AIO-Herbstkongress 2024

Geriatrische sowie molekulare und translationale Onkologie: Ältere Krebspatienten im Zentrum der onkologischen Versorgung

Den State of the Art in der geriatrischen Onkologie und der molekularen und translationalen Onkologie beleuchteten zwei Sitzungen im Rahmen des 21. Herbstkongresses der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO). Die Referenten sprachen über geriatrisches Assessment, neue Leitlinien in der Präzisionsonkologie, digitale Biomarker sowie den Nutzen des Modellvorhabens Genomsequenzierung.

Schlüsselwörter: Geriatric Assessment and Management (GAM), FORTA(Fit for the Aged)-Liste, ­digitale Erfassung des Gesundheitszustands, Präzisionsonkologie, translationale Onkologie

Geriatrische Onkologie: „Ältere Patienten sind unsere ­Hauptklientel“

Aufgrund der demografischen Entwicklung sei in der Zukunft mit einer deutlichen Zunahme der Krebsneuerkrankungen und krebsbedingten Todesfälle weltweit zu rechnen, erinnerte PD Dr. Ulrich Wedding, Jena. Ältere Patienten mit Krebserkrankungen sollten daher im Zentrum der onkologischen Versorgung stehen: „Ältere Patienten sind unsere Hauptklientel. Es ist nicht damit getan, dass sich nur ein paar Spezialisten auf diese konzentrieren“, mahnte er. Vielmehr sei die Versorgung Älterer eine Hauptaufgabe der Onkologie. Er nannte fünf Themenbereiche, in denen verstärkt geforscht werden sollte, um die Versorgung von älteren Patienten mit Krebs und Komorbiditäten zu verbessern: Wearables, Ernährung und Mikrobiom, Seneszenz und Senotherapie, Studienrekrutierung und klinisches Design sowie die Verträglichkeit onkologischer Behandlungen. Die im Jahr 2023 auf Basis neuer Studienergebnisse aktualisierten Leitlinien der American Society of Clinical Oncology (ASCO) zur Behandlung älterer Patienten (≥ 65 Jahre), die eine systemische Tumortherapie erhalten, empfehlen, dass ein geriatrisches Assessment (GA) erfolgen sollte und die Ergebnisse bei den Therapieentscheidungen berücksichtigt werden sollten [1]. „Wir sehen, dass die Tumorboard-Empfehlungen in bis zu einem Drittel der Fälle anders ausfallen, wenn bei Vorstellung des Patienten Informationen zum geriatrischen Assessment vorliegen“, erklärte Wedding. Ein detaillierter Blick auf die Studiendaten zeige, dass bei GA-basierten Inventionen häufiger geringere Toxizitäten auftreten würden, da die Therapieempfehlungen im Tumorboard entsprechend angepasst worden seien, konkretisierte er. Als Screening-Tool zur Detektion von Veränderungen eigneten sich Fragebögen, die vom Patienten selbst ausgefüllt und vom Behandler ergänzt werden können. Die beim GA evaluierten Aspekte umfassen unter anderem: körperliche Leistungsfähigkeit, funktioneller Status, Komorbiditäten und tägliche Medikamenteneinnahme, Kognition, psychologischer Zustand, Ernährungssituation sowie soziale Unterstützung.

Geriatrisches Assessment frühzeitig starten

Ähnliche Kriterien finden sich auch in den im Jahr 2024 aktualisierten Empfehlungen des Positionspapiers der European Society for Medical Oncology (ESMO)/International Society of Geriatric Oncology (SIOG) zum Geriatric Assessment and Management (GAM) [2]. Die Autoren betonen zudem, dass das GAM frühzeitig – also noch vor Festlegung des Behandlungsplans – erfolgen sollte. Für die Evaluierung des Toxizitätsrisikos der Therapie eigneten sich die Scores CRASH (Chemotherapy Risk Assessment Scale for High-Age Patients) oder CARG (Cancer and Aging Research Group). Hinweise zum onkologischen Basisscreening, das Empfehlungen aus den jeweiligen ­S3-Leitlinien beinhalte, finden sich unter www.onkozert.de.

Die AIO aktualisiere derzeit unter anderem die FORTA(Fit for the Aged)-Liste für Onkologika, eine Postitivliste von Medikamenten, die auch bei älteren und komorbiden Patienten sicher eingesetzt werden können. Bei den 15 häufigsten Krebserkrankungen sollen dazu bis zu 150 Therapieregime (inklusive Supportiva) bewertet werden. Zudem sei man dabei, Onkopedia-Empfehlungen zur geriatrischen Onkologie zu etablieren. Die Zukunft liege auch in digitalen Anwendungen, so Wedding: „Ich vermute, dass künftig die digitale Erfassung des Gesundheitszustands von Älteren zum Beispiel über Wearables eine wichtige Rolle spielen wird. Dies ist besser als eine Momentaufnahme durch das GA. Möglicherweise erhalten die Patienten dann eine App und nutzen diese über eine Woche. Anschließend fragen wir die Inhalte – zum Beispiel zu Mobilität, Schlafqualität etc. – ab.

Eine zunehmende und bald überwiegende Zahl der Patienten mit Krebserkrankung sei alt. Daher müsse die geriatrische Onkologie als Schwerpunkt innerhalb des Fachbereichs verstanden werden, unterstrich er. Man sollte vom bisher vorwiegenden dia­gnostischen Einsatz des GA zu Assessment-basierten Interventionen gelangen. Studien hätten gezeigt, dass GA-basierte Therapieentscheidungen und Interventionen das Outcome verbesserten.

Molekulare und translationale Onkologie

Die erweiterte molekulare Diagnostik ermöglicht immer häufiger personalisierte Therapieempfehlungen. So sei beispielsweise bei einer Krebserkrankung mit unbekanntem Primärtumor (CUP) oder bei der Drittlinientherapie des fortgeschrittenen Magenkarzinoms die personalisierte Therapieempfehlung aus einem molekularen Tumorboard bereits Leitlinienstandard, berichtete Dr. Damian Rieke, Berlin. Man müsse sich aber auch fragen, wie solch eine individualisierte Diagnostik und Therapie in der Praxis umgesetzt werden könne. Die 2024 erschienene neue Onkopedia-Leitlinie zur Präzisionsonkologie sieht dafür einen mehrstufigen Prozess vor [3]. Dieser umfasst: Patientenauswahl, molekulare Analyse, Befunderstellung, klinische Annotation, molekulare Tumorkonferenz/Therapieempfehlung sowie Behandlung und Follow-up und gegebenenfalls (Re-)Biopsie.

Gemäß Onkopedia-Leitlinie werde eine erweiterte molekulare Diagnostik bei Patienten als sinnvoll angesehen, die eine fortgeschrittene oder seltene Krebserkrankung aufweisen, eine leit­liniengerechte Therapie absehbar durchlaufen und fit genug für diese Vorgehen seien, erklärte Rieke. Die ESMO-Empfehlungen aus 2024 [4] befürworten den Einsatz von Next Generation Sequencing (NGS) bei Patienten mit metastasierten Krebserkrankungen, falls ein Zugang zu zielgerichteten Therapien verfügbar ist – „dies ist in Deutschland der Fall“, erinnerte Rieke. „Personalisierte Onkologie ist mittlerweile Standard; das gilt für zahlreiche Tumorentitäten. Die Umsetzung ist ein mehrstufiger, multidisziplinärer Prozess.

Wichtig ist dabei: Wir arbeiten individualisiert, aber gleichzeitig auch evidenzbasiert. Die Trennung von Forschung und Versorgung hat meines Erachtens in diesem Bereich keinen Sinn“, resümierte Rieke.

Digitale Biomarker in der Präzisionsonkologie

Im Mittelpunkt des Vortrags von Dr. Marie-Elisabeth Leßmann, Dresden, standen digitale Biomarker, die durch künstliche Intelligenz (KI) teilweise erst entstehen und/oder durch diese trainiert werden. „Seit etwa 15 Jahren beschäftigt man sich mit Deep-Learning-Netzwerken, also großen neuronalen Netzwerken, die multimodale unstrukturierte Daten zum Training verwenden und dann eine Vorhersage machen. Diese sind mittlerweile State of the Art in der KI-Forschung“, erklärte sie.

Als Datenbasis werden beispielsweise pathologische oder radiologische Bilddaten und als Textdaten genetische Daten oder Arztbriefe verwendet. Leßmann beschrieb das Vorgehen bei einem KI-Training anhand von Bildern: „Das Bild wird zuerst in Zahlen zerlegt. Dann füttert man das Netzwerk mit der Information, die man haben möchte – wie einem Biomarker oder dem Therapieansprechen. Damit trainiert man das Netzwerk und hat am Ende hoffentlich einen Marker, der gut funktioniert.“

Dies klappe heute schon gut für etablierte Biomarker und genetische Alterationen von histologischen Schnitten, so zum Beispiel zur Vorhersage des PD-L1-Status in immunhistochemischen Bildern, von genetischen Alterationen wie von EGFR beim nichtkleinzelligen Lungenkarzinom (NSCLC) oder auch zur Vorhersage von Mikrosatelliteninstabilität bei Darmkrebs, konkretisierte Leßmann. Der Algorithmus markiere in den Bildern auch genau, worauf ­geschaut wurde, als er die Vorhersage gemacht hat.

Neue Biomarker generieren

Spannend sei es auch, neue Biomarker zu entwickeln, die erst durch Deep-Learning-Netzwerke entstehen. So ließen sich Risiko-Scores und Therapieansprechen vorhersagen, sagte Leßmann und beschrieb ein Beispiel: „Im Rahmen der adjuvanten Therapie bei Darmkrebs wurde retrospektiv anhand der histopathologischen Bilder ein Netzwerk trainiert, und es konnten drei Risikogruppen identifiziert und ein Unterschied im Überleben nachgewiesen werden.“ Auch für das Mammografiescreening wurde bereits ein KI-basierter Algorithmus eingesetzt, der bei einzelnen Patientinnen ein erhöhtes Krebsrisiko prognostizierte – „in der anschließenden Magnetresonanztomografie zeigte sich, dass der KI-Algorithmus sehr präzise war“.

Für die Verarbeitung von Textdaten könne man große Sprachmodelle (Large Language Models; LLM) wie beispielsweise ChatGPT als medizinische Assistenten für verschiedene Aufgaben nutzen, meinte Leßmann: zur Strukturierung von medizinischen Daten (z. B. Informationsextrahierung aus anonymisierten Arztbriefen), um kontextspezifisches Wissen zur Verfügung zu stellen (wie durch die Einspeisung von Leitlinien), um mit der KI zu chatten und auch um multimodale Daten einzugeben und damit Vorhersagen zur empfohlenen Therapie zu erhalten. „Diese Modelle können auch Vorschläge machen, welche Studien für den einzelnen Patienten genutzt werden können“, so Leßmann. Diese seien oftmals besser als die Vorschläge der Experten, die schon einmal einen kleinen Nebensatz in einer Studie überlesen.

Leßmann blickte voraus: „Große multimodale Modelle zu verwenden, die sowohl Bilder als auch Texte vereinen und gemeinsam trainieren, wird die Methode der Zukunft sein.“

Bericht vom 21. AIO-Herbstkongress vom 21. bis 23.11.2024 in Berlin.