Immunität und Impfung – Von Strafe und Segen

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2023.02.07

Impfungen werden bereits seit über 300 Jahren erfolgreich durchgeführt. Grundlage für eine Impfung ist die erworbene Immunität; diese kann teils lebenslang anhaltende Abwehrreaktionen auslösen, die idealerweise gegen körperfremde Stoffe gerichtet sind. Hierbei werden Proteine und Kohlenhydrate vom Immunsystem gut erkannt, Nukleinsäuren weniger gut und Lipide gar nicht.

Schlüsselwörter: Vakzination, Epitope, Antikörper, Autoimmunerkrankung, maternale Impfung, Karzinom

Geschichte der Impfstoffentwicklung

Traditionell und teils religiös bedingt wurden in Europa übertragbare Krankheiten als Strafe Gottes für Fehlverhalten gesehen. Im Gegensatz dazu erfolgte eine kritische Auseinandersetzung mit Krankheiten, z. B. auch den Exanthemen bei Pocken und Masern, bereits im 10. Jahrhundert in Persien durch Rhazes [1]. Bekannte Berichte über eine erfolgreiche Impfung – Variolation – gegen Pocken in China und/oder Indien führten erst 1721 zur Anwendung in Britannien und folgend zum Impferfolg mit dem Kuhpockenvirus von Edward Jenner im Jahr 1796 [2].

Eine wissenschaftliche Basis erhielt die Vakzination später durch die Arbeiten von Louis Pasteur mit der Impfung gegen Geflügelcholera (Pasteurella multocida), Anthrax (Bacillus anthracis), Schweinerotlauf (Erysipelothrix rhusiopathiae) und Tollwut (Lyssavirus) von 1876 bis 1885. Die weiteren Fortschritte bei der Impfstoffentwicklung waren geprägt durch die neuen Kenntnisse in der Immunologie.

Bereits 1884 erklärte Ilya Metchnikoff eine natürliche Immunität mit der Phagozytose durch Leukozyten (neutrophile Granulozyten). Dagegen erklärte 1888 George Nuttall, dass es im Serum hitzelabile (Komplement) und hitzestabile (Antikörper) Substanzen gibt, die für Mikroorganismen toxisch sind. Die zirkulierenden Antikörper wurden wenig später von Richard Pfeiffer, einem Schüler von Robert Koch, beschrieben. Inzwischen hatte 1883 Friedrich Loeffler das Corynebacterium diphtheriae isoliert und Émile Roux und Alexandre Yersin hatten 1888 das Diphtherie-Exotoxin identifiziert. Emil Behring und Shibasaburo Kitasato zeigten dann 1890–1892, dass die Immunität gegen Diphtherie und Tetanus auf zirkulierenden Antitoxinen (Antikörpern) beruht. Paul Ehrlich hatte 1897 die Antikörper definiert und ihre Bindung an Zellen (Rezeptoren) beschrieben. Durch die Ergebnisse von Karl Landsteiner 1901 mit der Beschreibung der Blutgruppen und deren Agglutininen (IgM-Antikörper) wurde offensichtlich, dass Antikörper gegen Protein- und Kohlenhydratdeterminanten (Epitope) gebildet werden können.

Robert Koch hatte 1876 das Milzbrand-Bakterium (Bacillus anthracis) isoliert und charakterisiert. 1882 folgte der sog. Tuberkel-Bacillus (Mycobacterium tuberculosis). Das extrahierte Tuberkulin benutzte Koch als Hauttest für den Nachweis der Exposition. Es folgten schließlich diverse Versuche zur Herstellung eines schützenden Impfstoffes gegen Mycobacterium tuberculosis – was bis heute nicht gelungen ist. Nach 1900 war der Zuwachs an Wissen, das in Chemie, Immunologie, Mikrobio­logie und Diagnostik veröffentlicht wurde, exponen­tiell. Hier soll nur noch Max Theiler aus Südafrika erwähnt werden, der um 1937 das Gelbfiebervirus über Kultivierung auf Hühner-Embryozellen attenuierte und damit zusammen mit Hugh Smith die Basis für eine neue Impfstoff-Herstellung legte.

 

Immunsystem und seine Grenzen

Neben der angeborenen Immunität (innate immunity), die für die Immunisierung durch Impfung wenig Bedeutung hat, baut die erworbene (acquired immunity) Immunität über die Kommunikation von Zellen eine spezifische, teils lebenslang anhaltende Abwehrreaktion auf. Am Anfang der Immunität stehen Phagozyten, sog. Antigen-präsentierende Zellen (APC), die CD4-Helfer-T-Lymphozyten anregen, zyto­toxische CD8-Effektor-T-Lymphozyten zu prägen und B-Lymphozyten zu stimulieren, die die Bildung der Antikörper übernehmen (Abb. 1).

Antikörper der Klassen IgM, IgG und IgA können bindend oder neutralisierend sein. Die sog. humorale Immunität über spezifisch neutralisierende Antikörper führt zur Elimination von Toxinen und Pathogenen und über die ADCC (antibody dependent cellular cyto­toxicity) durch Anlagerung der Antikörper an ein Pathogen und folgende Komplement-Aktivierung zu Lyse und/oder Phagozytose des Pathogens, dessen Komponenten erneut auf der Oberfläche der APC erscheinen und den beschriebenen Aktivierungsmodus fortsetzen. Eine spezifische erworbene Immunität – auch durch Impfung – wird innerhalb von zwei bis drei Wochen aufgebaut und anschließend verfeinert. Sie kann mehrere Monate (wie bei SARS-CoV-2) oder mehr als zehn Jahre lang (wie bei Tetanus­toxoid, Gelbfiebervirus) erhalten bleiben.

Das menschliche Immunsystem ist nicht komplett: Gegen fremde, d. h. im Körper nach dem fünften Embryonalmonat neu auftretende Proteine – die kleinste Epitop-Einheit ist fünf bis sechs Aminosäuren lang – werden Antikörper gebildet. Ähnlich läuft die Reaktion bei Kohlenhydraten ab, wobei, wie am Beispiel der Agglutinine gezeigt wurde, zwischen Galaktosamin und N-Acetyl-Galaktosamin immunologisch unterschieden werden kann.

Das menschliche Immunsystem ist jedoch nicht fähig, Lipide zu erkennen. Nukleinsäuren wie DNA werden zumindest ab dem Adoleszentenalter erkannt, wenn sie extrazellulär wiederholt in einem entzündlichen Kontext vorhanden sind [3]. Eine weitere Einschränkung des Immunsystems ist die Autoimmunität, die durch Mimikry [4] bedingt ist: Mimikry tritt auf, wenn identische Epitope auf Proteinen des Pathogens und des Körpers vorkommen. Dann kann, abhängig vom genetischen Repertoire des infizierten Menschen (z. B. HLA-Klassen), im Verlauf einer heftigen Infektion eine Hyperimmunreaktion induziert werden, die auch gegen körper­eigene Epitope gerichtet ist. Ein Beispiel ist die Bildung von Autoantikörpern und zytotoxischen CD8-Effektor-T-Lymphozyten, die als Folge einer Epstein-Barr-Virus(EBV)-Infektion gebildet wurden und bei der multiplen Sklerose (MS) die Zellen der Schwann’schen Nervenscheide zerstören; oder eine gegen Enterovirus (EV) gerichtete Immunreaktion, die nach der EV-Infektion und bei entsprechendem Alter zur Zerstörung der Insulin-produzierenden Beta-Zellen im Pankreas und anschließend zum juvenilen Diabetes führt.

Weitere Bespiele nach Virusinfektion sind das Post-Polio-Syndrom, die subakute Panenzephalitis nach Masern, das Long-COVID-Syndrom [5] und nach bakterieller Infektion durch z. B. Streptococcus pyogenes, Yersinia enterocolitica, Borrelia burgdorferi Krankheitsbilder wie Erythema nodosum, Myocarditis, Arthritis, Colitis. Diese Aufstellung zeigt bekannte Grenzen der Immunreaktion an, die auch bei der Herstellung von Impfstoffen berücksichtigt werden müssen. Bis eine ausreichende Immunität erzeugt werden kann, müssen abhängig von der Erregerkonfiguration und der Immunreaktion bei Totimpfstoffen mehrere Impfungen verabreicht werden, um eine schützende Immunität zu erreichen [6]. Diese Erfahrung wurde bei der COVID-19-Impfung erneut gemacht.

 

Maternale Immunisierung zum Schutz des Fötus

Jede Lebendimpfung wie Gelbfieber und Bacillus Calmette–Guérin (BCG) ist in der Schwangerschaft kontraindiziert, unabhängig vom Alter des Fötus. Eine maternale Totimpfung wurde vor etwa zwölf Jahren in Ländern wie England, Kanada und USA bei einigen Graviden eingeführt. Der Vorteil ist, dass nach Impfung ein Teil der Komponenten des Impfstoffs über die Plazenta zum Fötus transportiert wird, der ab dem fünften Embryonalmonat ein funktionierendes Immunsystem hat. Infektionen mit RSV oder Streptokokken Gruppe B (GBS), die für Neugeborene tödlich verlaufen können, könnten verhindert werden – wenn diese beiden Impfstoffe dafür zugelassen werden. Bisher sind > 500.000 Schwangere gegen Diphterie, Pertussis, Polio und/oder Tetanus geimpft worden, ohne dass schwerwiegende Nebenwirkungen auftraten, die eine maternale Impfung verbieten [7]. Eine Impfung von Schwangeren gegen COVID-19 ab der 13. Schwangerschaftswoche wurde von der STIKO ab Oktober 2021 empfohlen. IgM-Antikörper gegen die verimpften Pathogenkomponenten können im Blut von Neugeborenen nachgewiesen werden, wobei einschränkend erwähnt werden muss, dass Antikörper auch über die Laktation übertragen werden. Ob eine Impfung durchgeführt wird, entscheidet die schwangere Kindsmutter. Eine Einschränkung der maternalen Impfung kann sein, dass bei Auffrischimpfung bei einigen Kindern der erwartete Antikörperanstieg (Boosterung) nicht eintritt; die Ursache für diese Form von Immunsuppression ist derzeit unklar [7].

 

Impfung als Schutz vor Karzinom

Eine weitere Möglichkeit für den Einsatz der aktiven Immunisierung eröffnete sich mit der Impfung gegen Humane Papillomviren (HPV): HPV zählen zu den häufigsten durch Intimkontakte übertragenen Viren. Einige Genotypen sind maßgeblich an der Entstehung von Gebärmutterhalskrebs und weiteren Krebsarten z. B. im Mund- und Rachenbereich beteiligt. Der erste Impfstoff wurde in Deutschland 2006 zugelassen. Die Impfung ist wirksam, wenn sie bei beiden Geschlechtern im Alter unter 16 Jahren durchgeführt wird und die onkogenen HPV-Genotypen enthält [8].   

Autoren
Prof. Dr. med. Lutz Gürtler (links, Korrespondierender Autor)
Prof. Dr. med. Josef Eberle (rechts)
Max von Pettenkofer-Institut
Ludwig-Maximilians-Universität München
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