Blutkonserven aus der Retorte
Transfusionsmedizin
In den 1960er-Jahren erinnerten Versuche zur Herstellung von „künstlichem Blut“ noch an die Zeiten der Alchemie, doch inzwischen kann die Biotechnologie echte Erfolge vorweisen.
Bis vor rund 100 Jahren waren Transfusionen ein Lotteriespiel. Erste Versuche, Blut von Lämmern auf den Menschen zu übertragen, gab es bereits im 17. Jahrhundert, zu einer Zeit, als die Alchemie gerade von der modernen Chemie abgelöst wurde. Die meisten Experimente dieser Art endeten tödlich, aber gelegentlich gab es auch unerklärliche Erfolge. 1825 gelang dem britischen Physiologen James Blundell die erste erfolgreiche Transfusion von Mensch zu Mensch bei einer lebensbedrohlich blutenden Wöchnerin. In der Folge setzte sich das Verfahren als ultima ratio bei massivem Blutverlust durch, obwohl immer noch etwa jeder zweite Patient starb.
1901 erschien dann in der Wiener klinischen Wochenschrift der entscheidende Bericht des Pathologen Karl Landsteiner über „Agglutinationserscheinungen menschlichen Blutes“. In einer Fußnote äußerte er die Vermutung, es gebe möglicherweise drei Blutgruppen A, B und C (später Null), die für die Verträglichkeit von Fremdblut verantwortlich seien. Diese Beobachtung brachte Landsteiner 1930 den Nobelpreis für Medizin ein.
1907 erfolgte in New York die erste gezielte Blutübertragung auf Basis der neuen Erkenntnisse, und bereits 1921 wurde in London unter Federführung des Roten Kreuzes der erste Bluttransfusionsdienst gegründet. Heute verfügen alle Industriestaaten über ein flächendeckendes Versorgungssystem, aber trotzdem kommt es immer wieder zu bedenklichen Engpässen, weil mehr Blut benötigt als gespendet wird.
Steigender Bedarf
Für Patienten mit seltenen Blutgruppen stehen schon jetzt zu wenige Konserven zur Verfügung. In naher Zukunft wird der demografische Wandel für einen noch ausgeprägteren Mangel an Blutprodukten sorgen, weil der Bedarf bei alten Menschen steigt und gleichzeitig die Zahl junger, spendetauglicher Personen abnimmt.
Um diesem Mangel zu begegnen, werden seit über einem halben Jahrhundert Strategien zur Herstellung von künstlichem Ersatzblut verfolgt. In den 1960er-Jahren experimentierte man mit dem künstlichen Sauerstoffträger Perfluorkohlenstoff (PFC). Die ersten Versuche erinnerten an die Zeiten der Alchemie: Narkotisierte Katzen und Mäuse, die minutenlang in einer PFC-Lösung untergetaucht wurden, überlebten das Experiment, da sie überraschenderweise trotz flüssigkeitsgefüllter Lungen atmen konnten[1]. Für die intravasale Anwendung am Menschen war PFC aber zu toxisch, sodass die Idee unphysiologischer Sauerstoffträger wieder aufgegeben wurde.
Natürliche Hämoglobinquellen
Erfolg versprechender war der Einsatz von Schweine- und Rindererythrozyten, die den menschlichen Zellen in biochemischer Hinsicht ähnlich sind. Mit hochgereinigten Präparationen traten keine Immunreaktionen auf, doch es kam auch hier zu schweren Nebenwirkungen, insbesondere durch freies Hämoglobin, das die Leber und andere Organe schädigte.
Französische Forscher testeten 2009 das besser verträgliche Riesen-Hämoglobin des Wattwurms (Arenicola marina). Mit dem Präparat „Hemarina M101“, das man in E. coli gentechnisch herstellen kann, wurde der erste Schritt hin zur „Blutkonserve aus der Retorte“ getan. Das synthetische Protein zeigte im Tierversuch keine Abstoßungsreaktionen und wird nun in klinischen Studien am Menschen getestet.
In den letzten Jahren rückten zunehmend menschliche Stammzellen als praktisch unbegrenzte Hämoglobinquelle in den Blickpunkt der Forscher. In vivo erfolgt die Blutproduktion vor allem im Mark der großen Becken- und Oberschenkelknochen, und deshalb fokussierte man sich zunächst bei der In-vitro-Produktion auf die extrakorporale Differenzierung von Erythrozyten aus hämatopoetischen Stammzellen, die direkt aus Knochenmark oder – nach medikamentöser Mobilisierung – aus peripherem Venenblut gewonnen wurden.
Eine prinzipiell leichter zugängliche Quelle für Stammzellen ist Nabelschnurblut. 2002 beschrieben Neildez-Nguyen et al.[2] erstmals die 200.000-fache Expansion einer kleinen Menge rein erythrozytärer Vorläuferzellen, die von hämatopoetischen Stammzellen abgeleitet waren. 2011 gelang der Arbeitsgruppe um Luc Douay die Herstellung von zwei Billionen Erythrozyten im Good-Manufacturing-Practice-Maßstab (GMP); das entspricht in etwa einer Blutkonserve.
Da hämatopoetische Stammzellen jedoch nur eine eingeschränkte Teilungsfähigkeit besitzen, würde diese Quelle allerdings bei Weitem nicht ausreichen, um den enormen Bedarf – etwa sechs Millionen Blutkonserven pro Jahr allein in Deutschland – zu decken.
Dauerhafte Zelllinien
Heute ist man in der Lage, Erythrozyten aus induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSCs) zu differenzieren, die man beispielsweise aus normalen Hautzellen gewinnt. Sie sind durch die Fähigkeit gekennzeichnet, sich dauerhaft in Kultur zu vermehren und dabei ihre Fähigkeit zur Differenzierung in Gewebearten aus allen drei Keimblättern zu erhalten. Aus diesem Grund gelten sie als attraktive Kandidaten für die Herstellung großer Mengen an Erythrozyten in vitro.
Mehrere Studien haben mittlerweile gezeigt, dass man in Kulturen pluripotenter Zellen durch hämatopoetische Differenzierung kernhaltige erythrozytäre Vorläuferzellen erzeugen kann. Nach Zugabe entsprechender Wachstumsfaktoren erhält man Erythrozytengehalte von über 80%. Neueste Studien zeigen, dass auch mit nicht-kodierenden RNA-Sequenzen (microRNAs) eine terminale Differenzierung humaner Stammzellen zu reifen Erythrozyten möglich ist.
Virale Reprogrammierung
Der erwähnten französischen Forschergruppe um Luc Doauy gelang 2010 die Züchtung und Reifung von in vitro expandierten Erythrozyten aus humanen iPSCs[3]. Dabei wurden fötale oder adulte Fibroblasten mithilfe von Lentiviren umprogrammiert; durch Expression ausgewählter Gene entwickelten sich formtypische Kolonien, aus denen nach Isolierung von Einzelzellen unter dem Mikroskop dauerhaft vermehrbare iPSC-Linien gewonnen werden konnten.
Das größte Problem dieses biotechnologischen Verfahrens ist vorläufig noch der hohe Preis – insbesondere für die notwendigen Wachstumsfaktoren. Deshalb wird die Immortalisierung von linienspezifischen Vorläuferzellen als kostengünstigere Alternative vorangetrieben.
Eine japanischen Forschergruppe erzeugte „unsterbliche“ Erythroblasten aus pluripotenten Stammzellen, indem sie zwei Onkogene mithilfe eines antibiotikainduzierbaren lentiviralen Vektorsystems in die Zellen einschleuste. Diese potenziell krebserregenden Gene lassen sich durch Entfernung des Antibiotikums wieder ausschalten; anschließend unterliegen die Zellen einer normalen Differenzierung zu reifen Erythrozyten[4]. 2011 gelang die Übertragung solcher ex vivo expandierten Erythrozyten auf den Menschen[5].
Trotz aller Erfolge ist die Forschung noch längst nicht abgeschlossen. Insbesondere muss die Frage geklärt werden, welche Zellquelle sich unter medizinischen, technologischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten am besten für die Herstellung großer Mengen an maßgeschneiderten Blutkonserven eignet. Als Favorit gilt am ehesten die Zellkultur. Man spekuliert, dass die Etablierung von drei verschiedenen Zelllinien ausreichen würde, um 99% aller Blutempfänger mit kompatiblen Erythrozyten zu versorgen[6].
Unter den vielfältigen Einsatzgebieten sind zwei besonders hervorzuheben: In den Industrieländern dürfte die künstliche Erzeugung von Blutprodukten insbesondere Patienten mit sehr seltenen Blutgruppen-Konstellationen zugutekommen, während in der Dritten Welt vor allem Länder mit unzureichendem Blutspendewesen profitieren werden.
Der Zeitrahmen für eine umfassende Bedarfsdeckung mit „Blutkonserven aus der Retorte“ ist noch schwer abzuschätzen. Die Fortschritte der letzten zehn Jahre rücken die kontinuierliche Produktion von „Universal-Erythrozyten“ der Blutgruppe Null Rhesus negativ – auch in großem Maßstab – in greifbare Nähe. Bis zur flächendeckenden Bereitstellung von „individualisierten“ künstlichen Blutprodukten werden aber mit Sicherheit noch Jahrzehnte vergehen. Und deshalb bleibt die Spendenbereitschaft der Bevölkerung bis auf Weiteres ein Grundpfeiler des Blutspendewesen.
Dr. Romy Kronstein-Wiedemann
Univ.-Prof. Dr. Torsten Tonn
DRK-Blutspendedienst Nord-Ost gGmbH
Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus
Technische Universität Dresden