Die Entdeckung und Anwendung von Röntgenstrahlung
1895 entdeckte Wilhelm Conrad Röntgen die Röntgenstrahlung und nannte sie „X“-Strahlen. Die ersten von ihm gefertigten Röntgenbilder lösten Begeisterung in der Gesellschaft aus und die Röntgendiagnostik in der Medizin war geboren. Bereits ein Jahr nach der Entdeckung der Röntgenstrahlung wurde ionisierende Strahlung zur Therapie von nicht-malignen (sog. „gutartigen“) Erkrankungen eingesetzt und 1899 erstmals für die Bestrahlung von Oberflächentumoren. Schnell erkannte man aber auch, dass neben den gewünschten tumorvernichtenden Wirkungen auch Nebenwirkungen im Normalgewebe auftraten, die zur Tumorentstehung führen können.
Die DNA als strahlensensible Struktur der Zelle
Bei der Entschlüsselung der Doppelhelix-Struktur der DNA im Jahr 1953 durch die Molekularbiologen James Watson und Francis Crick ging man noch davon aus, dass die DNA absolut stabil und unveränderlich ist. Dieses Bild änderte sich Anfang der 1970er-Jahre, als am Karolinska Institut in Stockholm herausgefunden wurde, dass die DNA sehr wohl anfällig für Schäden ist, diese aber meist effizient wieder repariert werden. Sind diese Schäden, die etwa durch Röntgenstrahlen in der Strahlentherapie von Tumorerkrankungen erzeugt werden, allerdings zu groß und komplex, so werden sie nicht mehr korrekt oder gar nicht mehr repariert und die bestrahlte Zelle mutiert oder stirbt. Man ging sehr lange davon aus, dass die Röntgenstrahlung entweder direkt oder indirekt durch die Bildung von reaktiven Sauerstoffradikalen (reactive oxygen species, ROS) nur auf die strahlensensible DNA in der Zelle einwirkt und keine weiteren Strukturen betroffen sind. Dieses Bild hat sich allerdings in den letzten zwei Jahrzehnten stark verändert und heute ist klar, dass neben den sogenannten „gezielten lokalen Effekten“ der Strahlung auf die DNA zahlreiche sogenannte „nicht-gezielte Effekte“ auftreten, zum Beispiel allgemeine Stressantworten der bestrahlten Zellen, die sich dann auch auf weitere Zellen und sogar den ganzen Organismus übertragen können [1].
Veränderung des immunologischen Phänotyps von bestrahlten Zellen und der abskopale Effekt der Strahlentherapie
Strahlungsinduzierter oxidativer Stress und DNA-Schäden in der Zelle aktivieren zahlreiche Signalwege, welche die Expression von Genen beeinflussen, und lösen folglich ein breites Spektrum an zellulären Antworten aus, das von Förderung des Zellüberlebens bis hin zum Zelltod reicht [2]. Die Forschung des letzten Jahrzehnts hat aufgedeckt, dass nach Exposition von Tumorzellen mit einer in der Strahlentherapie für Krebserkrankungen eingesetzten Dosis, die in Gray (Gy; entspricht Joule/kg) angegeben wird, sich der immunologische Phänotyp der Zellen sowie die Tumormikroumgebung verändern. Neben immunstimulierend wirkenden Veränderungen wie einer erhöhten Expression von MHCI-Molekülen, Todesrezeptoren und Stressliganden auf der Tumorzelloberfläche werden hauptsächlich durch die Induktion von immunogenem Tumorzelltod (ICD) Gefahrensignale wie ATP, HMGB1 und HSP70 sowie immunstimulierende Zytokine freigesetzt. Allerdings führt eine Bestrahlung der Zellen auch zu immununterdrückend wirkenden Veränderungen wie einer erhöhten Expression des Immun-Checkpoint-Moleküls PD-L1 und zur Freisetzung von TGF-β. Welche dieser Veränderungen überwiegen, ist individuell sehr unterschiedlich und bestimmt letztendlich, ob durch eine alleinige Strahlentherapie neben den lokalen Effekten der Tumorzellabtötung noch zusätzlich lokal und systemisch wirkende Anti-Tumor-Immunreaktionen ausgelöst werden [3]. Die durch lokale Bestrahlung ausgelösten und systemisch wirkenden Immunantworten werden als „abskopale Effekte“ der Strahlentherapie bezeichnet und wurden erstmals von Mole 1953 theoretisch beschrieben [4]. Da allerdings Strahlung sowohl immunaktivierend wie auch immununterdrückend wirkt (Abb. 1), wird der abskopale Effekt in der Klinik meist nur bei der Kombination aus Bestrahlung mit zusätzlicher Aktivierung des Immunsystems mit Immuntherapien, insbesondere mit Immun-Checkpoint-Inhibitoren, beobachtet und ist mechanistisch auf immunologische Reaktionen zurückzuführen [5].