Bevor man Prognosen wagt, wohin die Reise der Transplantationsmedizin gehen könnte, lohnt ein kurzer Blick zurück auf große Errungenschaften und hartnäckig verfolgte Irrwege.
Wechsel der Paradigmen
Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn hat wissenschaftlichen Fortschritt als diskontinuierlichen Prozess und Abfolge von konkurrierenden Denkmodellen (Paradigmen) beschrieben [1]. Das war auch in der Transplantationsmedizin der Fall. Kaum hatten die beiden Säulen der erworbenen Immunität – die zelluläre (T-Lymphozyten) und die humorale (Antikörper und Komplement) – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kontur angenommen, teilte sich die Transplantationsmedizin auf in ein zelluläres und ein humorales Lager. Es begann ein jahrelanges, zähes Ringen um die Deutungshoheit [2]. Auch Elemente der angeborenen Immunität (Makrophagen und natürliche Antikörper) wurden erkannt, spielten aber vorerst keine Rolle.
Zunächst schien das humorale Lager die Oberhand zu gewinnen. Karl Landsteiner (Nobelpreis 1930) entdeckte die Blutgruppen (AB0) und deren Bedeutung, und Paul Terasaki konnte in den 1960er-Jahren das gefürchtete Phänomen der hyperakuten Abstoßung aufklären (präformierte, Donor-spezifische Alloantikörper [DSA] im Empfänger, erworben durch frühere Transplantate, Bluttransfusionen oder Schwangerschaften) und dann mittels eines Crossmatch-Tests (In-vitro-Reaktion von Empfängerserum mit Spenderlymphozyten) verhindern. Damit waren die größten „humoralen“ Gefahren gebannt, und der Weg war frei für das zelluläre Paradigma.
Sir Peter Medawar (Medizinnobelpreis 1960) hatte auf der Grundlage vieler experimenteller Hauttransplantationen in den 1940er-/1950er-Jahren schließlich verfügt, dass Organabstoßungen hauptsächlich durch Lymphozyten verursacht würden. Dieses Diktum wurde bereitwillig angenommen und auf die gesamte Transplantationsmedizin übertragen – mit weitreichenden Konsequenzen in mehreren Bereichen. So wurden weitere Untersuchungen zur Bildung und Wirkung von Alloantikörpern nach einer Transplantation nur sporadisch durchgeführt bzw. blieben ganz auf der Strecke. Histopathologische Untersuchungen von Transplantatbiopsien konzentrierten sich auf das Verteilungsmuster von infiltrierenden Lymphozyten im jeweiligen Organ. Die kapillären Netzwerke (ausgenommen die prominenten glomerulären Kapillarschlingen) im Interstitium blieben weitgehend unbeachtet. Es wurden Immunsuppressiva entwickelt und in der Klinik erprobt, die hauptsächlich die zelluläre Immunität bändigen konnten (z. B. Calcineurin-Inhibitoren). Ihr therapeutischer Erfolg stärkte wiederum das zelluläre Paradigma.
Heute wissen wir, dass die Generalisierung des zellulären Dogmas ein Fehlschluss war. Bei der Vaskularisierung von Hauttransplantaten werden die Kapillaren des Spenders von denen des Empfängers verdrängt. Antikörper und andere Entzündungsmoleküle des Empfängers verbleiben im eigenen endothelialen Raum und treffen gar nicht auf das fremde Endothel, und es findet keine humorale Abstoßung statt. In anderen Organen (z. B. Niere und Herz) können sie jedoch direkt auf das fremde Endothel treffen und eine solche auslösen.
Die Renaissance der humoralen Immunität in der Transplantationsmedizin setzte daher mit Verzögerung ein. In den frühen 1990er-Jahren hatte Philip Halloran bemerkt, dass Abstoßungsreaktionen in Nieren in der Gegenwart von zirkulierenden Alloantikörpern ein besonderes histologisches Muster aufweisen (Akkumulation von Leukozyten in den Kapillaren; „microvascular inflammation“). Er scheiterte jedoch längere Zeit am Widerstand der Pathologie, diese Abstoßungsform als eigene Entität in die Banff-Klassifikation aufzunehmen. Erst nachdem Jahre später die kapilläre C4d-Färbung als Beleg für eine humorale Anti-Endothel-Reaktion allgemein anerkannt worden war [3], konnte das Konzept der humoralen Abstoßung Gestalt annehmen. Endgültig bestätigt wurde es Anfang der 2000er-Jahre durch gezielte therapeutische Interventionsstudien (z. B. selektive Antikörperelimination mittels Immunadsorption) – zuerst durch Georg Böhmig.
Ist die Dichotomie von T- und B-Zelle noch zeitgemäß?
Die folgende Dichotomie bot sich damit als Konsens an: Zelluläre Abstoßungen (hauptsächlich von T-Zellen verursacht) betreffen vornehmlich das Interstitium (und manchmal auch Arterien), humorale Abstoßungen (nach Aktivierung von B-Zellen) bewirken durch Alloantikörper eine Entzündungsreaktion hauptsächlich in der Mikrozirkulation – Mischformen sind möglich. Mit dieser Einteilung konnten sich viele Transplantationsmediziner:innen alsbald anfreunden. Neue molekularbiologische Methoden forderten den gewonnenen Konsens jedoch sogleich wieder heraus bzw. stellten diese Dichotomie infrage [4].
Seit einigen Jahren ist es möglich, auf der Basis von Microarrays unterschiedliche Muster der Genexpression in Transplantatbiopsien (aus Niere, Herz und Lunge) zu erkennen. Federführend in dieser neuen Technologie wiederum war die Gruppe von Philip Halloran in Edmonton, CAN, die in Kollaboration mit anderen Zentren das Molecular Microscope Diagnostic System (MMDx) entwickelt hat [5]. Erklärtes Ziel ist, zusätzlich zur Morphologie mehr Informationen zur Art und Intensität von Entzündungsprozessen auf molekularer Ebene zu erhalten. So konnten bereits einige „Archetypen“ der Entzündungsreaktion definiert werden. In der Tat scheinen molekulare Parameter besser in der Vorhersage des Transplantatüberlebens (Niere) zu sein als histologische Parameter. Andere Testsysteme (z. B. das Banff Human Organ Transplant Gene Panel [B-HOT] oder Single-cell RNA Sequencing) verfolgen ähnliche Ziele.
Ein erstes, „prominentes“ Opfer dieses Ansatzes war die erst kürzlich akzeptierte Entität der antikörpervermittelten humoralen Abstoßung mit Nachweis von Donor-spezifischen Antikörpern in der Zirkulation und von kapillärem C4d in der Biopsie (DSA+/C4d+). Es stellte sich heraus, dass ein beträchtlicher Anteil von humoralen Abstoßungen tatsächlich DSA–/C4d– ist. Was natürlich zur Frage führt (sofern die Nomenklatur noch korrekt ist), was das für Antikörper sein könnten, die weder in der Zirkulation noch in den Kapillaren nachweisbar sind. Non-HLA-Antikörper, Autoantikörper oder womöglich in situ produzierte Antikörper?
In die Lücke, die von den DSA+/C4d+-Abstoßungen hinterlassen wurde, sind sehr schnell die Natürliche Killer(NK)-Zellen gestoßen. Diese Zellen – seit jeher enigmatisch und im Grenzgebiet zwischen angeborener und erworbener Immunität operierend – nahmen plötzlich eine raumgreifende, prominente Rolle ein. Die Aufklärung des Aktivierungsprinzips („missing-self“ recognition) erfuhr hohe wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Eine eindrucksvolle Studie mit RNA-Sequenzierung von Einzelzellen aus Transplantatbiopsien hat jüngst nachgewiesen, dass Fcγ-Rezeptor-IIIa-positive Monozyten und NK-Zellen eine zentrale Rolle im Entzündungsprozess spielen [6]. Die NK-Zellen können aber auch ADCC (antikörperabhängige zellvermittelte Zytotoxizität) nutzen und tun dies auch (Abb. 1).