Interventionen wie eine Angehörigenschulung und infektionsprophylaktische Maßnahmen anschließen, hinsichtlich der Vermeidung von Todesfällen klinischen Nutzen zeigen könnte [10]. Ende Mai endete die Frist für die Stellungnahmen; im Quartal 3 2019 soll der Abschlussbericht des IQWIG an den G-BA übergeben werden.

Therapie der PKU

Trotz aller Neuerungen im Screening sind auch die alten Zielkrankheiten kein „alter Hut“. So steht für die Behandlung der Phenylketonurie (PKU), auf die in Deutschland mit dem sog. Guthrie-Test schon in den 1960er-Jahren gescreent wird, seit Kurzem auch in Europa eine neue Behandlungsoption zur Verfügung. Der Wirkstoff Pegvaliase ist für PKU-Patienten ab 16 Jahren zugelassen, wenn mit konventionellen Therapien keine ausreichende (< 600µmol/l) Senkung des Phenylalaninspiegels erreicht werden konnte. Das Präparat enthält das rekombinant hergestellte und pegylierte Enzym Phenylalanin-Ammoniak-Lyase (rAvPAL), das in vivo den Phenylalaninspiegel im Blut senkt [11]. Der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat zum 01.07.2019 ein entsprechendes Nutzenbewertungsverfahren eingeleitet [12].     

  

Autor
Dr. med. Richard Mauerer
SYNLAB Medizinisches Versorgungs­zentrum Weiden GmbH
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