Ein kurzer Essay über Mentoring

Der Aufbau des Netzwerks „Minerva-FemmeNet“ in der Max-Planck-Gesellschaft (MPG)

Allgemein bezeichnet das Wort Mentor (weiblich: Mentorin) die Rolle eines Ratgebers oder eines erfahrenen Beraters, der mit seiner Erfahrung und seinem Wissen die Entwicklung von Mentees fördert. Die Bezeichnung geht auf eine Figur der griechischen Mythologie zurück: Ein Freund des Odysseus namens Mentor war der Erzieher von Odysseus’ Sohn Telemachos" (aus Wikipedia).

Das erste Mal, als ich mit dem Thema Mentoring in Berührung kam, war 2005 bei einem der jährlichen Treffen der Frauenbeauftragten der MPG. Eine der Frauenbeauftragten, Barbara Legrum (zu der Zeit Medizinisch-Technische Assistentin an einem der Frankfurter Institute), war aufgefallen, dass die Betreuung – vor allem von Doktorandinnen – oft nicht optimal war. Deshalb hatte sie sich vorgenommen, ein Mentoring-Netzwerk aufzubauen. Nach langer Tätigkeit am gleichen Institut hatte sie eine Reihe von Wissenschaftlerinnen kennengelernt, die mittlerweile auch an anderen Institutionen arbeiteten. In weiser Voraussicht hatte sie festgelegt, dass Mentorin und Mentee nicht am gleichen Institut arbeiten sollen, wenn sie eine Mentoring-Beziehung eingehen. Von den Wissenschaftlerinnen erklärten sich relativ viele (64) bereit, als potenzielle Mentorinnen Doktorandinnen am Institut zu betreuen. Damals (um 1990) erwies sich die Rekrutierung von Mentees allerdings wesentlich schwieriger. Gerade mal 4 Doktorandinnen waren bereit, sich auf dieses Abenteuer einzulassen; sie taten es vermutlich auch, um Barbara nicht zu enttäuschen. Während dieses Vortrags dachte ich kurz: Mit mir als Doktorandin hätte Barbara es damals auch schwer gehabt – wozu eine Mentorin? Ich schaffe das doch alleine! Aber während dieses Vortrags dachte ich auch: Es wäre doch bestimmt toll gewesen, eine vertraute Person zu haben, mit der ich alle schwierigen Situationen hätte besprechen können. Und genau diese Vorstellung schlug recht schnell in Begeisterung um. Denn mit genau diesem Mentoring hätte ich mich in einigen Situationen vielleicht etwas diplomatischer oder klüger verhalten. Aber wie soll man in so jungen Jahren bereits um die Schwierigkeiten wissen, die einen oft erst später erwarten? Jetzt sah ich ein zukünftiges Tätigkeitsfeld vor mir: selbst als Mentorin aktiv zu werden.

Mentoring aus heutiger Sicht

Beim Mentoring steht die Mentee im Mittelpunkt, es geht um ihre Entwicklung, ihr Fortkommen, die Überwindung von Schwierigkeiten auf dem Weg zum beruflichen Ziel. Es ist daher auch immer die Mentee, die im Austausch mit der Mentorin die Ziele definiert, die erreicht werden sollen. Die erfahrenere Mentorin steuert Gedanken bei, an die die jüngere Mentee nicht denkt, da sie eben noch keine entsprechende Erfahrung hat. Danach folgt die gemeinsame Arbeit von Mentorin und Mentee, um das erwünschte Ziel zu erreichen. Die Mentorin bringt ihr Wissen und ihre Erfahrung in die Arbeit mit ein, die Mentee fragt nach, beide machen Vorschläge für mögliche Lösungsansätze. Mentoring unterscheidet sich also von einer reinen „Beratungssituation“, in der Ratsuchende von einem Ratgeber Instruktionen erhalten, was sie tun sollen, um das gewünschte Ziel zu erreichen.
Gutes und erfolgreiches Mentoring setzt eine offene und vertrauensvolle Beziehung zwischen Mentorin und Mentee voraus, ohne die jede Art von Kommunikation nicht funktioniert. Auch aus diesem Grund haben Mentoring-Programme mit einer Koordinatorin (wie z. B. „Minerva-FemmeNet“) einen großen Vorteil: Mittels entsprechender Datenbanken sucht die Koordinatorin zu einer Mentee die best-passendste Mentorin heraus, überprüft das gegenseitige Einverständnis und vermittelt den Kontakt. Beide, Mentee und Mentorin, können die Koordinatorin darüber informieren, wenn die Mentoringbeziehung nicht stimmig ist, also keine gute Kommunikation zulässt. Die Koordinatorin sucht dann eine andere Mentorin, die in Interessenslagen und persönlichen Schwerpunkten gut zu der Mentee passt und hofft, dass das neue „Tandem“ besser miteinander harmoniert.

Bauchgefühle“ ernst nehmen

Wann ist eine Beziehung unstimmig? Das ist oft eine Sache des „Bauchgefühls“. Aber auch das Ernstnehmen von „Bauchgefühlen“ muss man erst lernen. Ich weiß noch, dass ich mich bei der Einstellung meines ersten Doktoranden unwohl fühlte und dachte: Gott sei Dank habe ich erst ab Januar mit ihm zu tun! Und jedes Mal, wenn er bei mir vorbeikam, wiederholte ich dieses Mantra, anstatt länger darüber nachzudenken. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass es zwischenmenschlich nicht funktionierte. Ich hatte seiner Einstellung zugestimmt, weil ich eigene Stellen zu besetzen hatte. Er brauchte eine, also bekam er eine.
Inzwischen weiß ich: Selbst dann, wenn man nicht in der Lage ist, triftige Gründe zu benennen, die es einem erschweren, sich auf die andere Person offen einzulassen, muss man diese Gefühle ernst nehmen und möglichst schnell die Konsequenzen daraus ziehen. Erzwingen kann man eine „gute Beziehung“ nicht. Im Falle des Doktoranden erwies es sich, dass ich tatsächlich nicht mit ihm harmonierte – er fand glücklicherweise eine neue Stelle in einer anderen Stadt und schloss dort seine Promotion bereits nach zwei Jahren ab. Bei mir hätte es wesentlich länger gedauert, und wäre vermutlich nicht ohne gegenseitige mentale Verletzungen abgelaufen.

Zeitliche Vorgaben

Der zeitliche Rahmen von Mentoring-Prozessen sollte immer erst festgelegt werden, wenn ein Ziel definiert ist. Ein erstes Mentoring-Ziel könnte z. B. lauten: „Wie überwinde ich meine Ängste bei einem öffentlichen Vortrag?“. Kann der zeitliche Rahmen nicht eingehalten werden, sollte man evtl. überlegen, weitere Personen zum Mentoringprozess hinzuzuziehen. Möglicherweise haben die Mentorin oder die Koordinatorin in ihren Netzwerken Personen an der Hand, die das Thema „selbstbewusst vortragen“ gut vermitteln können. Wird die Mentoring-Beziehung weiterhin erwünscht, um gemeinsam ein nächstes Ziel zu erreichen, wird dieses Ziel wiederum zwischen Mentee und Mentorin besprochen und wiederum ein zeitlicher Rahmen festgelegt.
Wird von vornherein ein höher gestecktes Ziel angestrebt (z. B. berufliche Orientierung mit entsprechender Stellensuche), muss die zeitliche Vorgabe natürlich entsprechend länger eingeplant werden. Vermutlich erfordert dies auch die Mitarbeit von Personen mit Erfahrung aus unterschiedlichen Bereichen (z. B. Industrie; Erwachsenenbildung; Universität).
Im Laufe der vielen ernsthaften und aufrichtigen Gespräche über Themen, die Mentee und Mentorinnen am Herzen liegen, entstehen oft Freundschaften zwischen beiden. So verbindet mich heute noch eine enge Freundschaft mit vielen meiner (ehemaligen) Mentees. Demnächst werde ich nach Lissabon fahren und diese schöne Stadt durch die Augen von „Einheimischen“ kennenlernen, da gleich zwei meiner „Freundinnen“ dort wissenschaftlich arbeiten. Ich freue mich darauf.

Autor
Dr. rer. nat. habil. Ingrid G. Haas
Freiburg im Breisgau
Aus der Rubrik