Das digitale Patientenmodell: Unterstützung zur besseren Entscheidungsfindung im Kopf-Hals-Tumorboard
Die zunehmende Komplexität der Behandlung onkologischer Erkrankungen durch Fortschritte in der Diagnostik sowie durch individualisierte Therapien erfordert neue, umfassende Techniken zur Entscheidungsunterstützung. Neben molekularen Tumorboards, die bei verschiedenen Tumorentitäten molekularpathologische Signaturen bewerten, halten auch unterstützende Verfahren mit Künstlicher Intelligenz Einzug in Forschung und Praxis. Dazu gehören digitale Patientenmodelle, welche die Sammlung, Strukturierung und Auswertung von Informationen optimieren und auf diese Weise Entscheidungs-prozesse in Tumorboards unterstützen. So wurde für das Larynxkarzinom ein klinisches Entscheidungsunterstützungs-System – basierend auf Bayes'schen Netzwerken – entwickelt und verschiedene Teile validiert. Zusätzlich wurden weitere Modelle erarbeitet, z. B. für das Oropharynxkazinom. Zukünftig soll Künstliche Intelligenz, u. a. in Form digitaler Patientenmodelle, die klinische Entscheidungsfindung unterstützen.
Schlüsselwörter: Künstliche Intelligenz, digitale Patientenmodelle, Larynxkarzinom, Therapieentscheidungsunterstützung, Tumorboard
Einführung
Heutzutage ist Künstliche Intelligenz (KI) in vielfältiger Form in unser tägliches Leben integriert, sodass jeder täglich damit konfrontiert wird. Als Beispiele seien hier persönliche Assistenten wie Google-Assistant, Siri oder Alexa, automatisierter Massentransport oder Computerspiele genannt.
Das medizinische Wissen nimmt besonders in der Onkologie kontinuierlich zu und ermöglicht Fortschritte in Diagnostik und Therapie und unterstützt somit zunehmend eine individualisierte Medizin. Als Folge davon wird für eine höhere Anzahl von Patienten mit malignen Kopf-Hals-Tumoren (KHT) die klinische Entscheidungsfindung aufgrund der steigenden und immer komplexeren Informationsparameter schwieriger. Auch begrenzte personelle Ressourcen und mangelnde Zeit sowie der multidisziplinäre Charakter der Entscheidungsfindung tragen dazu bei, dass eine Unterstützung des Prozesses der Informationssammlung und -analyse hilfreich ist.
Multidisziplinäre molekulare Tumorboards (MTBs) werden zunehmend etabliert, um das schnell wachsende Wissen und molekularpathologische Potential in der Tumortherapie in die klinische Praxis zu integrieren. Nachweislich kann der Zugang zu einem MTB und deren klinische Anwendung die Ergebnisse durch die molekularpathologisch unterstützte Krebsbehandlung verbessern [1].
Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (CDSS) auf der Basis von KI können solch komplexe Entscheidungsprozesse unterstützen [2, 3]. Obwohl CDSS viele Vorteile haben, erreichen die meisten Systeme eine klinische Integration nicht [4].
In diesem Artikel wird neben allgemeinen Betrachtungen zur Anwendung von KI in der Medizin die Idee digitaler Patientenmodelle (DPM) exemplarisch anhand der Entwicklung eines Systems zur Therapieentscheidungs-Unterstützung der multidisziplinären Entscheidungsfindung des Kopf-Hals Tumorboards (KH-TB) vorgestellt.
Notwendigkeit der Therapieentscheidungsunterstützung
Der Begriff KI existiert seit 65 Jahren. Seitdem ist die Rechenleistung stetig gewachsen, sodass heute neue Daten anhand von zuvor bewerteten Daten in Echtzeit ausgewertet werden können. In jüngerer Zeit wurden viele Methoden der KI in die Medizin integriert, wodurch eine höhere Genauigkeit erreicht und Prozesse beschleunigt werden, um so die Patientenversorgung zu verbessern. Radiologische Bilder, Pathologie-Objektträger und elektronische Patientenakten werden durch maschinelles Lernen ausgewertet, um den Prozess der Diagnose und Behandlung von Patienten zu unterstützen und die Fähigkeiten der Ärzte zu erweitern [5]. Dennoch ist es wichtig festzuhalten, dass – entgegen der landläufigen Meinung – die Rolle des Arztes als Mensch durch die Anwendung von KI in der Medizin nicht beseitigt wird. Ganz im Gegenteil: Durch KI erweiterte medizinische Systeme helfen, die klinischen Abläufe zu verbessern, sorgen für mehr Sicherheit und Konsistenz und tragen dazu bei, fundierte Entscheidungen zu treffen, die auf quantitativem Wissen basieren.
Der Mensch hat hinsichtlich der zeitgleichen Verarbeitung großer Informationsmengen natürliche kognitive Limitationen. In der Folge werden die Informationen intuitiv ausgewählt und gewichtet. Experimente haben gezeigt, dass ein Individuum in der Lage ist, Entscheidungen mit Berücksichtigung von bis zu 20 Informationseinheiten zu treffen. Darüber hinaus erfordert das Vorhandensein von bis zu 40 Informationseinheiten eine intuitive Priorisierung der gegebenen Informationen, ohne jedoch die Entscheidungsqualität signifikant zu beeinträchtigen. Bei über 40 Informationseinheiten nimmt die Entscheidungsqualität jedoch aufgrund von Fehlern ab, die durch fehlerhafte Priorisierung zu erklären sind. Dies führt naturgemäß zur Anwendung heuristischer Methoden bei den Entscheidungsprozessen [6].
Beispielhaft sei hier die retrospektive Analyse der Entscheidungen des KH-TB am Universitätsklinikum Leipzig (UKL) angeführt. Bei Auswertung der Larynxkarzinomfälle waren durchschnittlich 85 Informationseinheiten verfügbar, wobei die Gesamtzahl der Informationseinheiten zwischen 75 und 158 lag. Auch sind nicht in jeder Fallanmeldung sämtliche relevanten Daten in der Fallpräsentation erfasst oder abrufbar, sodass ein Teil der Entscheidungen vertagt werden muss [7]. Die Motivation für die Anwendung von KI zur Entscheidungsunterstützung besteht weiterhin darin, dass selbst im hochspezialisierten KH-TB einzelne Patientenfälle so komplex sein können, dass es für manche Teilnehmer schwierig sein kann, einen Fall komplett zu verarbeiten. Außerdem ist die Anwesenheit der sachkundigsten und erfahrensten Experten durch terminliche Einschränkungen nicht immer garantiert.
Der Therapieentscheidungsprozess
In der klinischen Praxis erfordern Therapieentscheidungen in der Onkologie allgemein – und damit eingeschlossen in der Kopf-Hals-Onkologie – multi-disziplinäre Expertentreffen (Tumorboards) [4]. Die Teilnehmer sind Spezialisten aus verschiedenen Bereichen der Diagnostik und Therapie, die einen Bezug zu der jeweiligen Tumorentität haben.
Die Entscheidungen bzw. Therapieempfehlungen basieren auf dem Wissen der Teilnehmer bezüglich Leitlinien und klinischer Studien sowie ihrer klinischen Erfahrung [8]. Die meisten klinischen Leitlinien (z. B. der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) oder des US-amerikanischen National Comprehensive Cancer Network (NCCN) ermöglichen in der Regel mehrere Therapieoptionen ohne eindeutige Favorisierung. Dennoch ist das Ziel, im Tumorboard eine für das Individuum optimale Behandlungsempfehlung – nach Möglichkeit im Konsens – auszusprechen [9]. Die offene Diskussion eines Falles soll nach Möglichkeit in einer einstimmigen Entscheidung münden, die protokolliert wird. Dieser Prozess der Entscheidungsfindung unter Berücksichtigung der Patienten-spezifischen Gegebenheiten und vorhandenen Informationen wird als klinische Urteilsbildung bezeichnet [10]. Abb. 1 visualisiert die Verknüpfung von Diagnostik, Therapieentscheidung im Tumorboard und daraus resultierender Therapie sowie die Interaktion mit der unterstützenden Patientenmodellierung.

Abb. 1 Darstellung der digitalen Verknüpfung von Diagnostik, Therapieentscheidungsprozess und Therapie, sowie Begleitung des Prozesses durch das digitale Patientenmodell.
Quelle: ICCAS Annual Report 2020, S. 19, https://www.iccas.de/iccas-jahresbericht-2020-veroeffentlicht/.
Methodische Ansätze für klinische Entscheidungsunterstützung
Der allgemeine medizinische Ausbildungsstand kann mit dem Innovationstempo der Wissenschaft kaum mithalten. Für eine umfangreiche individuelle quantitative Analyse von Risiko- und Therapie-beeinflussenden Faktoren werden Multisequenzierungsdaten in sogenannten MTBs besprochen. Aufgrund des schnellen technischen Fortschritts, der stark sinkenden Sequenzierungskosten und der ständig steigenden Anzahl gezielter Therapien ist zu erwarten, dass bald eine umfassende Tumorsequenzierung wie die Sequenzierung des gesamten Exoms und des gesamten Genoms auch in der Standardversorgung angewendet wird. Kliniker werden daher mit immer komplexeren genetischen Informationen und mehreren Testplattformen konfrontiert, aus denen sie auswählen können.
Gemäß einer Umfrage unter niederländischen Krankenhäusern, die international für die gut strukturierte Zentrumsmedizin bekannt sind, hatten aktuellen Zahlen aus 2018 zufolge weniger als 50 % der Krankenhäuser und nur 5 % der nicht-akademischen Krankenhäuser Zugang zu einem MTB [1]. Dennoch werden die Kapazitäten nicht nur dort, sondern auch hierzulande stetig ausgebaut. Die MTBs spielen damit eine zunehmend größere Rolle in der klinischen Versorgung innerhalb der hochkomplexen onkologischen Therapie. Diese Prozesse werden als ein zentraler Bestandteil in die CDSS eingebunden.
Für CDSS können verschiedene KI-Methoden angewendet werden; die meisten basieren auf neuronalen Netzen oder auf probabilistischen Graphen-Modellen [11, 12]. Diese Methoden sind je nach konkretem Anwendungsfall mehr oder weniger geeignet und abhängig von den jeweils verfügbaren Datenquellen [2, 13].
Methoden basierend auf neuronalen Netzwerken ermöglichen beispielsweise schnelles Lernen aus großen und strukturierten Datenquellen. Allerdings ist die mangelnde Transparenz des Schlussfolgerungsprozesses (Reasoning) zwischen Eingabevariablen und den ausgegebenen Ergebnissen einschränkend, da die Algorithmen normalerweise eine „Blackbox“ für den Benutzer sind. Außerdem sind insbesondere bei diversifizierter und eingeschränkter Datenmenge Grenzen bei der Aussagefähigkeit der Berechnungen gesetzt [11].
Als bekanntes Beispiel sei an dieser Stelle das Projekt Watson von IBM erwähnt, das trotz großen finanziellen, technischen und personellen Aufwands insgesamt eher ernüchternde Ergebnisse vorzuweisen hat [14].
Der methodische Ansatz probabilistischer graphischer Modelle erlaubt methodisch eine transparente und reproduzierbare Datenanalyse, die für den Menschen nachvollziehbar und korrigierbar ist. Mit zunehmender Komplexität erfordert dieser Ansatz aber mindestens eine halbautomatische Modellierung mit entsprechender informationstechnologischer Unterstützung. Für Art und Umfang der Entscheidungsunterstützung im klinischen Kontext bietet sich die Anwendung sogenannter Bayes'scher Netzwerke (BN) an [15].
Mithilfe der BN ist es möglich, die multidisziplinären Entscheidungsprozesse abzubilden und bei der Informationssammlung, -überprüfung und den daraus abgeleiteten Empfehlungen patienten-spezifischer Therapien potentielle Unterstützung zu leisten [7, 16].
Anwendung von Bayes'schen Netzen
Die Modellierung komplexer Entscheidungsprozesse erfordert ein genaues Abwägen bezüglich des Grades der Granularität des Modells. Es muss ein praktikabler Kompromiss zwischen einem sehr einfachen, aber damit wenig aussagekräftigen, und einem sehr detaillierten, aber damit nicht mehr modellier- und berechenbaren Modell erfolgen [17].
Daher werden entsprechende Modelle zunächst mit einer höheren Granularität modelliert und in einem zweiten Schritt auf die relevantesten Variablen eingeschränkt. Dieses Vorgehen ergibt sich auch durch die begrenzte Verfügbarkeit einschlägiger Daten, die für eine vollautomatische, rein datengetriebene Deduktion der Wahrscheinlichkeiten aus den Primärdaten angemessen notwendig wären [18].
Ein kausales BN verbindet Informationseinheiten durch kausale Abhängigkeiten. Jede Variable wird durch eine bedingte Wahrscheinlichkeitstabelle definiert, die auf Basis der zugrunde liegenden Graphenstruktur die Wahrscheinlichkeit verschiedener Konstellationen berechnet (Abb. 2).

Abb. 2 Screenshot eines Teils des Larynxkarzinom-Modells in der Software GeNIe 2.0 mit entsprechenden Einflussparametern auf das T-Stadium sowie dessen probabilistische Berechnung aus Primärinformationen. Quelle: Autoren.
Durch Eingabe spezifischer Daten kann so die Wahrscheinlichkeit für alle nicht beobachteten Variablen des Netzwerks (z. B. N-Stadium, optimale Therapie etc.) berechnet werden. Verschiedene Modellanwendungen haben das Potential von BN zur Unterstützung von Therapieentscheidungen gezeigt, sowohl im nicht-onkologischen [19] als auch im onkologischen Bereich. In der Arbeitsgruppe von van der Gaag wurde beispielsweise ein Entscheidungshilfesystem zur Diagnose von Speiseröhrenkrebs auf der Grundlage eines BN konstruiert [20]. Aussem et al. konstruierten ein BN-Modell für die Diagnostik des Nasopharynxkarzinoms und konnten eine korrekte Berechnung der Klassifizierung aus Primärdaten von 66 % erreichen [21]. Eine weitere Gruppe erstellte ein Modell, um den Nutzen einer adjuvanten Strahlentherapie bei Patienten mit Mundhöhlenkarzinom vorherzusagen [22].
Entscheidungsunterstützende Systeme auf Basis Bayes'scher Netzwerke: der Modellierungsprozess
Zur Modellierung klinischer Entscheidungsmodelle auf der Basis von BN wurde die open access Software GeNIe in der Version 2.0 verwendet. Im Allgemeinen ermöglicht GeNIe neben der graphischen und probabilistischen Modellierung auch eine qualitative und quantitative Validierung sowie eine Modellanalyse. Grundsätzlich ist das Programm nicht speziell für umfangreiche medizinische Modelle entwickelt. Die Verwendung im medizinischen Kontext erfordert daher einige Grundlagen im Verständnis von graphischer Modellierung, Probabilistik und der Anwendung von BN. Durch dieses notwendige Verständnis ist die Umsetzung des Modellierungsprozesses für Mediziner sehr kompliziert und macht eine längere Einarbeitung sowie technologische Unterstützung erforderlich. Entsprechend wurden im Rahmen des DPM-Projektes unter Verwendung von GeNIe als Basis verschiedene Web-Tools entwickelt und in den Prozess integriert. Diese Werkzeuge unterstützen die Modellierung und die Modellvalidierung.
Für die Entwicklung eines entscheidungsunterstützenden Systems auf Basis von BN sind insbesondere im Prozess der Modellierung und Validierung technische Werkzeuge zur Unterstützung der Kliniker notwendig. Für den Modellierungsprozess von klinischen BN existieren bisher nur wenige Regeln, die dem Modellierer mehr Flexibilität bieten, das gewünschte CDSS zu implementieren [18]. Andererseits können Modelle ohne Unterstützung des Modellierungsprozesses schnell inkonsistent, übermäßig komplex oder für andere potentielle Benutzer nicht interpretierbar werden. Daher sind Modelle im Vergleich zur Komplexität einer Entscheidung relativ klein und werden häufig nur von den Modellierern selbst oder beteiligten Experten verwendet. Diese Einschränkungen reduzieren sowohl die Flexibilität als auch die individuelle Voreingenommenheit anderer Kliniker, die nicht in den Modellierungsprozess eingebunden sind. Durch geeignete Unterstützungswerkzeuge des Modellierungsprozesses sollen perspektivisch eine multidisziplinäre Modellierung ermöglicht und das Modellverständnis maximiert werden, um so die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern.
Initial wurde durch Entwicklung einer Modell-Metastruktur für medizinische Entscheidungsmodelle eine gewisse Standardisierung erreicht, um konsistente und erweiterbare Modelle zu gewährleisten. Das Problem des Erstellens der umfangreichen Wahrscheinlichkeitstabellen mit teilweise über 100.000 Parametern konnte durch Weiterentwicklung der bestehenden papierbasierten Modellierungsmethode [20] und Implementierung in ein dynamisches Webbrowser-basiertes Tool gelöst werden – vor allem im Hinblick auf eine erhebliche Zeitersparnis. Weiterhin wurden Workflows zur Modellierung und Modellvalidierung entwickelt und geprüft. Schließlich wurde durch eine graphische Benutzeroberfläche eine benutzerorientierte Visualisierung entwickelt und ein Teilmodell im klinischen Anwendungsfall getestet.
Zur Integration der bedingten Wahrscheinlichkeitstabellen (engl. conditional probability tables, CPT) konnte auf Vorarbeiten einer papierbasierten Methode zurückgegriffen werden, welche die Erstellung der CPTs anhand eines Fragebogens in natürlicher Sprache speziell im klinischen Kontext beschreibt [20]. Dieser Fragebogen ermöglicht den klinischen Experten eine unabhängige und intuitive Integration der Wahrscheinlichkeitswerte. Weiterhin erlaubt dieser Ansatz den medizinischen Experten, ein Modell ohne unmittelbare Unterstützung von Wissensingenieuren zu erstellen. Auf Basis dieses Ansatzes wurde in unserer Arbeitsgruppe ein dynamisches Web-Tool implementiert. Zur Identifizierung der Einflussparameter werden in den verschiedenen Kombinationen durch Verschieben einer Leiste die Wahrscheinlichkeiten in Form von Prozentwerten hinterlegt (Abb. 3).

Abb. 3 Screenshot des webbasierten Tools zur Bestimmung der bedingten Wahrscheinlichkeiten der ausgewählten Informationseinheit (in diesem Fall N-Stadium). Die Wahrscheinlichkeitstabellen werden aus den eingestellten Werten (durch Verschieben der grauen Kästchen mit dem Prozentwert auf dem Balken) für die gleichzeitige Berechnung in GeNIe 2.0 im Hintergrund berechnet. Quelle: Autoren.
Durch Integration einer Vorabfrage von dominanten Einflussparametern konnte der zeitliche Modellierungsaufwand drastisch reduziert werden [23]. In der Validierungsanalyse eines Teilmodells zur Ermittlung des TNM-Stadiums konnten die über 70.000 beurteilten Wahrscheinlichkeitsparameter innerhalb von sechs Zeitstunden erfasst werden. Über entsprechende Schnittstellen ermöglicht das CPT-Tool das Herunter- und Hochladen der neuen Informationen in die Software GeNIe. Dieser wichtige Schritt ist essentieller Bestandteil des Modellierungsvorgangs und erlaubt ein funktionierendes CDSS [24].
Für die Modellvalidierung haben wir einen Validierungs- und Optimierungs-Workflow etabliert [16]. Dieser beschreibt einen Prozess zum Validieren und Ändern eines Modells in standardisierter Reihenfolge, um die Möglichkeit einer fehlerhaften daten- oder benutzerspezifischen Modellanpassung zu verringern. Im Workflow werden insbesondere drei iterative Schritte berücksichtigt:
- die quantitative Validierung,
- die qualitative Validierung und
- die Modellmodifikation.
Gegenwärtig sind diese Schritte der Modellvalidierung nur in Zusammenarbeit mit einem Wissensingenieur möglich, da die Optimierung des Modells in der Software GeNIe realisiert werden muss [16]. In Zukunft soll ein halbautomatischer Ansatz auf Grundlage standardisierter Fragebögen ähnlich wie bei der Primärmodellierung Anwendung finden.
Das digitale Patientenmodell „Larynxkarzinom“
Als Anwendungsbeispiel für die Konstruktion eines DPM auf der Basis von BN wurde das Larynxkarzinom als gut charakterisierter und häufiger KHT ausgewählt. Ein Larynxkarzinom wird jährlich weltweit bei über 180.000 und hierzulande bei ca. 3.600 Patienten diagnostiziert. Das Fünf-Jahres-Überleben liegt in Deutschland über alle Tumorstadien hinweg bei knapp über 60 % [25, 26]. Das Staging wird primär durch die TNM-Klassifikation beschrieben, bei der die Größe des Primärtumors (T), der Befall lokoregionärer Lymphknoten (N) und Fernmetastasen (M) beschrieben werden; Parameter, die mit der Prognose korrelieren [27]. Für die betroffenen Patienten hat das (Langzeit-)Überleben Priorität, aber Aspekte der Lebensqualität einschließlich funktioneller, sozialer und psychologischer Aspekte gewinnen zunehmend an Bedeutung.
Wie eingangs erwähnt, werden die Therapieoptionen im KH-TB von Experten aller relevanten Disziplinen diskutiert. Zu den entscheidenden Informationen gehören neben dem Tumorstadium nach TNM auch der Allgemeinzustand eines Patienten, Komorbiditäten, bestimmte molekularpathologische Faktoren, potentielle Risiken und Komplikationen von Therapien sowie Aspekte der Funktionalität und Lebensqualität. Schlussendlich werden die Therapieempfehlungen aus dem KH-TB mit dem Patienten besprochen.
Die Modellierung des Larynxkarzinom-Modells in der Arbeitsgruppe nahm ca. drei Jahre in Anspruch. Neben der klinischen Erfahrung wurden verschiedene Quellen in den Modellierungsprozess einbezogen, darunter medizinische Fachliteratur und einschlägige klinische Leitlinien sowie eine Analyse der Entscheidungen des lokalen KH-TB. In der Arbeitsgruppe wurde kontinuierlich am Modell gearbeitet, dieses erweitert und neue Teilnetzwerke erstellt und überprüft. Binnen drei Jahren wuchs die Graphik im ersten Jahr auf knapp 600, im zweiten auf ca. 800 und schließlich auf über 1.000 Variablen.
Das DPM „Larynxkarzinom“ besteht nun aus 1.020 Variablen mit 1.362 Abhängigkeiten und über 1,38 Millionen Wahrscheinlichkeits-Kombinationen; es ist damit das umfangreichste lesbare klinische Entscheidungsmodell auf der Basis von BN. Trotz des Umfangs bleibt das Modell berechenbar.
Abb. 4 zeigt das graphische Modell mit hervorgehobenen Gruppen von Variablen, die die primäre Tumorspezifikation, TNM-Staging, Komorbiditäten, molekularpathologische Faktoren, Therapieoptionen sowie mögliche Komplikationen und Aspekte der Lebensqualität charakterisieren.

Abb. 4 Übersicht über das gesamte Modell Larynxkarzinom mit Markierung der Submodelle. Quelle: Autoren.
Der Umfang des Modells ist an den Prozess der Entscheidungen im KH-TB angelehnt. Details zu bestimmten Behandlungsverfahren (z. B. genaue Bestrahlungsplanung, spezielle chirurgische Techniken etc.) wurden im aktuellen Stadium der Modellierung nicht berücksichtigt. Diesbezügliche spezifische Prozesse sowie diagnostische und therapeutische Aspekte sollen in späteren Modellen abgebildet werden – mit der Option einer Anbindung an bereits bestehende Modelle.
Als Teil des DPM „Larynxkarzinom" wurde zuerst das TNM-Staging-Subnetzwerk modelliert und in der Folge validiert. Dieses Teilmodell besteht aus 303 Varia-blen mit 334 Abhängigkeiten und knapp 80.000 zu bewertenden Wahrscheinlichkeits-Kombinationen [16]. Das TNM-Submodell erwies sich als ideal für die kontrollierte probabilistische Modellierung und Validierung, da die meisten Parameter in der TNM-Klassifikation [27] klar definiert sind, ausreichend Umfang und Komplexität bieten und zusätzlich einen großen Einfluss auf die Therapieentscheidungen haben.
Für die Modellvalidierung wurde ein Validierungs- und Änderungsworkflow etabliert [16]. Die initiale Modellgenauigkeit der korrekten Berechnung des TNM-Stadiums aus Primärdaten von 66 Larynxkarzinompatienten betrug 76 % im Vergleich zur klinischen Dokumentation des TNM-Stadiums im KH-TB. Durch detaillierte Analyse der Abweichungen konnten vier Probleme für falsche Vorhersagen identifiziert werden:
- falsche Befunde,
- unvollständige Befunde (d. h. fehlende Informationen über unauffällige Befunde wie nicht infiltrierte Strukturen),
- ungenaue Befunde (d. h. fehlende Trennschärfe in den Daten) und
- ein fehlerhaftes Modell (d. h. Fehler in der Modellstruktur oder den CPTs wie fehlende Variablen oder falsche Parameter).
Die detektierten Probleme im Modellierungsprozess wurden schrittweise mit jeweiliger Kontrolle behoben und auf Plausibilität geprüft, um eine Verzerrung durch die Modifizierungen zu reduzieren. Die Genauigkeit konnte so schrittweise von 76 % nach Korrektur aller o. g. Problemfelder bis auf 100 % erhöht werden. Damit zeigte sich auch, dass der größte Anteil für die Optimierung der Genauigkeit durch Anpassung bzw. Korrektur der Datenqualität erreicht werden konnte und nur ein Anteil von 3 % auf Unzulänglichkeiten des Modells zurückzuführen war [16].
Diese Ergebnisse unterstützen die Ansicht, durch die Integration entsprechender CDSS für eine Kontrolle der Datenqualität und damit Transparenz sorgen zu können. Durch die erfolgreiche Validierung des Submodells kann nun die Umsetzung in weiteren Teilen des Modells erfolgen. Allerdings ist in diesem Prozess aufgrund der höheren Unsicherheit eine geringere Genauigkeit zu erwarten.
Durch die vielschichtigen Einflussmöglichkeiten diverser Parameter nicht nur auf ein Krankheitsbild – wie in unserem Fall das Larynxkarzinom – ist für die Weiterentwicklung der digitalen Patientenmodelle neben einer standardisierten Grundstruktur auch die ineinandergreifende Verknüpfung verschiedener Modelle von Bedeutung. Diesem soll durch ein modulares System der verschiedenen krankheitsspezifischen Modelle in einem sogenannten Multi-Entitäten-BN erfolgen [15], in dem eine geordnete Beziehung der einzelnen Ebenen durch Verknüpfungen zwischen den Ebenen realisiert wird. Weiterhin können Ursache-Wirkungs-Beziehungen auch als Zeitachse betrachtet werden. Die Umsetzung dieses Konzepts ist gegenwärtig in Arbeit und bedarf noch weiterer Schritte der Optimierung sowie späterer Validierung.
Fazit und Ausblick
Verschiedene Anwendungen von KI sind bereits in der Medizin in Gebrauch. Dies betrifft vor allem die Diagnostikbereiche mit Auswertung komplexer Daten durch entsprechende Algorithmen. Das wachsende Wissen führt auch im Therapieentscheidungs-Prozess zu steigenden Herausforderungen, sodass mit dem Konzept der DPM auch diese wichtige klinische Arbeit zur Verbesserung von Transparenz und Nachvollziehbarkeit einer Unterstützung bedarf. Beispielhaft konnten wir zeigen, dass das DPM „Larynxkarzinom" die relevanten Informationen eines multidisziplinären Expertenteams für die Evaluation der Therapieoptionen integriert und damit die erfolgreiche Modellierung eines komplexen klinischen Anwendungsbeispiels bestätigt. Zentraler Punkt des Modells ist die Unterstützung der Therapieentscheidung, wenngleich auch weitere Aspekte,
z. B. die Lebensqualität, integriert wurden. Teile des Modells wurden erfolgreich validiert. Nach vollständiger Entwicklung und Validierung soll der Ansatz auf andere Krankheiten ausgedehnt werden. Die entwickelten Methoden und Werkzeuge ermöglichen einen optimierten Modellierungsprozess. Idealerweise wird künftig durch eine All-in-One-Präsentation der Webplattform für den Kliniker eine geführte Modellierung und Validierung in Zusammenarbeit mit anderen Experten möglich sein – auch über Landesgrenzen hinweg.
Summary
Advances in diagnostics and individualized therapies contribute to an in-creasing complexity in the treatment of oncological diseases that require new, comprehensive decision-making support. In addition to molecular tumor boards, which evaluate molecular pathological signatures for various tumor entities, supporting processes with artificial intelligence are also finding their way into research and practice. This also includes digital patient models that optimize the collection, structuring and evaluation of information and thus support decision-making processes in tumor boards. For example, a clinical decision support system based on Bayesian networks was developed and partially validated for laryngeal cancer. In the future, artificial intelligence will support clinical decision-making i. a. in the form of digital patient models.
Keywords: Artificial intelligence, digital patient models, laryngeal cancer, therapy decision support, tumor board