In Anbetracht der Fortschritte der subzellulären Diagnostik (Immunphänotypisierung, Zytogenetik und Molekulargenetik) stellen morphologisch ausgebildete Ärzt:innen und MTLA immer wieder besorgt die Frage, inwieweit neue weitgehend automatisierte, digitalisierte und zum Teil mithilfe künstlicher Intelligenz auswertbare Methoden und Techniken die klassische morphologische Diagnostik ersetzen werden und demzufolge die morphologische Expertise nicht mehr gefragt sein wird [1].
Die Frage ist in Anbetracht des fortschreitenden Personalabbaus und der Problematik, für ausscheidendes Fachpersonal genügend Nachwuchs sowohl für konventionelle Diagnostik als auch für moderne Zyto- und Molekulargenetik ausbilden zu können, durchaus von Relevanz.
Sinnvolle Weichenstellung
Aktuell ist das „Kleine Blutbild“ (BB) immer noch der am häufigsten angeforderte „Analyt“ im Labor. Es handelt sich unverändert um eine weitgehend automatisierte apparative Untersuchung mit hoher Aussagekraft, die die Weichen für weitergehende differentialdiagnostische Überlegungen und Untersuchungen stellt.
Die Technologie für ein patientennah zu erbringendes „Kleines BB“ (POCT) steht zwar auch zur Verfügung, wird aber wohl eher auf Intensivstationen und nicht im Labor zum Einsatz kommen [2].
Sofern nicht schon vom Einsender angefordert, sollten bestimmte Aussagen des kleinen Blutbildes, z. B. eine zu hohe oder zu niedrige Gesamtleukozytenzahl, pathologische Veränderungen der Thrombozytenzahl oder auffällige Erythrozytenparameter Anlass für eine zunächst apparative Differenzierung mit automatisierter Bewertung („Flagging“) sein.
Besser als sein Ruf
Das apparative „maschinelle“ Blutbild genießt beim mit den modernen apparativen Verfahren unzureichend vertrauten ärztlichen Personal nicht das notwendige Vertrauen bezüglich seiner Aussagekraft, weshalb oft ein „manuelles“ Differenzialblutbild (gemeint ist ein mikroskopisch auf 100 Zellen differenziertes Blutbild) an- oder nachgefordert wird.
Dabei wird übersehen, dass die statistische Wahrscheinlichkeit einer korrekten Differenzierung von der Gesamtheit der differenzierten Zellen abhängt, insbesondere wenn es sich um eine relativ niedrige Anzahl an pathologischen Zellen wie Blasten oder Lymphomzellen handelt.
Der entscheidende Vorteil der apparativen Differenzierung ist die Analyse hoher Zellzahlen, wodurch die statistische Aussage wesentlich zuverlässiger ist. Deutliche technologische Verbesserungen mit der Erfassung zusätzlicher Einzelinformationen pro Zelle und der Optimierung der rechnerischen Informationsauswertung durch neue Algorithmen haben unter anderem mit der verlässlichen Identifizierung von kernhaltigen roten Blutzellen (NRBC) zur automatischen Erythroblastenkorrektur des Leukozytenwertes geführt.
Auch die Erkennung von leukozytären Vorstufen ist relativ sensitiv. Die für die Anämiediagnostik wichtige Retikulozytenzählung wurde in das apparative Blutbild ebenso integriert wie die Optimierung der Thrombozytenzählung durch Impedanz- und optische Messung. Mithilfe eines fluoreszenzoptischen Kanals lassen sich Retikulozyten und auch der Reifegrad von Retikulozyten und Thrombozyten bestimmen.
Diese technologischen Entwicklungen erlauben die zuverlässige Erfassung zusätzlicher Kenngrößen der Blutzelldifferenzierung, sodass man gegenüber dem konventionellen Differenzialblutbild („conventional CBC“) bereits von einem erweiterten Differenzialblutbild („extended CBC“) sprechen kann.
Last but not least ist es der hohe und schnelle Durchsatz von Proben mit Rückführung des Befundes in relativ kurzer Zeit („Turnaround-Zeit“), der zu großer Akzeptanz der apparativen Blutbildanalytik in der Routine geführt hat.
Verbleibende Probleme des apparativen Blutbildes sind die Erythrozytenmorphologie, z. B. die Erkennung der diagnostisch relevanten Fragmentozyten und der Tränenformen, die Linienzuordnung von morphologisch undifferenzierten Blasten, die Lymphozytendifferenzierung (reaktive und neoplastische Lymphozyten), die sichere Erkennung von Blutparasiten (Malaria) und die Differenzierung von Stabkernigen und Jugendlichen im Sinne der Linksverschiebung.
Trotz der beeindruckenden neuen physikalischen, optischen und informationsverarbeitenden Technologien, die zu dieser Entwicklung geführt haben, wird es auch weiterhin Blutbilder geben, bei denen die von der Norm abweichenden Zellen Informationen generieren, die zur Anzeige qualitativer Warnhinweise und gegebenfalls auch zur Verweigerung der Messung führen. Diese vom Gerätehersteller im Rahmen sehr umfangreicher Validierungen festgelegten qualitativen Nachdifferenzierungskriterien („Flags“) lassen sich vom Nutzer in der Regel nicht verändern oder unterdrücken.
Im Gegensatz dazu kann der Untersucher die quantitativen Nachdifferenzierungskriterien an das Einsenderprofil anpassen. Hierbei handelt es sich insbesondere um Abweichungen der absoluten und relativen Zellzahlen des Differenzialblutbildes sowie deren Verhältnis untereinander. In Abhängigkeit vom überwiegenden Patientenklientel müssen die Kriterien strenger (hoher Anteil an Patient:innen mit hämatologisch-onkologischen Erkrankungen) oder weniger streng (unselektierte Patient:innen aus dem ambulanten Versorgungsbereich) gefasst werden. Andererseits muss der verantwortlichen Laborleitung bewusst sein, dass die Festlegung quantitativer Kriterien immer ein Spagat zwischen unbedingt zu erfassenden und übersehenen pathologischen Veränderungen bedeutet.
Wie man dem Begriff der „Nachdifferenzierung“ entnehmen kann, bedeutet sie die mikroskopische Differenzierung und Beurteilung eines von der suspekten Probe angefertigten Ausstrichs, was für das Labor eine hohe Zeit- und Personalbindung bedeutet. Die Nachdifferenzierung ist eine im Sinne der Patient:innen notwendige Leistung, die aber nicht zusätzlich honoriert wird. Sie ist für das Labor insbesondere auch wirtschaftlich problematisch, da das beteiligte Personal morphologisch ausgebildet sein und über entsprechende Erfahrung verfügen muss.
Eine Alternative?
Die digital unterstützte automatisierte Mikroskopie [3] verändert die Arbeitsabläufe im hämatologischen Routinelabor dahingehend, dass die Anfertigung des zu differenzierenden Ausstrichs, die Färbung und die anschließende morphologische Klassifizierung zunächst weitgehend personalunabhängig erfolgen.
Ein bewegliches „motorisiertes“ Mikroskop mit unterschiedlichen Vergrößerungen und einer leistungsfähigen Digitalkamera bzw. ein beweglicher Objektträger stellen den mechanischen Teil der automatisierten Mikroskopie dar.
Zunächst fährt das Mikroskop den ermittelten optimalen Ausstrichbereich meanderförmig mit mittlerer Vergrößerung ab, wobei die Koordinaten der gefundenen kernhaltigen Zellen bzw. der Zellkerne festgehalten werden. Im nächsten Schritt sucht das Gerät die kernhaltigen Zellen mit der höchsten Vergrößerung wieder auf und stellt ein digitalisiertes Foto der jeweiligen Zelle her. Zusätzlich wird ein Übersichtsfoto zur Beurteilung des Zellrasens und der Erythrozyten erzeugt.
Die dokumentierten digitalisierten Zellen werden aufgrund der Zellgröße, der Kernform und -struktur, der Kern-Plasma-Relation und der Färbung analysiert und mithilfe eines artifiziellen neuronalen Netzwerkes den verschiedenen Zellklassen zugeordnet [4] und auf dem Computerdisplay dargestellt. Diese „Vorklassifizierung“ muss vor der technischen Freigabe allerdings noch einmal von einer Fachkraft kontrolliert und gegebenenfalls am Bildschirm korrigiert werden [1].
Die Vorklassifizierung minimiert den zeitlichen Aufwand für die Erstellung eines mikroskopischen Differenzialblutbildes deutlich. Sie erlaubt zusätzlich eine Optimierung der Arbeitsabläufe und eine Dokumentation, die auch Dritten zur Mitbeurteilung oder zu Schulungszwecken elektronisch zur Verfügung steht. Die automatisierte (selbständige) Zuordnung bzw. Klassifizierung der Zellen ist schon recht ausgereift, dennoch kann auf die abschließende morphologische Expertise nicht verzichtet werden.
Die Weiterentwicklung der verfügbaren Systeme zielt auf die automatisierte Erfassung der Erythrozytenmorphologie und die digitalisierte Analyse von Ausstrichen von Knochenmarksblut- oder auch Bröckelquetschpräparaten ab.
Identifizierung und Klassifizierung
Die durchflusszytometrische Klassifizierung pathologischer Leukozyten im peripheren Blut und zuverlässiger noch im Knochenmarksblut ist bei morphologischem oder klinischem Verdacht hämatologischer Neoplasien eine wesentliche Säule der Diagnostik. Die Methode der Immunphänotypisierung beruht auf der durchflusszytometrischen Erfassung von Zellen, deren Oberflächenstrukturen (z. B. Rezeptoren) sich durch mit unterschiedlichen Fluorochromen gekoppelte monoklonale und polyklonale Antikörper unterscheiden lassen. Die in der Hämatologie zur Zellidentifizierung verwendeten Antikörper werden als „cluster of differentiation (CD)“ bezeichnet.
Durch die Entwicklung neuer unterschiedlicher Fluoreszenzfarbstoffe können mit der modernen durchflusszytometrischen Multiparameteranalyse nicht nur die Zellklasse, sondern auch die Expression unterschiedlicher Reifungs- bzw. Differenzierungsantigene, letztlich also auch die Klonalität einer verdächtigen Zellpopulation erfasst werden. Beispiele für den Einsatz der Immunphänotypisierung sind die Zuordnung morphologisch nicht zuzuordnender Blasten (myeloisch oder lymphatisch), die Differenzierung von Lymphomzellen [5] oder auch der Nachweis einer geringen neoplastischen Restaktivität („minimal residual disease“) [6].
Durchflusszytometrische Untersuchungen unter Verwendung unterschiedlicher Antikörper und Farbstoffe erschließen auch weitere funktionale und funktionelle Untersuchungsfelder in der Hämatologie. So können auch strukturelle Veränderungen des Zytoskeletts aufgrund von Membranproteinmutationen wie bei der hereditären Sphärozytose methodisch einfach und schnell diagnostiziert werden – z. B. durch die verminderte Bindung des Farbstoffs Eosin-5-Maleimid an die Zellmembran. Diese Methode ist weniger aufwendig als die „Acidified Glycerol Lysis Time (AGLT)“, die die Zeit bis zur 50%igen Hämolyse als Ausdruck der osmotischen Resistenztestung von Erythrozyten misst.
Weitere Anwendungsfelder sind die Thrombozytenfunktionsdiagnostik und der Nachweis von GPI-verankerten Proteinen in der Diagnostik der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie [7].
Individualisierung
Mit der Anwendung und Entwicklung neuer zyto- und molekulargenetischer Methoden konnte die Differenzierung und Klassifizierung hämatologischer Neoplasien entscheidend weiterentwickelt werden. Diese Entwicklung hat auch zu wichtigen Erkenntnissen bezüglich der Entstehung und Behandlung von Hämoblastosen und Lymphomen geführt.
Die auf die jeweilige betroffene Person zugeschnittene Diagnostik soll in Zukunft eine individualisierte Behandlung im Sinne eines präzisionsmedizinischen Ansatzes ermöglichen [8]. Schon heute können durch die Anpassung der Studienprotokolle an nachgewiesene zytogenetische Varianten oder molekulare Mutationen der Tumorzellen der individuellen Person entscheidende Verbesserungen des Therapieansprechens und damit der Prognose erreicht werden [9–11].
Mutationsdiagnostik
Die klassische zytogenetische Erstellung eines Karyogramms an Metaphasenkernen mithilfe der Bänderungstechnik gehört routinemäßig zum diagnostischen Werkzeug bei Verdacht auf eine hämatologische Neoplasie [12]. Während die aus stimulierten Lymphozyten präparierten Chromosomen früher mühsam unter dem Mikroskop ausgezählt und bewertet wurden, erfolgt dieses heute durch Bildauswertungsprogramme (Digitale Karyotypisierung) [13].
Die Zytogenetik beschreibt den Karyotyp neoplastischer hämatologischer Zellen und erfasst chromosomale Anomalien, u. a. den Verlust (Anploidie bzw. Hypoploidie) oder die Verdopplung von Chromosomen (Hyperploidie), den Verlust eines Chromosoms (Hypoploidie) oder Chromosomenteils (Deletion) mit Übertragung auf ein anderes Chromosom (Translokation), oder an anderer Stelle wieder eingebaut wird (Insertion).
Chromosomale Translokationen führen zu veränderter Genfunktion entweder in Form einer veränderten Expression oder einer abweichenden Funktion des durch die Chromosomenfusion entstandenen „Fusionsproteins“.
Ein bekanntes Beispiel ist die Philadelphia-Translokation t (9;22) bei der Chronisch-Myeloischen Leukämie (CML), die zur Bildung des Fusionsproteins BCR-ABL1 mit zytoplasmatischer Thyrosinkinase-Aktivität führt [16]. Diese Erkenntnis resultiert im erfolgreichen therapeutischen Einsatz von Inhibitoren der Thyrosinkinasen.
Der im Vergleich zur Erstellung des Karyotyps weniger aufwendige Nachweis des Philadelphia-Chromosoms wie auch anderer Fusionsgene erfolgt mit der Methode der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH), die auch an Interphase-Kernen durchgeführt werden kann (Abb. 1).