Vor ungefähr 30 Jahren kam das erste Hämatologiegerät auf den Markt, mit dem es möglich war, den Hämoglobingehalt der Retikulozyten separat zu messen. Der Parameter erhielt die Bezeichnung „CHr“ für Content Hemoglobin Reticulocyte. 2005 veröffentlichte Lothar Thomas im Deutschen Ärzteblatt seinen Thomas-Plot zur Anämiediagnostik, der auf den Parametern Retikulozytenhämoglobin und löslicher Transferrinrezeptor basiert [1]. Zu dieser Zeit konnte eine zweite Gerätelinie das Retikulozytenhämoglobin-Äquivalent ebenfalls messen; bei diesem Hersteller hieß es erst „Ret-Y“, später „Ret-He“.
Seit seiner Einführung ist über das Retikulozytenhämoglobin extensiv geforscht und publiziert worden, insbesondere bezüglich der Abgrenzung eines Eisenmangels zu anderen Ursachen einer Anämie [2, 3, 4]. Die Ergebnisse waren durchgehend positiv mit ROC-Kurven, die über denen von Ferritin oder Transferrinsättigung lagen.
Schattendasein
Trotzdem fristet das Retikulozytenhämoglobin in der Routine immer noch ein Schattendasein. Obwohl es von den Geräten bei jeder Retikulozytenmessung unaufgefordert mitgeliefert wird, geht es oft nicht in den Befund mit ein und das klinisch tätige ärztliche Personal kann noch weniger damit anfangen als dasjenige im Labor.
Ein Grund dafür könnte sein, dass der Name nie standardisiert wurde und meist die firmenspezifischen Bezeichnungen verwendet werden. Als generischer Name bietet sich „Mittleres Retikulozytenhämoglobin“ (MRH) an, aus dem durch Reifung der Retikulozyten zu Erythrozyten das MCH entsteht. Auch die Benennung als „Retikulozytenfärbeindex“ wurde schon vorgeschlagen.
Ein weiterer, naheliegender Grund für das Schattendasein des Parameters wäre, dass die erweiterten diagnostischen Möglichkeiten nie in der Vergütung abgebildet wurden. Im EBM-Bereich rentiert sich die Retikulozytenmessung nicht.
Aber auch inhaltlich verbreitet sich die Erkenntnis nur langsam, dass der Einblick in die aktuelle Erythropoese, den das Retikulozytenhämoglobin ermöglicht, wesentliche zusätzliche Informationen liefert, die die üblichen Blutbildparameter nicht verraten.
Anwendungsbeispiele
Ein einfaches Beispiel soll dies erläutern: Eine Patientin mit einem länger bestehenden Eisenmangel hat eine ausgeprägte hypochrome, mikrozytäre Anämie. Wird sie effektiv mit Eisen substituiert, z. B. parenteral, dauert es trotzdem Wochen, bis sich die Erythrozytenindizes normalisieren, da die hypochromen, mikrozytären Erythrozyten nur allmählich durch frisch gebildete normochrome, normozytäre Erythrozyten ersetzt werden. Das Retikulozytenhämoglobin liegt dagegen schon nach zwei bis drei Tagen innerhalb des Referenzbereichs – oder eben auch nicht, wenn die Eisensubstitution nicht ausreichend war (siehe Fallbeispiel).