Vom Forschungsprojekt zum Ökosystem: EMPAIA – Ecosystem for Pathology Diagnostics with AI Assistance

Es wird erwartet, dass in den nächsten zehn Jahren die Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) rasant alle Bereiche der Medizin und des Gesundheitswesens durchdringen werden. Für den Einsatz derartiger Verfahren in der bildba-sierten medizinischen Diagnostik ist mit durchaus revolutionären Veränderungen zu rechnen. Mit dieser Perspektive etabliert das Forschungsprojekt EMPAIA ein Ökosystem für die bildbasierte medizinische Diagnostik unter Nutzung von Methoden der KI auf dem Gebiet der Pathologie. Gerade plattformbasierte Ökosysteme haben außerordent-liches Potenzial bei der Durchdringung von Märkten unter Beweis gestellt. Mit EMPAIA soll dieser Ansatz genutzt werden, um die aktuell bestehenden Hindernisse bei der Anwendung von KI in der histopathologischen Diagnostik zu beseitigen. Hierfür werden alle relevanten Stakeholder einbezogen und es wird auf eine offene Plattform gesetzt.

Schlüsselwörter: Digitale Pathologie, virtuelle Mikroskopie, künstliche Intelligenz, Ökosystem, Plattform, Standardisierung, Weiterbildung

Ökosysteme – ein Weg zur Lösung komplexer Probleme

Digitale Ökosysteme und digitale Plattformen werden in vielfältiger Form jede Branche verändern. Sie bieten Unternehmen die Chance zu disruptiven Veränderungen mit neuen Geschäftsmodellen [1, 2]. Es gibt sehr verschiedene Definitionen zu den einzelnen Begriffen. Zunehmend findet man auch den Begriff des „Digitalen Ökosystems“. Vereinfacht kann man den Zusammenhang zwischen Ökosystemen und Plattformen auf die Form der Wertgenerierung reduzieren. Diese Betrachtungsweise ist in Abb. 1 illustriert.

Eine Marktdurchdringung durch einzelne Firmen ist sehr aufwendig und häufig unmöglich. Die Hindernisse im medizinischen Markt sind neben zulassungstechnischen Problemen (IVDR, FDA) häufig auch den national unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen geschuldet. Diese sind vielfach mit – in einzelnen Ländern unterschiedlichen –  Standards und proprietärer Softwarelandschaft kombiniert. Obwohl sich in den letzten Jahren viel getan hat (IHE, DICOM, HL7, FHIR, FAIR) hängt die Implementierung oft hinterher. Plattformen bieten hier erhebliche Vorteile, insbesondere für die Verbreitung von Standards zur Interoperabilität. Geschwindigkeit und „Access“ sind die wichtigsten Komponenten bei der Marktdurchdringung. Hierbei spielt bei aktuellen Entwicklungen, wie etwa dem Einsatz von KI, eine beschleunigte Verbindung von Forschung, Entwicklung und Vermarktung eine besondere Rolle. Umso schwerwiegender wirken Markteintrittsbarrieren wie ungeklärte rechtliche Rahmenbedingungen, aufwendige Zertifizierung, fehlende oder nicht genutzte Standards und unklare Abrechnungsmöglichkeiten. Genau hier sind Ökosysteme eine sehr interessante Option. Insbesondere Unternehmen beteiligen sich an solchen Ökosystemen, wenn die gemeinsamen Interessen größer sind als ihre Differenzen.

Vor diesem Hintergrund erfolgte 2019 der bundesweite KI-Innovationswettbewerb durch das damalige Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi, heute BMWK) mit einer Gesamtförderung von 200 Millionen Euro. Unter den 16 geförderten Großprojekten, deren Schwerpunkte viele Bereiche der Volkswirtschaft abdecken, ist EMPAIA eines von dreien, die dem Bereich „Medizin und Gesundheit“ zuzuordnen sind.

Das EMPAIA-Ökosystem – die Idee

Die Pathologie bietet mit ihren besonders großen Bildern und der sehr großen Bandbreite an Diagnoseelementen ein technisch anspruchsvolles, algorithmisch spannendes Anwendungsgebiet. Deshalb hat die Anzahl der Publikationen zur Nutzung von KI in der mikroskopischen Bildgebung in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Eine gute Übersicht findet sich in Försch et al. [3]. Mögliche Anwendungen umfassen mittlerweile die ganze Bandbreite der Pathologie bis hin zu molekularpathologischen Fragestellungen [4]. Gleichwohl ist die Nutzung von KI-basierten Anwendungen in der klinischen Routine bisher minimal. Dies hat eine Reihe von Gründen [5]:

  • In der Regel erfordern KI-Anwendungen das Vorhandensein von digitalisierten Schnitten, sogenannten „whole slide images“ (WSI). Dies ist insbesondere in Deutschland erst in einer überschaubaren Anzahl von Pathologien gegeben.
  • Die Integration der KI-Anwendungen in eine vorhandene IT-Lösung, in der Regel bestehend aus Laborinformationssystem, WSI-Scannern und Bildmanagementsystem mit entsprechendem Workflow, ist notwendig. Hier dominieren proprietäre Lösungen, da Standards fehlen bzw. die bestehenden nicht ausreichend sind.
  • Für den Einsatz einer KI-Lösung in der klinischen Praxis muss diese als Medizinprodukt (nach IVDR, EU-Verordnung für In-vitro-Diagnostika) zertifiziert sein. In der ab 2022 gültigen Fassung ist die Nutzung von für die Forschung entwickelten Lösungen explizit ausgenommen.
  • Die Zertifizierung einer Lösung als Medizinprodukt sichert nur unter den angegebenen technischen Bedingungen (z. B. FDA-Zulassung) deren validen Einsatz. Die aktuelle Situation ist aber durch proprietäre technische Lösungen geprägt (Färbungen, WSI-Scanner, Bildmanagementsystem).
  • Eine Investition in eine KI-Lösung muss sich rechnen, das muss sichergestellt werden. Es ist zu erwarten, dass zunehmend qualitätssichernde Lösungen auf KI-Basis in der Onkologie, getriggert durch die Tumorzentren, gefordert werden.
  • Das Ergebnis einer KI-Anwendung muss für die Pathog:innen nachvollziehbar und in gewisser Weise erklärbar sein. Dies gilt neben der Anwendung selbst auch für die Gestaltung der Nutzerschnittstelle zum Pathologen. Die sogenannte KI-Erklärbarkeit („ex-plainable AI“, xAI) befindet sich zwar in rasanter Entwicklung, aber deren Umsetzung in konkreten Anwendungen ist noch überschaubar [6].

Aus der Perspektive von Unternehmen, die für diesen Markt Lösungen entwickeln wollen, ergeben sich aus den o. g. Gründen eine Reihe von Problemen und Risiken, die sich als Markteintrittsbarrieren oder Hürden für die Marktdurchdringung darstellen. Aufgrund des Einsatzes von Streamingtechnologien für die virtuelle Mikroskopie (Standardtechnologie vieler Internetdienstleistungen) ist die digitale Pathologie gleichzeitig von Anfang an international getrieben.

Neben den o. g. Gründen, die teilweise miteinander verbunden sind, gibt es auch Rahmenbedingungen, die durch Unternehmen nur sehr bedingt verändert werden können. Hierzu gehört, dass eine breite Anwendung von KI-Methoden in der Pathologie umfassendes Wissen bei allen Beteiligten voraussetzt. Ohne eine explizite Weiterbildung auf diesem Gebiet kann der verantwortliche Umgang mit den neuen Methoden in der Breite kaum gelingen. In Deutschland gibt es hier sehr gute Erfahrungen bei der Einführung molekularpathologischer Methoden, die über Jahre mit einer Weiterbildungsoffensive verbunden wurden und parallel im Facharzt-Curriculum verankert wurden.

Im Vorfeld der Antragstellung zu EMPAIA wurde klar, dass die Einführung von KI-Methoden in der bildgebenden Diagnostik am Beispiel der Pathologie ein lohnenswertes Ziel für ein Ökosystem ist. Denn es bedarf zur Lösung der Probleme einer Zusammenarbeit vieler Partner, deren Kooperation ohne den Aufbau eines Ökosystems erheblich langsamer oder auch nicht erfolgen würde. Dies könnte gerade für deutsche und europäische Firmen zum Problem werden, da der europäische Markt im Vergleich mit dem amerikanischen oder chinesischen Markt wesentlich inhomogener ist.

Ziele von EMPAIA

Mit dem EMPAIA-Projekt sollen die nachfolgend genannten Ziele erreicht werden:

Ziel 1: Der Aufbau einer Plattform für die Entwicklung, Zertifizierung und den Vertrieb von KI-Anwendungen.

Ziel 2: Die Etablierung eines Ökosystems aller relevanten Beteiligten, um die Fragen von Standardisierung, Zertifizierung, rechtlichen Rahmenbedingungen, Abrechenbarkeit und KI-Erklärbarkeit gemeinsam in Arbeitsgruppen zu lösen.

Ziel 3: Die Etablierung von 13 Referenzzentren, in denen die über die EMPAIA-Plattform bereitgestellten Anwendungen in der Praxis angewendet werden. Sie umfassen Pathologien verschiedener Größe und technischer Ausstattung und dienen für Patholog:innen und Industriepartner gleichermaßen als Referenzlösungen.

Ziel 4: Fortschritte bei der KI-Erklärbarkeit und deren Umsetzung in Anwendungen, um der Pathologie und der Klinik die Black Box der KI zu öffnen.

Ziel 5: Die Verbreitung von Wissen über KI und deren Nutzung in der Pathologie und Medizin mit dem Ziel, KI-Anwendungen souverän einsetzen zu können.

Ziel 6: Mit der Umsetzung der Ziele 1 bis 5 soll die Geschwindigkeit bei der Einführung neuer, KI-basierter Methoden in der Pathologie unter Berücksichtigung aller Aspekte der Qualitätssicherung (Zertifizierung als Medizinprodukt) erhöht werden. Im Ergebnis wird eine genauere und schnellere Diagnostik erwartet, die sich auf die Therapie auswirken wird.

Zur Erreichung dieser Ziele wurde das EMPAIA-Ökosystem etabliert und eine Strategie zur Erreichung der Ziele entwickelt.

Struktur und Elemente des EMPAIA-Ökosystems

Die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK, zuvor BMWi) geförderten Konsortialpartner sind dafür verantwortlich, dass das Ökosystem in all seinen Teilen aufgebaut wird (Abb. 2).

Zum Konsortium gehören das Institut für Pathologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin (Konsortialführung), das Distributed Artificial Intelligence (DAI) Laboratory der TU Berlin, das Fraunhofer-Institut für Digitale Medizin MEVIS, die vitagroup AG und die Qualitätssicherungs-Initiative Pathologie QuIP GmbH. Zu allen nachfolgend genannten Elementen des Ökosystems ist der aktuelle Stand jederzeit über die Homepage (empaia.org) zugänglich.

Zu den ebenfalls geförderten Referenzzentren gehören Praxen für Pathologie, Krankenhausinstitute, private Institute für Pathologie, Hämatologie sowie Universitätsinstitute. Die Referenzzentren bilden die Vielfalt der wirtschaftlichen Strukturen und auch der unterschiedlichen technischen Lösungen im Markt ab (Pathologieinformations-Systeme, WSI-Scanner, Bildmanagement-Systeme). Weitere Referenzzentren haben sich der Initiative bereits angeschlossen.

Entscheidend für die Nachhaltigkeit des Projektes ist der große Unterstützerkreis der Industrie, der sich finanziell und entwicklungstechnisch an der Umsetzung der Referenzimplementierungen beteiligt, sich aber auch in den Gremien engagiert [8].

Die Gremien haben die Aufgabe, die Prozesse zu organisieren und zu begleiten, die ohne eine konstruktive Zusammenarbeit mehrerer Parteien nicht erfolgreich abgeschlossen werden können. Sie stehen allen Beteiligten des Ökosystems offen und die Ergebnisse ihrer Arbeit sollen in Form eines White Paper zur Verfügung gestellt werden. Es gibt die Gremien „Standardisierung“, „Wirtschaftlichkeit und Abrechnung von KI/Digitale Pathologie Lösungen“, „Validierung von KI-Lösungen“, „Rechtliche Fragestellungen für den Einsatz von digitalen Methoden und KI in der Pathologie“ und „Studien“.

Die EMPAIA-Plattform ist die zentrale Drehscheibe für die zu etablierenden Dienstleistungen (Abb. 3).

Durch Nutzung eines Marktplatzes sollen Pathologen und Pathologinnen Zugriff auf KI-Anwendungen erhalten. In der ersten Stufe soll ein Zugriff zunächst für die Referenzzentren möglich sein. Der Marktplatz soll KI-Anwendungen für die breite Nutzung bereitstellen. Dafür werden die Anwendungen in einer standardisierten Form eingebunden [7]. Für Trainings- und Validierungszwecke sollen zudem Datensätze bereitgestellt werden. Digitale Auswerteversuche der QuIP sollen ebenfalls über die Plattform zugänglich werden.

Das Ökosystem der EMPAIA-Partner ist die wichtigste Grundlage für den Erfolg des Projektes. Hierzu gehören neben den Industriepartnern auch eine Reihe von Gesellschaften und Organisationen, die ein besonderes Interesse an der Entwicklung der digitalen Pathologie und der zunehmenden Nutzung von Methoden der künstlichen Intelligenz haben. Die EMPAIA Academy ist ein kostenfreies Fortbildungsprogramm des EMPAIA- Projektes mit dem Ziel des Kompetenzaufbaus. Es richtet sich insbesondere an alle Interessierten aus den Gebieten Pathologie und Computerwissenschaften und ist in die Themenbereiche „KI/IT für Pathologen“ und „Pathologie für KI/IT-Spezialisten“ aufgeteilt. Die Academy wurde 2020 ins Leben gerufen und hat bereits zwei erfolgreiche Serien mit sieben halbtägigen Kursen zur Weiterbildung von Patholog:innen, Informatiker:innen und Anwendungsentwickler:innen in der Industrie organisiert. Die Aufzeichnungen der Vorträge vom September 2021 sind auf der EMPAIA-Webseite verfügbar.

Strategie zur Erreichung der Ziele

Die Existenz eines Ökosystems allein ist kein Erfolgsgarant. Es bedarf einer Strategie und eines Zeitplanes. Die wesentlichen Elemente der Strategie sind:

  • Standardisierung: Vorhandene Standards (IHE, DICOM) werden unterstützt und eingesetzt. Vorschläge für nicht vorhandene Standards werden in enger Abstimmung mit IHE, DICOM und der Industrie (Gremien) entwickelt, implementiert und als Open Source bereitgestellt [7, 8].
  • Lösung kritischer Probleme durch Einbeziehung der relevanten Stakeholder: Analyse des Status (Haftung, Abrechnung, Zertifizierung), Erarbeitung und Umsetzung von Lösungen, Moderation eines eventuell notwendigen Dialogs aus einer neutralen Perspektive und unter Einbindung von Experten. 
  • Aufbau der EMPAIA-Plattform und Bereitstellung von KI-basierten Apps:
  • Über die EMPAIA Plattform sollen Apps von kommerziellen Herstellern zunächst für die Referenzzentren und danach allgemein bereitgestellt werden, zunächst cloudbasiert, später on-premise. 
  • Unterstützung bei Testen und Validierung: Bereitstellung von Test- und Validierungsdatensätzen für KI-Hersteller zum Test von Anwendungen.
  • Aufbau und Durchführung eines Fortbildungsprogramms für KI: Kompetenzaufbau sowohl für Patholog:innen als auch für KI-/IT-Spezialist:innen mit dem Fokus Anwendung in der Pathologie.
  • Aufbau von Referenzimplementierungen gemeinsam mit der Industrie: Die Referenzimplementierungen erfolgen in enger Abstimmung mit der Industrie zunächst in allen Referenzzentren. Ziel ist die Validierung des EMPAIA-Konzepts und der Aufbau von nachhaltig nutzbaren Implementierungen.
  • Dialog: Organisation eines stetigen Dialogs zwischen den Stakeholdern auf verschiedenen Ebenen.

Zeitplan und Meilensteine sind im Projektplan festgeschrieben und werden regelmäßig durch den Projektträger geprüft.

Marktplatz und cloudbasierte Anwendungen

Nach der Realisierung der notwendigen Funktionalität auf der EMPAIA-Plattform wird nun an den Referenzimplementierungen gearbeitet. Hierfür wurde ein standardisiertes Vorgehen zur Einbindung von KI-Apps vorgeschlagen und über die EMPAIA-Homepage zur Verfügung gestellt [9]. Die Referenzimplementierung erfolgt in zwei Stufen. In der ersten Stufe wird eine cloudbasierte Variante bereitgestellt. Sie ist über den KI-Marktplatz zugänglich (Abb. 5).

Auf dem Marktplatz sind bereits die Anwendungen von fünf KI-Herstellern zugänglich, deren Einbindung über das standardisierte EMPAIA-Interface erfolgte. Die Nutzung kann über den als Teil der Plattform implementierten „WorkbenchClient“ erfolgen (Abb. 6).

Weitere Anwendungen werden gerade bereitgestellt oder sind in Vorbereitung. Ihre Zahl soll kontinuierlich steigen.

Auf dem Marktplatz können auch Forschungsanwendungen von Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen zum Einsatz kommen, die über die EMPAIA-Plattform breit genutzt werden können. Da der Zugang webbasiert erfolgt, benötigt ein Nutzer nur einen Account und die zu analysierenden Schnitte in digitaler Form. Aus Geschwindigkeitsgründen macht hier ein guter Internetzugang Sinn.

In der zweiten Stufe werden in allen EMPAIA-Referenzzentren Installationen erfolgen, die die jeweilige technische Ausgangssituation vor Ort aufnehmen und die fehlenden Komponenten durch Komponenten der Industriepartner bzw. EMPAIA-Komponenten ergänzen. Diese Komponenten können sowohl vor Ort auf der lokalen IT-Infrastruktur als auch in der Cloud laufen. Hierfür sind ergänzende Entwicklungen notwendig, die durch die beteiligten Industriepartner für die Referenzimplementierungen durchgeführt werden.

Autor
Prof. Dr. Peter Hufnagl
Projektkoordinator EMPAIA
Institut für Pathologie (Rudolf-Virchow-Haus)
Charité – Universitätsmedizin Berlin,
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