Präexpositionsprophylaxe für HIV - Erfolg durch intersektorale Zusammenarbeit

Patrick Ahaus, Anja Potthoff, Arne Kayser, Janet Wach, Norbert H. Brockmeyer und Adriane Skaletz-Rorowski 

 

Die Präexpositionsprophylaxe kann dazu beitragen, die Inzidenz von Infektionen mit dem humanen Immundefizienz-Virus einzudämmen. Sie sollte jedoch nur als eine zusätzliche Schutzmaßnahme betrachtet werden, da sie nicht vor anderen sexuell übertragbaren Infektionen schützt. Im „WIR – Walk In Ruhr“ in Bochum erfolgt die Verschreibung der Präexpositionsprophylaxe im Rahmen einer intersektoralen Zusammenarbeit mehrerer Institutionen.
Schlüsselwörter:
HIV, PrEP, Tenofovirdisoproxil, Emtricitabin, STI, HBV, HCV, eGFR, sexuelles Risikoverhalten, MSM

Infektionen mit dem humanen Immundefizienz-Virus (HIV) stellen weltweit immer noch eine bisher medizinisch ungelöste Problematik dar. Da eine Infektion nach wie vor als unheilbar gilt, existieren verschiedene Ansätze, um ihre Inzidenz einzudämmen. Eine dieser Möglichkeiten besteht in der HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP),  deren Verschreibung seit September 2019 von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird.

Wirkstoffe der PrEP

Laut aktueller Leitlinie der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.) soll als PrEP-Medikation ausschließlich die Kombination der Wirkstoffe Tenofovirdisoproxil und Emtricitabin (Kombipräparat TDF/FTC) angewandt werden [1]. Beide Substanzen zählen zu den nukleo­sidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NRTI).  Emtricitabin wirkt als Cytidin-Analogon; Tenofovir konkurriert mit dem natürlichen Substrat Desoxyadenosintriphosphat und hemmt so wichtige Enzyme des Virus – einschließlich der reversen Transkriptase – in ihrer Funktion. Durch den Einbau dieser Moleküle in das Genom des Virus wird seine Vermehrung inhibiert. Die Effektivität dieser Wirkstoffkombination im Hinblick auf eine Senkung der HIV-Inzidenz ist bereits hinreichend belegt [2].

Indikation

Vor dem Einleiten einer PrEP muss ein negativer HIV-Test vorliegen und ein signifikant erhöhtes Ansteckungsrisiko für HIV vorhanden sein. Die Weltgesundheitsorganisation nennt in diesem Zusammenhang explizit die folgenden Gruppen: HIV-serodiskordante Paare, Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), Personen mit injizierendem Drogenkonsum, Sexarbeiter bzw. Sexarbeiterinnen, Transgender-Personen sowie Inhaftierte [3]. Bei MSM und Transgender-Personen wird ein deutlich erhöhtes HIV-Risiko angenommen, wenn innerhalb der letzten drei bis sechs Monate analer Geschlechtsverkehr ohne Kondom stattgefunden hat, oder dieser voraussichtlich in den nächsten zwölf Monaten erfolgt. Weiterhin wird ein erhöhtes HIV-Risiko bei  Diagnose einer sexuell übertragbaren Infektion (STI) in den letzten 12 Monaten postuliert. Ein HIV-Transmissionsrisiko in Partnerschaften mit unterschiedlichem HIV-Serostatus besteht, wenn die Viruslast der HIV-positiven Partner/-innen noch nicht sechs Monate unter der Grenze von mindestens 200 RNA-Kopien/ml liegt. Im Gegensatz zu MSM, Transgender-Personen und serodiskordanten Paaren wird von der deutsch-österreichischen Leitlinie keine allgemeine Empfehlung für Sexarbeiter bzw. Sexarbeiterinnen, drogeninjizierende Personen und Inhaftierte ausgesprochen [1]. Im Individualfall kann allerdings auch bei Sexarbeitern bzw. Sexarbeiterinnen – insbesondere bei kondomlosem Geschlechtsverkehr – die Verschreibung einer PrEP indiziert sein. Auch für drogeninjizierende Personen (Spritzentausch, Beschaffungsprostitution etc.) und Inhaftierte kann im Individualfall eine PrEP sinnvoll sein [1].

Einnahmemodus

Hinsichtlich des Einnahmemodus soll die PrEP einmal täglich als kontinuierliche, orale Applikation erfolgen. Eine intermittierende Einnahme ist lediglich im Einzelfall und außerhalb der Zulassung zu erwägen, ist aber im realen Leben häufig. Ebenso ist zu erwähnen, dass die Einnahme der PrEP als zusätzliche Schutzmaßnahme betrachtet werden sollte. Das bedeutet, dass weitere Präventionsmaßnahmen wie beispielsweise der Gebrauch von Kondomen, Aufklärung zur Verhütung von STI oder Schutz durch Therapie weiterhin in Kombination mit der PrEP-Einnahme vorgesehen und den Nutzer /-innen zu empfehlen sind, da die PrEP nur zum Schutz vor HIV beiträgt und dadurch auch das Risiko einer Ansteckung mit weiteren STI minimiert werden soll [1]. Jedoch spiegelt auch dies nicht die von den Klienten gelebte und  gewünschte Realität wider.

Diagnostik

Zu Beginn einer potenziellen PrEP-Einnahme müssen etwaige Kontraindikationen ausgeschlossen werden. Dies erfolgt über eine HIV-Serologie mittels eines Enzyme-linked Immunosorbent Assay (ELISA) der vierten Generation oder eines vergleichbaren Testes (z. B.  Elektrochemilumineszenz-Immunoassay, ECLIA) mit zusätzlicher Detektion des viralen p24-Antigens. Zu beachten ist hier die diagnostische Lücke bei Risikokontakten kurz vor der HIV-Testung.
Eine replikative Infektion mit dem Hepatitis-B-Virus (HBV) muss vor PrEP-Beginn ausgeschlossen werden. Entsprechend muss der/die potenzielle Nutzer/-in HBs-Antigen- und Anti-HBc-Antikörper-negativ sein. Besteht keine Infektion und ist die Person gegen HBV geimpft, sollte der Impfstatus durch Testung des Antikörpertiters für Anti-HBs überpüft werden. Um einen sicheren Impfschutz zu gewähren, muss dieser mindestens 100 U/l betragen. Liegen weder Infektion noch Impfung vor, soll vor PrEP-Beginn eine Grund­immunisierung gegen HBV begonnen werden.
Bei ausgeübtem Analverkehr muss zudem der Impfstatus von Hepatitis A (HAV) mittels HAV-IgG/IgM-ELISA überprüft und gegebenenfalls die Impfung gegen HAV vor dem Start der PrEP angeboten werden.
Weiterhin sollte eine Nierenfunktionsstörung ausgeschlossen werden, da Tenofovir eine potenziell nephrotoxische Wirkung besitzt [4]. Hierzu wird laut Leitlinie die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) nach der MDRD-Formel („Modification of Diet in Renal Disease“) herangezogen. Die eGFR muss mindestens 60 ml/min/1,73m² betragen, sollte allerdings über 80 ml/min/1,73m² liegen. Bei Werten unter 80 ml/min/1,73m² müssen der Nutzen gegen das Risiko einer Verschlechterung der renalen Funktion abgewogen und die Nierenparameter im Fall der Entscheidung für die PrEP im besonderen Maße überwacht werden.
Eine diagnostizierte Osteoporose gilt ebenfalls als Kontraindikation für die PrEP; eine Bestimmung der Knochendichte ist aber bei diesbezüglich bisher unauffälligen Personen nicht notwendig.
Ebenso sollte vor PrEP eine Testung auf sexuell übertragbare Infektionen (STI)  erfolgen. Syphilis wird anhand serologischer Untersuchungen überprüft, beispielsweise durch einen Treponema-Pallidum-Häm­agglutinations-Assay (TPHA) oder einen „Venereal Disease Research Laboratory Test“ (VDRL). Für den HCV-Status wird mittels ELISA auf Anti-HCV-Antikörper getestet. Infektionen mit Chlamydien oder Gonokokken lassen sich durch Nukleinsäureamplifikationstechnik (NAT) nachweisen [1, 5]. Die Untersuchungszeitpunkte der genannten Maßnahmen sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

Aufklärungsgespräch

Zusätzlich zum Ausschluss der genannten Kontraindikationen und weiteren STI muss vor jedem PrEP-Beginn ein ausführliches Gespräch zur Aufklärung und Beratung erfolgen. Inhalte sollen laut Leitlinie dabei sein:
•    Risikoreduktion durch die PrEP
•    STI (insbesondere auch im Hinblick darauf, dass die PrEP ausschließlich gegen HIV wirksam ist)
•    diagnostische Lücke in der HIV-Testung
•    weitere Präventionsmaßnahmen gegen HIV und STI
•    Bedeutung der Adhärenz
•    nötige Begleituntersuchungen
•    Möglichkeit der Resistenzentwicklung
•    etwaige Nebenwirkungen
•    Interaktionen und Komplikationen der PrEP
sowie das Erkennen der Symptomatik einer primären HIV-Infektion.

Intersektorale Zusammenarbeit

Im „WIR – Walk In Ruhr“ Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin in Bochum erfolgt die Verschreibung der PrEP einschließlich aller dazugehörigen Untersuchungen und Beratungsgespräche in intersektoraler Zusammenarbeit mehrerer Institutionen. Dieses sog. „Bochumer Modell“ vereinfacht diesen Ablauf für die Nutzer/-innen enorm, da alle benötigten Teilschritte bis zur Verschreibung und für die anschließende medizinische und psychosoziale Begleitung im Rahmen der Follow-ups an einem Ort durchlaufen werden können. Zugehörige Institutionen dieses Modellprojekts sind die Interdisziplinäre Immunologische Ambulanz der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie (Ruhr-Universität Bochum) des Katholischen Klinikums Bochum, die Aidshilfe Bochum e. V., das Gesundheitsamt Bochum, pro familia e. V., Madonna e. V. und Rosa Strippe e. V. Die Aidshilfe dient als gemeinsamer Anfangspunkt, bei dem große Teile des Beratungsgesprächs stattfinden. Die Ambulanz oder das Gesundheitsamt nehmen die benötigten Blutproben und Abstriche. Das medizinische Beratungsgespräch sowie die klinische Untersuchung der Personen durch die Ärzte/-innen der Ambulanz können im Rahmen eines neuen Termins oder zum Teil auch noch am gleichen Tag erfolgen. Nach einem Ausschluss von Kontraindikationen kann letztlich das Rezept für die PrEP ausgestellt werden [6] (Abb. 1).

Wer nutzt das PrEP-Angebot?

In eine Studie zur PrEP-Versorgung im WIR wurden 139 Probanden (durchschnittliches Alter 38 Jahre) eingeschlossen, von denen 137 MSM waren (98,6 %). Die Erfassung von soziodemographischen Informationen ergab, dass die Probanden eine überdurchschnittlich gute Bildung aufwiesen und dass nur eine geringe Arbeitslosigkeit vorlag. Im Verlauf der PrEP zeigte sich eine Tendenz zu einem sexuellen Risikoverhalten, gemessen an der Partneranzahl der Probanden in einem definierten Zeitraum sowie an der Kondomnutzung. STI wurden bei den Probanden gehäuft diagnostiziert. Die Hypothese, dass die Inzidenz anderer STI in Zusammenhang mit der Einnahme der PrEP steht, wurde auch in anderen Studien untersucht. Entsprechende Ergebnisse legen nahe, dass die Gesamtzahl der Infektionen ab dem Beginn der PrEP steigt. Insbesondere Chlamydieninfektionen wurden häufiger dia­gnostiziert [7]. Ob dies in Zusammenhang mit risikoreicherem Sexualverhalten steht, gilt es weiter zu ergründen. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen traten insbesondere zu Beginn der PrEP auf und äußerten sich hauptsächlich als gastrointestinale Symp­tome. Bislang wurde keine HIV-Infektion bei den Probanden festgestellt [6].
Durch die Zusammenarbeit mehrerer Institutionen im Rahmen der PrEP-Versorgung werden also Personen mit einem signifikant höheren HIV-Risiko erreicht und STI können in dieser Gruppe schneller diagnostiziert und therapiert werden. 

Autor
Norbert H. Brockmeyer
WIR - Walk In Ruhr – Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin
Interdisziplinäre Immunologische Ambulanz, Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie, Ruhr-Universität Bochum