Diagnostik und Therapie der Immunthrombozytopenie: Weder „Last“ noch „Least“

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2022.04.01

Die Immunthrombozytopenie ist eine seltene Erkrankung und das Wissen um Diagnostik und Therapie nicht weit gestreut. Dennoch hat die Forschung in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Aktuell arbeitet eine Gruppe von Fachleuten an der Aktualisierung der deutschsprachigen Leitlinienempfehlungen, die auf Onkopedia veröffentlicht werden [1]. Einige der Neuerungen haben bereits Eingang in diesen Artikel gefunden.Schlüsselwörter: Morbus Werlhof, Therapielinien, Glukokortikoide, TRA, SYK-Inhibitor, Immunsuppressiva, Splenektomie

Der Begriff ITP steht für Immunthrombozytopenie. Die ITP ist eine Erkrankung, bei der sich das Immunsystems des Körpers gegen die eigenen Thrombozyten und deren Mutterzellen im Knochenmark, die Megakaryozyten, richtet. Ein älterer Name ist Morbus Werlhof und geht auf Paul Gottlieb Werlhof (1699–1767) zurück. Werlhof war Arzt in Hannover und berichtete über ein junges Mädchen, das nach einer Infektion Blutungen der Haut und Schleimhäute entwickelte. Er nannte diese Erkrankung Morbus maculosus haemorrhagicus und man denkt heute, dass es sich dabei um eine ITP gehandelt hat.

Die ITP ist eine „Orphan Disease“

Die ITP ist selten. Sie hat bei Erwachsenen eine Inzidenz von 0,2–0,4 Neuerkrankungen pro 10.000/Jahr; die Prävalenz liegt bei 0,9–2,6 pro 10.000. Bei Kindern und Jugendlichen beträgt die ITP-Inzidenz 0,2–0,7 pro 10.000/Jahr und die Prävalenz 0,4–0,5 pro 10.000. Die Prävalenz ist bei Kindern deutlich geringer als bei Erwachsenen, weil die pädiatrische ITP sich in den allermeisten Fällen zurückbildet und nur selten chronisch wird.

Erkrankungen mit einer Häufigkeit von kleiner 5:10.000 werden in Europa als Seltene Erkrankungen oder „Orphan Diseases“ bezeichnet. Das hat über die Terminologie hinaus auch praktische Konsequenzen, sind Betroffene mit Seltenen Erkrankungen doch typischerweise überregional verteilt und es gibt meist auch nur wenige ebenfalls räumlich verteilte Fachleute oder Zentren. Für Studien müssen viele Praxen und Kliniken rekrutiert werden, um ausreichende Patientenzahlen erreichen zu können, was organisatorisch und finanziell außerordentlich aufwendig ist. Auch sind die Wege zu guten Behandlungs- und Versorgungsmöglichkeiten für die Patient:innen nicht immer auf Anhieb ersichtlich oder nur mit Aufwand erreichbar. Dies kann im Einzelfall dazu führen, dass die Diagnose erst verzögert gestellt wird und dass Betroffene sich mit ihrer Erkrankung unzureichend versorgt fühlen. Die modernen elektronischen Informationsmedien (beispielsweise die Onkopedia Leitlinie der DGHO) [1], nationale und internationale Selbsthilfegruppen [2] und Internet-Foren (z. B. auf Facebook) sind heute für Betroffene und ärztliches Personal eine große Hilfe.

Pathogenese

Die ITP ist nicht erblich, sie ist eine erworbene Erkrankung. Ursächlich ist eine Autoimmunreaktion, die sich sowohl gegen Thrombozyten im zirkulierenden Blut als auch gegen die Megakaryozyten im Knochenmark richtet und dadurch nicht nur den Thrombozytenabbau verstärkt, sondern auch die Thrombozytenneubildung bremst (Tab. 1).

Tab. 1: Pathomechanismen der ITP.

Vermehrter Thrombozytenabbau

Eine Dysregulation des Immunsystems führt zur Bildung von Antikörpern gegen die eigenen Thrombozyten (Autoantikörper), die dann in Leber und Milz abgebaut werden. Die Thrombozytenzahl sinkt.

Verminderte Neubildung von Thrombozyten

Normalerweise würde Thrombopoetin, ein Wachstumsfaktor für Thrombozyten, die Bildung neuer Thrombozyten „hochfahren“ und den vermehrten Abbau kompensieren. Bei der ITP wird aber nicht ausreichend Thrombopoetin gebildet. Außerdem greift das Immunsystem auch die Megakaryozyten im Knochenmark an. Die Nachbildung der Thrombozyten ist gebremst.

Gestörte Selbstregulation des Immunsystems

Sog. Regulatorische T-Lymphozyten (T-REGs) sind bei der ITP vermindert. Die einmal angestoßene fehlgerichtete Immunreaktion kann nicht mehr „zurückgefahren“ werden; die ITP wird chronisch.

Was die Immunreaktion initial auslöst – eine Infektion, ein Medikament oder etwas anderes – ist unbekannt.

Typische Krankheitssymptome

Viele Betroffene zeigen keine Symptome. Typisch für eine ITP sind Petechien an den Beinen, weniger häufig an Rumpf und Armen (bei letzteren nach Stauen oder Blutdruckmessen). Typisch sind auch Blutungen der Schleimhäute von Mund und Nase, Blutungen aus der Harnröhre oder verstärkte Menstruationsblutungen. Viele Patient:innen entwickeln Hämatome schon bei geringen Stößen und Verletzung. Die gefürchteten Blutungen in inneren Organe (ZNS, Lunge, Magen, Darm) sind glücklicherweise sehr selten. Bei der neu-diagnostizierten ITP haben 10 % aller pädiatrischen und 20–30 % aller erwachsenen Betroffenen gar keine Blutungssymptome. Bei der chronischen ITP liegt der Anteil der Patient:innen ohne Blutungssymptome sogar bei 30–40 %. Viele Betroffene klagen zusätzlich über Erschöpfungssymptome und Müdigkeit („Fatigue“).

Diagnostik – Dos and Don'ts

Die ITP ist eine Ausschlussdiagnose. Es gibt keinen Labortest und keine Untersuchung, die eine ITP „beweisen“ kann. Zur Erstdiagnostik nicht nur der ITP, sondern grundsätzlich jeder Thrombozytopenie gehört die genaue Anamnese, die körperliche Untersuchung und zwingend die Begutachtung des Blutausstriches durch in der Diagnostik von hämatologischen Erkrankungen erfahrene Ärzt:innen (Tab. 2).

Tab. 2: Initiale Diagnostik bei Verdacht auf ITP.

Diagnostik

Anmerkungen

Anamnese

Frühere Blutungen, Infektionen, Medikamente, Impfungen, Alkohol, Schwangerschaft, frühere Thrombosen, Familienanamnese, Berufs­anamnese

Körperliche

Untersuchung

Blutungszeichen insbes. auch der Schleimhäute, Lymphknoten, Leber , Milzgröße, Hautausschläge (Petechien sind typischerweise mit

geschlossenen Augen nicht tastbar)

Blutbild

EDTA und Citrat zum Ausschluss einer Pseudothrombozytopenie

Blutausstrich

(immer!)

Begutachtung durch einen in der Diagnostik von hämatologischen Erkrankungen erfahrenen Arzt

Eine Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura ist eine wichtige Differentialdiagnose der ITP und darf nicht übersehen werden.

Häufig wird schon im Rahmen der Erstdiagnostik eine Untersuchung auf Thrombozyten-Autoantikörper veranlasst. Dieser Test ist aber nur bei ca. zwei Dritteln der Fälle positiv und in bei vielen ITP-Patient:innen unauffällig. Ein positiver Test spricht für eine ITP, ein negativer schließt sie nicht aus. Der Nachweis von Thrombozyten-Autoantikörpern hilft auch nicht bei der Differenzierung einer primären von einer sekundären ITP (als sekundär bezeichnet man eine ITP, die im Rahmen von anderen Autoimmunerkrankungen, bei Lymphomen oder durch Medikamente ausgelöst wird). Der Nachweis von Thrombozyten-Autoantikörpern sollte Betroffenen mit persistierender bzw. chronischer ITP und atypischem Krankheitsverlauf vorbehalten bleiben.

Häufig stellt sich auch die Frage nach einer Knochenmarkpunktion. Die ITP-Diagnose kann durch eine Knochenmarkpunktion nicht belegt werden. Das Ziel der Punktion ist vielmehr, alternative Diagnosen auszuschließen. Bei typischen klinischen Befunden und guter Therapieansprache kann eine Punktion entfallen. Bei Patient:innen, die auf die Standardtherapien der ITP gar nicht oder nur gering ansprechen, wird man sie anbieten.

„Step by Step“ – Krankheits­phasen und Therapielinien

Weil sich Therapie und Therapieziele mit der Krankheitsdauer und Schwere ändern, wurde die traditionelle Zweiteilung in „akute“ und „chronische“ ITP aufgegeben und eine Einteilung in drei Krankheits- und Therapiephasen entwickelt (Abb. 1) [3].

Einen Thrombozytenschwellenwert, ab dem behandelt werden muss, gibt es nicht. Krankheitsphase, Krankheitsverlauf und weitere individuelle Faktoren sind zu berücksichtigen.

Am Anfang der Erkrankung, bei der neudiagnostizierten ITP, wird man alles versuchen um die ITP in Remission zu bringen. Und die Betroffenen werden Nebenwirkungen dafür in Kauf nehmen. Im weiteren Verlauf, bei der persistierenden und chronischen ITP, wird das Erreichen einer höheren Thrombozytenzahl immer weniger relevant. Die Nebenwirkungen der Behandlung müssen gegen den Nutzen abgewogen werden. In späteren Therapielinien wird zwar in der Regel weiterhin eine Therapie angeboten, aber selbst bei niedrigsten Thrombozytenwerten kann auch eine „Watch & Wait“ Strategie verfolgt werden, solange die betroffene Person nicht oder nur gering blutet und mit diesem Vorgehen einverstanden ist.

Erste Therapielinie mit Glukokortikoiden

Glukokortikoide wirken immunsuppressiv und die gängige Vorstellung ist, dass sie die Bildung von Thrombozyten-Autoantikörpern hemmen. Glukokortikoide erreichen bei der Mehrzahl der Patient:innen einen Anstieg der Thrombozytenzahl. Nach Absetzen der Glukokortikoide fallen die Werte jedoch in der Regel wieder ab; dauerhafte Remissionen sind selten. Alle aktuellen Leitlinien raten dazu, Glukokortikoide nicht länger als sechs Wochen zu geben [3, 5]. Wenn dann kein Anstieg der Thrombozyten erreicht wurde, muss auf die zweite Therapielinie umgestellt werden.

Zweite Therapielinie mit Thrombopoetin-Rezeptor-Agonisten (TRAs) und dem SYK- Inhibitor Fostamatinib

TRAs sind die etablierte Zweitlinientherapie, wenn Betroffene auf Glukokortikoide nicht ansprechen oder zeitnah rezidivieren. Dabei sind die unterschiedlichen pharmakologischen Eigenschaften der TRAs und der Zulassungsstatus zu beachten (siehe Fachinformation).

Der SYK-Inhibitor Fostamatinib ist ebenfalls für die zweite Therapielinie zugelassen, wird aber meist erst in der dritten Line eingesetzt, weil seine arzneimittelrechtliche Zulassung auf die chronische ITP, d. h. nach dem zwölften Erkrankungsmonat beschränkt ist. Zu diesem Zeitpunkt haben die meisten Patient:innen schon TRAs bekommen. Fostamatinib hemmt SYK (Spleen Tyrosine Kinase) und SYK spielt bei der Phagozytose und dem Abbau von Zellen in der Milz eine wichtige Rolle. Bei der ITP erreicht Fostamatinib bei ca. der Hälfte der Patient:innen einen anhaltenden Thrombozytenanstieg.

Dritte und spätere Therapielinien, Splenektomie

Erst in der dritten Therapielinie kommen Substanzen wie Rituximab, Ciclosporin, Mycophenolat und andere Immunsuppressiva zum Einsatz. Rituximab ist in keinem Land der Welt für die ITP arzneimittelrechtlich zugelassen. Dennoch hat es in allen Leitlinien seinen festen Platz (in den USA bereits für die 2nd-Line empfohlen). Es gibt nach Rituximab zwar Rezidive, aber insgesamt erreichen doch 20–30 % der Patient:innen eine anhaltende Remission.

Die Splenektomie erzielt bei der Behandlung der ITP die höchste Rate an dauerhaften Remissionen in dem Sinne, dass keine weitere Behandlung mehr notwendig ist. Zwei Drittel der Betroffenen erreichen eine partielle oder komplette Remission. Meist wird die Splenektomie in späteren Therapielinien, nach Versagen der medikamentösen Therapien angeboten. Für Patient:innen, die einen hohen Wert darauf legen, nicht längerfristig Medikamente einnehmen zu müssen, ist die Splenektomie auch schon in der zweiten oder dritten Therapielinie ein attraktives Angebot. Sie sollte aber nicht vor dem zwölften Monat angeboten werden, weil spontane Remissionen bis dahin noch häufig sind.

Die multiresistente/multipel-rezidivierte ITP

Nur 20–50 % der erwachsenen ITP-Patient:innen erreichen mit der Erstlinen Glukokortikoidtherapie eine dauerhafte Remission. In der Zweitlinie werden dann häufig TRAs gegeben. Für diese Substanzgruppe schwanken die Angaben zum langfristigen Ansprechen zwischen 30 % und 90 %, bei Fostamatinib zwischen 18 % und 78 %. Wenn man diese Zahlen zugrunde legt, dann haben nach drei Therapielinien ca. 15 % der ITP-Patient:innen immer noch kein dauerhaftes Ansprechen erreicht. Eine ITP, die auf multiple Vortherapien nicht anspricht und bei der die Betroffenen immer wieder klinisch relevant bluten, ist eine ernsthafte Erkrankung mit hoher Morbidität und Mortalität. In dieser Situation werden meist Kombinationen Thrombopoese-stimulierender und das Immunsystem hemmender Wirkstoffe eingesetzt, z. B. TRA + Fostamatinib oder TRA + Azathioprin, Ciclosporin oder andere Immunsuppressiva.

Perspektive

Für die ITP sind trotz der Seltenheit der Erkrankung zahlreiche neue Wirkstoffe „in der Pipeline“. Neben der Anhebung der Thrombozytenzahl und der Verhinderung von Blutungen rückt auch die Lebensqualität der Betroffenen zunehmend in den Fokus der Behandelnden. Daraus ist in den letzten Jahren ein neues Konzept für ITP-Studien erwachsen. Es geht nicht mehr nur darum, die Thrombozytenzahl anzuheben und Blutungen zu verhindern, sondern der primäre Studienendpunkt ist das Erreichen einer möglichst hohen Zahl stabiler, therapiefreier Remissionen [6, 7]. Die Diagnostik und Therapie der ITP ist aktuell in einem sehr dynamischen Wandlungsprozess begriffen und wird in den nächsten Jahren von und allen hohe Aufmerksamkeit erfordern. 

Autor
Prof. Dr. med. Axel Matzdorff
Klinik für Innere Medizin II Gastroenterologie, Nephrologie, Hämato-Onkologie und Palliativmedizin
Asklepios Klinikum Uckermark GmbH
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