Eine Kinderkrankheit wird erwachsen

Zöliakie – die einzige nahrungsvermittelte Autoimmunerkrankung

Die Entwicklungen in der Labordiagnostik haben das Verständnis der Zöliakie grundlegend verändert. Serologische Screening-Untersuchungen deckten auf, dass diese Systemerkrankung viel häufiger ist als bisher angenommen und alle Altersstufen betreffen kann. Doch kaum einer denkt bei Erwachsenen an Zöliakie – vor allem wenn der Durchfall fehlt.

Auch wenn die Symptome bereits seit dem Altertum bekannt sind, stand man der Zöliakie (altgriechisch „Bauchkrankheit“) über Jahrhunderte hilflos gegenüber. Klassischerweise manifestierte sich dieses schwere Krankheitsbild im Kleinkindalter mit massiven Durchfällen, Minderwuchs und aufgetriebenem Proteinmangel-Bauch. Heute kaum mehr vorstellbar, verstarb noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts fast jeder dritte Patient innerhalb weniger Jahre.
Erst die Getreideknappheit im zweiten Weltkrieg brachte den niederländischen Pädiater Willem K. Dicke (1905–1962) auf die richtige Fährte: Als erkrankte Kinder im Juliana-Krankenhaus Den Haag kein Brot mehr zu essen hatten, besserte sich ihr Zustand überraschend. Schon bald konnte das Getreideprotein Gluten („Klebereiweiß“) als Auslöser einer Lebensmittelunverträglichkeit gesichert und eine Zottenatrophie im Dünndarm als histologisches Korrelat zur Zöliakie nachgewiesen werden (siehe Abbildung 1).
Die Hoffnung, die Krankheit mit den kurz darauf entdeckten Gliadin-Antikörpern weniger invasiv im Serum diagnostizieren zu können, bestätigte sich nicht – zu häufig waren die Reaktionen unspezifisch. Das machte die Dünndarm-Biopsie zum Gold-Standard der Zöliakiediagnostik und verankerte diese fest in der Hand der Gastroenterologen.
Doch die Entwicklungen in der immunologischen Labordiagnostik lassen den „Thron“ wackeln. Das Umdenken begann bereits Mitte der 1980iger-Jahre mit der Entdeckung von Auto-Antikörpern im Serum von Zöliakie-Patienten. Im indirekten Immunfluoreszenztest (IIFT) ließ sich auf Dünndarmgewebe eine typische Reaktion gegen das Endomysium – die bindegewebige Umhüllung der glatten Muskelfasern – nachweisen (Abb. 2). Die Korrelation zwischen Titerhöhe der Antikörper (Ak) und Krankheitsaktivität ließ auf eine pathogenetische Relevanz und damit eher auf eine Autoimmunerkrankung schließen. Doch welche Rolle spielte dann die Gluten­abhängigkeit? Und wieso fielen die Auto-Ak durch eine Diät wieder unter die Nachweisgrenze ab, wo doch Ak in der Regel solange gebildet werden, wie das Antigen vorhanden ist? Normalerweise kann dann nur eine immunsuppressive Therapie ihre Produktion reduzieren.
Erst die Identifizierung des Enzyms Transglutaminase als Zielantigen der Endomysium-Ak im Jahr 1997 führte zur Aufklärung der Pathogenese. Heute wissen wir: Am Beginn einer Zöliakie steht immer eine glutenhaltige Ernährung in Kombination mit einer Permeabilitätsstörung der Darmwand, doch nur Personen, die HLA-DQ2 oder -DQ8-positiv sind, können tatsächlich an einer Zöliakie erkranken.

Pathogenese

Das Außergewöhnliche an den Glutenen sind ihre sonst in unserer Ernährung nicht vorkommenden glutaminreichen Amino­säuresequenzen. Verzögert sich der Abbau dieser Polypeptide in der Darmwand, zum Beispiel im Rahmen eines Infektes, so kann es zu einer Transglutaminierung kommen – es entstehen deamidierte Glia­dinpeptide, kurz dGP. Häufig lösen sich diese Reaktionsprodukte nicht richtig von der Transglutaminase. Dann können sich durch Quervernetzungen enzymhaltige Plaques in der Darmwand bilden, die bereits eine geringe entzündliche Infiltration auslösen können. Doch erst spezifische Immunreaktionen verstärken diese Entzündung derart, dass ein Teufelskreis von Permeabilitätsstörung und Plaque-Bildung entsteht, der zur Zerstörung der Dünndarmzotten – einer Zöliakie – führt.
Allerdings ist nicht jeder Mensch zu dieser Reaktion in der Lage. Der entscheidende Faktor ist die Antigenpräsentation – eine Aufgabe der HLA-Moleküle. Sie präsentieren in der Regel relativ breite Molekülspektren, sodass die verschiedenen HLA-Profile durch Überlappungen dennoch nahezu alle relevanten Antigenstrukturen abdecken. Die dGP mit ihren seltenen, glutamatreichen Sequenzen sind hingegen wohl so „extravagant“, dass sie nur an zwei HLA-Typen – DQ2 oder DQ8 – binden können. Dass Transglutaminase-Ak unter glutenfreier Diät abfallen, obwohl sie unverändert im Körper als Antigen vorliegen, lässt vermuten, dass die Transglutaminase allein überhaupt nicht präsentiert werden kann. Sie wird vermutlich indirekt über ihre feste Bindung an das dGP als Antigen erkannt, sodass wohl nur bei glutenhaltiger Ernährung Transglutaminase-Ak gebildet werden können – aufgrund der Schleimhautlokalisation vornehmlich der Klasse IgA.
Da die dGP nach der Deamidierung gemeinsam mit unveränderten Gliadinpeptiden in den Blutkreislauf gelangen können, bilden sich hier auch Ak vom IgG-Typ; sie sind in Abhängigkeit vom HLA-Typ entweder nur gegen Gliadin oder (bei Vorliegen von HLA-DQ2/DQ8) zusätzlich gegen dGP und dGP-Transglutaminase gerichtet. Unveränderte Gliadinpeptide tragen nicht zur Plaquebildung und die Ak gegen sie somit auch nicht zur Entzündung bei. Die pro­inflammatorische Bedeutung der dGP-IgG-Ak ist noch nicht abschließend geklärt, ihre Titerhöhe scheint aber auf jeden Fall nicht so streng mit dem Ausmaß der Entzündung zu korrelieren wie die der Transglutaminase-IgA-Ak.

Serologie
Mit diesem (stark vereinfachten) Modell lassen sich die meisten serologischen Phänomene zufriedenstellend nachvollziehen (Abb. 3). Es erklärt insbesondere die strenge Assoziation zu den HLA-Typen DQ2 bzw. DQ8 und die fehlende Spezifität der von diesen HLA-Typen unabhängigen herkömmlichen Gliadin-Ak. Dass die Transglutaminase-IgA-Ak eine höhere Aussagekraft als die Serum-dGP-IgG-Ak zeigen, verwundert nicht, entstehen sie doch am Ort des Geschehens, sodass ihre Menge mit dem Ausmaß der histologischen Schädigung korreliert.
Postuliert man, dass das Kombinationsmolekül aus dGP und Transglutaminase aufgrund seiner Struktur und Größe vor allem vor Ort präsentiert wird und nur selten ins Blut gelangt, ließe sich sogar die deutlich höhere Sensitivität der Transglutaminase-IgA-Ak im Vergleich zu den Transglutaminase-IgG-Ak erklären. Und die höhere Sensitivität der dGP-IgG-Ak im Vergleich zu den dGP–IgA-Ak wird plausibel, wenn man davon ausgeht, dass die kleinen dGP mit den anderen Nahrungspeptiden direkt in den Blutkreislauf abtransportiert werden und erst dort das Immunsystem stimulieren.

Neue Leitlinie
Im April 2014 wurde eine S2k-Leitlinie auf Basis einer Konsensus-Konferenz der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechsel­erkrankungen (DGVS) gemeinsam mit der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft (DZG) veröffentlicht. Im Gegensatz zur ESPGHAN-Leitlinie (European Society for Paediatric Gastroenterology Hepatology and Nutrition) von 2012 wurden jetzt konsequenterweise die dGP-Ak auch bei den Erwachsenen aus der Primärdiagnostik herausgenommen. Während für die dGP-IgA-Ak derzeit keine Indikation mehr gesehen wird, behalten die dGP-IgG-Ak ihre Bedeutung bei selektivem IgA-Mangel bei.

Überraschende Forderung
Übernommen wurde die Ausnahme­regel, dass bei klassischer Symptomatik und hohen, im IFT bestätigten Transglutaminase-IgA-Ak zumindest Kindern eine Gastroskopie erspart werden kann, wenn der HLA-Typ DQ2/DQ8 nachgewiesen wurde. Dass man an dieser Stelle die HLA-Typisierung fordert, überrascht allerdings, denn die Domäne der HLA-Bestimmung ist eigentlich die Ausschlussdiagnostik. Da die Bildung der Auto-Ak und die Entstehung einer Zöliakie zwingend an diese HLA-Typen gebunden ist, kann man Risikogruppen bei fehlendem HLA-DQ2/DQ8-Typen weitere Verlaufskontrollen ersparen. Aufgrund ihres geringen prädiktiven Wertes ist sie als Bestätigung jedoch wenig geeignet. Nur ca. 5% der HLA-DQ2/DQ8-Positiven entwickeln im Laufe ihres Lebens tatsächlich eine Zöliakie.
Bedenkt man, dass der IFT laut Leitlinie in anderen europäischen Ländern bereits als Bestätigungstest genutzt wird, mag ein zweiter IFT mit einem anderen Substrat womöglich mehr Sicherheit als die zusätzliche HLA-Testung bieten.

Anpassung der Nomenklatur
Solange die sehr eingreifende Dünndarmbiopsie – früher sogar ohne voll flexible Gastroskope – der einzige Weg zur sicheren Diagnose war, beschränkte sich ihr Einsatz auf Patienten mit hohem Leidensdruck, zum Beispiel bei starken Durchfällen. Erst mit Entdeckung der hochspezifischen Auto-Ak als verlässliches, wenig invasives Screeningverfahren erkannte man die wahre Prävalenz und enorme Vielfalt der Symptome der Zöliakie. Bezeichnete man in älteren Leitlinien eine Zöliakie ohne Durchfall zum Beispiel noch als „atypisch“, so sieht man Durchfälle heute eher als seltene Maximalvariante der Erkrankung an.
Sehr viel häufiger macht sich die Zöliakie mit diversen Malabsorptionssymptomen, zum Beispiel durch Eisen- oder Folsäuremangel oder als Osteopathie bemerkbar. Ein weiterer Symptomenkomplex beruht auf Autoimmunphänomenen, die aufgrund der ubiquitären Verbreitung der Transglutaminase im Körper viele Organe wie etwa die Leber (isolierte unklare Transaminasen­erhöhung), Haut (Dermatitis herpetiformis Duhring), oder auch das Nervensystem (Migräne, Ataxie) betreffen können.
In der neuen S2k-Leitlinie werden dementsprechend auch die Begrifflichkeiten neu definiert. Die ehemals als „typisch“, bezeichnete Zöliakie mit Durchfall- und Malabsorptionssymptomatik soll künftig nur noch als „klassisch“ bezeichnet werden. Folgerichtig werden die ehemals atypischen Zöliakien fortan in „symptomatische Zöliakie“ umbenannt, eine Form, die aufgrund der vielfältigen Symptome nun nahezu alle Fachbereiche betrifft.
Wahrscheinlich wird „das unzufriedene Kleinkind mit dem dicken Bauch und den starken Durchfällen“ noch einige Zeit die erste Assoziation zum Thema Zöliakie sein. Aber der Weg vom pädiatrisch gastroenterologischen Sonderfall zum altersunabhängigen Malabsorptionssyndrom ist vorgezeichnet und nicht mehr umkehrbar.  


Dr. Bettina Becker

LADR G​mbH MVZ Dr. Kramer & Kollegen