EFLM-Leitlinie zur Urinanalyse: Umfassende Aktualisierung

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2024.01.01

Die EFLM Task and Finish Group Urinalysis hat die ECLM European Urinalysis Guideline aus dem Jahr 2000 zur Urinanalyse und Urinbakterienkultur für Patient:innen mit Harnwegsinfektionen und mit unterschiedlichem Risiko für Nierenerkrankungen aktualisiert. Die Leitlinie unterstützt medizinisch begründete und wirtschaftlich ausgewogene Laborprozesse unter Berücksichtigung der Anforderungen der DIN EN ISO 15189:2022 sowie die Diagnostikindustrie bei Qualitätsspezifikationen für neue Technologien.

Schlüsselwörter: Präanalytik, Urinteststreifen, Urineiweißdifferenzierung, Automatisierung, Bakterienkultur im Urin, Urinpartikel

Die European Confederation of Laboratory Medicine (ECLM) veröffentlichte im Jahr 2000 die erste europäische Urinanalyse-Leitlinie zu Laborverfahren für die Urinanalyse und Urinbakterienkultur [1, 2]. Nach 20 Jahren wurde der Text nun von der Task and Finish Group Urinalysis der European Federation of Clinical Chemistry and Laboratory Medicine (EFLM) zusammen mit Fachleuten aus Laboratorien der klinischen Chemie und der klinischen Mikrobiologie aktualisiert. Eine gemeinsam untersuchte Einzelurinprobe war eine verbindende Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen diesen Labordisziplinen. Die Leitlinie richtet sich sowohl an Labore als auch an die diagnostische Industrie in diesem Bereich.

Zentrale Punkte

Im Zeitraum von 2018 bis 2022 wurden gründliche Literaturrecherchen durchgeführt, um die vorhandenen Erkenntnisse bezüglich der manuellen und automatisierten Technologien in der Präanalytik, Urinanalyse und Urinbakterienkultur auf den neuesten Stand zu bringen. Um Laborprozesse und die Verwendung von Gesundheitsressourcen zu optimieren, wurden neue medizinische Strategien im klinischen Alltag und bei speziellen Patientengruppen mit Verdacht auf Nierenerkrankungen und Harnwegsinfektio­nen berücksichtigt. Für eine Anpassung auf lokale Gegebenheiten wird eine Zusammenarbeit und Strategieplanung von klinischen Laboren und deren Einsendern auf nationaler Ebene dringend empfohlen

Ein Schwerpunkt lag auf der Bedeutung von Referenzuntersuchungen (falls quantifiziert: Messverfahren), mit einer neuen Empfehlung für Referenzuntersuchungen an Urinbakterienkulturen. Der Notwendigkeit, klinische Labore bei der Übernahme der Anforderungen der DIN EN ISO 15189:2022 [3] zu unterstützen und die Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR) 2017/746 der Europäischen Union [4] zu befolgen, wurde Rechnung getragen. Die überarbeiteten Empfehlungen wurden zur praktischen Umsetzung unter Verwendung des GRADE-Systems [5] erstellt.

 

Zentrale Punkte

Die Leitlinie besteht aus sieben Abschnitten, die dem routinemäßigen Laborprozess folgen (Abb. 1), von präanalytischen bis hin zu analytischen Verfahren.

Der Text der Leitlinie umfasst in der Endversion 271 maschinengeschriebene Seiten. 

 

Abschnitt 1: Medizinischer Bedarf und Testanforderung

Labortests sollten je nach Risiko (Nierenerkrankung) oder Symptomen einer schweren Erkrankung (Harnwegsinfektion, HWI) angefordert werden. Es wurden Strategien für Urintests bei Patient:innen mit kompliziertem und unkompliziertem Harnwegsinfekt beschrieben, wobei auch die Leitlinien der European Urology Association für urologische Infek­tionen berücksichtigt wurden [6] sowie eine internationale Empfehlung zur Verwendung des Acute Cystitis Symptoms Score bei unkompliziertem unteren Harnwegsinfekt bei nicht schwangeren Frauen [7]. Die internationale KDIGO-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung chronischer Nierenerkrankungen [8] wurde aufgenommen und um die Erfassung tubulärer Dysfunktionen ergänzt. Grundsätzlich wird eine elektronische Untersuchungsanforderung empfohlen, um den Austausch klinischer Informationen zwischen Personal in der Klinik und in den Laboren zu unterstützen und Fehler bei der Patienten- oder Probenidentifizierung zu vermeiden. Als Formatbeispiele für die insgesamt 65 Empfehlungen werden die sieben in Abschnitt 1 aufgeführten Empfehlungen dargestellt (Tab. 1).

Tab. 1: Empfehlungen für die Anforderung von Urintests (Abschnitt 1). 
a Stärken von Empfehlungen (SoR, Strength of Evidence) sind: 1 = starke, 2 = schwache Empfehlung. 
Die Evidenzgrade (LoE, Level of Evidence) sind: A = hoch, B = mäßig, C = niedrige Evidenzqualität, D = Konsens der Experten. Es wurde eine Labormodifikation des GRADE-Ratings [5] verwendet.

 

Nr.

 Empfehlung

SoR (1–2) und LoE (A–D)a

1

Epidemiologie und klinische Symptome der Krankheiten sowie die diagnostische und prognostische Bedeutung der ausgewählten Tests werden als Richtschnur für den klinischen Einsatz von Urinanalysetests empfohlen.

1, B

2

Urintests sollten basierend auf der Einschätzung des Risikos oder des Vorliegens einer schweren oder komplizierten Erkrankung angefordert werden. Es wird eine spezifische Testplanung zwischen Laboren und Kliniken empfohlen (diagnostic stewardship), um Nutzen und Ressourcen abzuwägen.

1, C

3

Allgemeine Screening-Strategien für Niedrigrisiko- und Routinepatient:innen (Workflow-Optimierung) sind von der gezielten Diagnostik für Hochrisiko- oder komplizierte Patient:innen oder hochwertigen Sonderproben zu trennen.

1, C

4

Die Suche nach einer asymptomatischen Bakteriurie soll bis auf wenige Ausnahmen nicht durchgeführt werden, um unnötige Antibiotika-Behandlungen und Selektion multiresistenter Isolate uropathogenen Bakterien zu vermeiden.  Ausnahmen sind schwangere Frauen und Patient:innen, die sich invasiven urologischen Eingriffen mit Schleimhautverletzungen unterziehen.

1, A

5

Quantitative spezifische Proteinmessungen werden als primäre Untersuchungen zur Erkennung und Nachverfolgung von Nierenerkrankungen bei Hochrisikopatient:innen empfohlen.

1, A

6

Zur gezielten Erkennung einer Nierenerkrankung bei Patient:innen mit Proteinurie mit niedrigem und hohem Risiko wird entweder eine erweiterte automatisierte Zählung oder eine visuelle Mikroskopie von Urinpartikeln empfohlen.

1, B

7

Die Anforderung und Meldung von Urinanalysetests über elektronische Schnittstellen mit lokalen Diagnosealgorithmen wird empfohlen. Die elektronische Übertragung verbessert den Austausch systematischer Informationen zwischen Ärzt:innen und Laboren, einschließlich Probendetails.

1, B

Abschnitt 2: Patientenvorbereitung

Die Interaktion von Patient:innen und Fachleuten sollte verbessert werden, um das Verständnis und die Motivation der Betroffenen zu steigern. Kulturell angepasste Materialien können dabei unterstützen, die Qualität der Mittelstrahlurinsammlung zu verbessern. Den Laboren wird empfohlen, eine Materialdatenbank mit Patientenanweisungen zu führen, die bei Bedarf zur Verfügung steht.

Abschnitt 3: Probensammlung

Es wird empfohlen, die qualitativ hochwertige Urinsammlung und -konservierung mit zwei Qualitätsindikatoren zu überwachen:

(i) Die Kontaminationsrate von Proben sollte in Urinkulturen auf Laborebene kontrolliert werden. Das polymikrobielle Wachstum in Mittelstrahlurinproben sollte bei 104 KBE/ml (entspricht 107 colony-forming bacteria, CFB/L) möglichst unter 15 % liegen.

(ii) Die Dichte des Urins muss bei chemischen Messungen und Partikelzahlen im Urin angegeben werden, um eine unterschiedliche Volumenrate der Harnausscheidung der Patienten (Diurese) bei den Messungen zu kompensieren. Für sehr unterschiedliche Patientenpopulationen wird vor dem Sammeln von Urin im Mittelstrahl eine Reinigung des Intimsbereichs angeraten, um die dabei auftretenden hohen Kontaminationsraten der Proben zu reduzieren. Für die Diagnose einer Harnwegsinfektion bei Kindern oder älteren Menschen ohne Harnkontrolle empfiehlt sich eine Einzelkatheter-Urinprobe oder eine suprapubische Aspirationsprobe. Bei allen besprochenen Untersuchungen wurden die Konservierungsanforderungen und die Überprüfung der Konservierungsstoffe in den Sammelbehältern aktualisiert.

 

Abschnitt 4: Genauigkeitsstufen

Die Methoden wurden basierend auf der Genauigkeit der Untersuchung in Stufe 1 (Ordinalskala oder schnelle Methoden), Stufe 2 (quantitativ, Routinemethoden in Laboren) und Stufe 3 (höchste Referenzvergleichsmethoden) eingeteilt.

 

Abschnitt 5: Chemie

Messungen von Urinalbumin und α1-Mikroglobulin werden zur sensitiven Diagnostik von Nierenerkrankungen bei Hochrisikopatient:innen empfohlen, d. h. bei Personen mit Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit bekannten Nierenkomplikationen. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Patient:innen mit chronischer Nierenerkrankung können durch ein Albuminurie-Screening erkannt werden. In der Leitlinien findet man Leis­tungsspezifikationen für Urinproteinmessungen (Stufe 2) und die Qualitätskontrolle von Multiparameter-Streifentests (Stufe 1) sowie eine analytische Leistungsspezifikation (APS, analytical performance specification) für die Messung von Urinalbumin.

 

Abschnitt 6: Partikel

Verfahren zur Partikelzählung und -erkennung wurden für klinisch relevante Urinpartikel überprüft. Für die visuelle Mikroskopie von Urinpartikeln wird die Phasenkontrastoptik empfohlen. In der Leitlinie werden gesundheitsbezogene obere Referenzgrenzen für Leukozyten und Erythrozyten sowie diagnostische Grenzwerte für die häufigsten Partikel angegeben. Labore sollten ihr routinemäßiges quantitatives Verfahren (Stufe 2) bei Patientenergebnissen klar beschreiben und befolgen sowie die von der IFCC-IUPAC empfohlenen SI-Einheit (Partikel x 106/L) nutzen. Für die Klassifizierung dysmorpher Erythrozyten im Urin wird ein operatives Verfahren vorgeschlagen. Labore müssen den Rahmen des vorgegebenen visuellen mikroskopischen Referenzverfahrens (Stufe 3) zur Instrumentenüberprüfung befolgen. Die Verifizierung automatisierter Partikel­analysatoren wird durch statistische Modellierung und analytische Leistungsspezifikationen (APS) unterstützt.

 

Abschnitt 7: Bakteriologie

E. coli können auf chromogenen Agar-Platten schnell und kostengünstig kulturbasiert identifiziert werden; daher werden sie als Primärmedium bei der Verarbeitung von Urinkulturen empfohlen. Ein neuer optimierter Arbeitsablauf für Routineproben, bei dem die Leukozyturie sowie neue Grenzwerte für relevantes („signifikantes“) Bakterienwachstum genutzt werden, soll bewirken, dass antimikrobielle Empfindlichkeitstests nur bei klinisch relevanten Urinproben durchgeführt werden. Durch die Automatisierung in der Bakteriologie werden Durchlaufzeiten verkürzt. Ferner sollten Antibiotika-Empfindlichkeitstest (AST) gemäß den EUCAST-Richtlinien durchgeführt werden. Urinproben von Hochrisikopatient:innen erfordern eine besondere Bearbeitung: Sie müssen länger (48 h) und mittels sensitiver Kulturverfahren (z. B. Blutagar in einer 5 % CO2 -Atmosphäre) sowie mit einem Inokulum von 10 bis 100 µL durchgeführt werden, um 103 bis 102 KBE/ml (oder 106 bis 105 CFB/L) reproduzierbar zu erreichen.

Die Matrix-unterstützte Laser-Desorption-Ionisation-Flugzeit-Massenspektrometrie (MALDI-TOF-MS) eignet sich zur schnellen Identifizierung von Uropathogenen und wird mittelgroßen und großen bakteriologischen Laboren empfohlen. Aerococcus urinae, A. sanguinicola und Actinotignum schaalii wurden in die Liste der Uropathogene aufgenommen. Darüber hinaus wurde ein neuartiges Referenzuntersuchungsverfahren für Urinbakterienkulturen entwickelt, um die Überprüfung der Leistung automatisierter Instrumente zu unterstützen oder bei der gezielten Bewertung von Routineverfahren zum Nachweis und zur Isolierung von Bakterien zu helfen.

 

Leitlinienakzeptanz im EFLM

Nach öffentlichen Überprüfungen und Verbesserungsvorschlägen für den Leitlinienentwurf durch die EFLM National Societies (NS), den Leitlinien-Unterausschuss der ESCMID (European Society of Clinical Microbiology and Infectious Diseases) und einige nationale mikrobio­logische Gesellschaften wurde der überarbeitete Leitlinientext den NS gemäß den EFLM-Verfahren für Dokumente des Typs 1a zur Abstimmung vorgelegt. Das Dokument wurde im Dezember 2023 von den 41 NS mit 28 JA-Stimmen und einer NEIN-Stimme (bei der mehr klinische Aspekte gefordert wurden) angenommen. Zwölf Gesellschaften beteiligten sich nicht an der Abstimmung. Die EFLM European Urinalysis Guideline wird derzeit zur Veröffentlichung in der Zeitschrift Clinical Chemistry and Laboratory Medicine vorbereitet. Die Inhalte der mikrobiologischen Abschnitte sind von der ESCMID offiziell genehmigt worden. Die Webseite der EFLM-Urin­analysegruppe erreichen Sie unter: https://www.eflm.eu/site/page/a/1466.  

Autoren
Dozent Dr. med. Timo Kouri (Korrespondierender Autor)
Vorsitzender der EFLM Task and Finish Group Urinalysis
Abteilung für Klinische Chemie
Universität Helsinki, und HUSLAB, HUS-Diagnosezentrum Helsinki
Prof. Dr. med. Walter Hofmann
Synlab MVZ, Augsburg und Dachau
Prof. Dr. med. Sören Schubert
Max von Pettenkofer- Institut für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie Medizinische Fakultät
Ludwig-Maximilians-Universität München
Dozent Dr. med. Rosanna Falbo
Universitätsabteilung für Labormedizin ASST Brianza
Krankenhaus Pio XI Desio (MB), Italien
Dr. pharm. Matthijs Oyaert, PhD
Abteilung für Labormedizin
Universitätsklinikum Gent, Belgien
Dr. med. Jan Berg Gertsen, MD
Abteilung für Klinische Mikrobiologie
Universitätsklinikum Aarhus Skejby, Dänemark
Prof. Dr. med. Audrey Merens
Service de Biologie Médicale
Hopital d‘Instruction des Armées Bégin Saint Mandé, Frankreich
Prof. Dr. pharm. Martine Pestel-Caron
Abteilung für Mikrobiologie, CHU Rouen
Universität Rouen Normandie, Frankreich
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