Differenzierte Diagnostik gefordert

HNPCC – der am häufigsten vererbte Darmkrebs

Wenn nichtpolypöse Dickdarmkarzinome familiär gehäuft auftreten, müssen Diagnostiker und behandelnde Ärzte eng zusammenarbeiten, um die molekularen Ursachen aufzuklären und auch asymptomatische Familienangehörige zu beraten.

Hereditäre Tumorerkrankungen machen ca. fünf Prozent aller Krebserkrankungen aus. Im Gegensatz zu sporadischen Tumoren, die im Lauf des Lebens neu erworben werden, wird hier die Tumorprädisposition als Keimbahnmutation von einer Generation auf die nächste vererbt. Die Anlageträger haben bereits in relativ jungen Jahren ein erheblich erhöhtes Tumorrisiko.

Genetische Grundlagen
An einem kolorektalen Karzinom (KRK) erkranken in Deutschland jährlich etwa 70.000 Menschen. Bei ca. 20–25 Prozent der Patienten mit KRK ist ein weiteres Familienmitglied betroffen. Dort bleibt die genetische Ursache häufig ungeklärt.
Bei ca. 5–10 Prozent sind mehrere Verwandte ersten Grades betroffen. Hier sind häufig autosomal dominante Erbgänge erkennbar und eine monogene erbliche Prädisposition der Tumorerkrankung ist sehr wahrscheinlich[2].
Zwei Formen mit bekannter molekularer Ursache und unterschiedlichem Erscheinungsbild stehen im Vordergrund:
• Mutationen in den DNA-Mismatch Reparaturgenen MLH1, MSH2, MSH6 und PMS2 (MMR-Gene) verursachen das hereditäre nicht­polypöse Kolon­karzinom (HNPCC, Lynch-Syndrom).
• Mutationen im APC-Gen führen zu massiver polypöser Entartung (familiäre adenomatöse Polyposis, FAP).

Klinische Hinweise

Auch wenn die Differenzierung eines HNPCC vom sporadischen KRK sowie bestimmten FAP-Sonderformen (attenuierte und MUTYH-assoziierte FAP) klinisch schwierig ist, müssen gerade diese Patienten unbedingt identifiziert werden, da sie eine spezielle, langfristige Betreuung und intensivere Vorsorgeprogramme benötigen. Zudem sollte weiteren Risikopersonen aus der Familie eine prädiktive Diagnostik im Rahmen einer genetischen Beratung angeboten werden.
Den ersten Hinweis liefert in der Regel die Familienanamnese: Der Verdacht auf ein HNPCC-Syndrom liegt besonders nahe, wenn mehrere Mitglieder einer Familie an einem KRK oder einem anderen Tumor aus dem typischen Spektrum (siehe Tabelle) erkrankt sind.
Diagnostisch wegweisend sind die Amsterdam- oder revidierten Bethesda-Kriterien (vor allem Erkrankungsalter, familiäre Häufung). Die Karzinome treten meist vor dem 50. Lebensjahr (im Mittel mit 45 Jahren) auf und sind rasch progredient. Beim sporadischen KRK erstreckt sich der Prozess der mali­gnen Transformation vom gutartigen Adenom bis zum Karzinom über fünf bis zehn Jahre; bei HNPCC-Patienten ist er auf ein bis zwei Jahre verkürzt.
Die Karzinome sind zudem häufiger im rechten Hemikolon lokalisiert und imponieren histologisch als muzinöse und siegelringzellige Tumoren mit lymphozytärer Infiltration. HNPCC-Patienten haben zusätzlich ein erhöhtes Lebenszeitrisiko für weitere Tumoren. Dies sind vor allem Karzinome des Endometriums, der Ovarien, des Magens, des Urothels, der Gallengänge und des Dünndarms.
Das HNPCC-Syndrom fordert eine interdisziplinäre Betreuung der Patienten und ihrer Familien. Dies umfasst neben Chirurgie, Innerer Medizin, Onkologie und Pathologie auch die Humangenetik einschließlich molekulargenetischer Dia­gnostik und Beratung[2].

Stufendiagnostik
Besteht nach den Amsterdam- bzw. Bethesda-Kriterien der Verdacht auf HNPCC, so wird eine Stufendiagnostik eingeleitet. Die erste Abklärung, ob es sich um einen sporadischen oder HNPCC-assoziierten Tumor handelt, erfolgt histo- und molekularpathologisch. Dabei wird das Tumorgewebe mittels Immun­histochemie (IHC) auf die fehlende Expression eines MMR-Gens sowie mittels PCR auf erhöhte genetische Instabilität (Mikro­satelliten-Instabilität, MSI) untersucht. Beides erhärtet den Verdacht auf HNPCC.
Fällt allerdings in der IHC neben dem MLH1- auch das PMS2-Protein in der Expression aus, wird in der nächsten Stufe untersucht, ob eine Hypermethylierung des MLH1-Promotors vorliegt, da diese durch somatische Mutationen im BRAF-Gen entstanden sein kann. Insbesondere die BRAF-V600E-Mutation tritt bei sporadischen KRK häufig, bei HNPCC hingegen nur sehr selten auf.
Bei auffälliger IHC oder MSI ohne Hinweis auf einen sporadischen Tumor ist eine detaillierte molekulargenetische Untersuchung der MMR-Gene gerechtfertigt. Der molekulargenetische Nachweis einer pathogenen Keimbahnmutation in einem der MMR-Gene beim Indexpatienten sichert letztendlich die Diagnose und ermöglicht es, klinisch gesunde Familienmitglieder im Rahmen einer humangenetischen Beratung nach §10, Abs. 2 GenDG gezielt zu untersuchen. Bei positivem Nachweis der Mutation werden sie einer engmaschigen Vorsorge (u. a. jährliche Koloskopien ab dem 25. Lebensjahr) zugeführt[2].

Erweiterte Genpanels
Durch Next Generation Sequencing (NGS) ist es heute auf elegante Weise möglich, alle für eine bestimmte Erkrankung relevanten Gene parallel mit sehr hoher Abdeckung sowie kostengünstig und sehr schnell zu analysieren. Dadurch verbessert sich die Aufklärungsrate signifikant, aber es entsteht auch „Überschussinforma­tion“, die mit der eigentlichen diagnostischen Fragestellung nichts zu tun hat. Daraus resultieren offene Fragen, zum Beispiel wie man unklassifizierte, klinisch nicht einzuordnende Varianten kommuniziert oder wie der zunehmende Aufwand der Datenanalyse und Interpretation bei ständig sinkenden Kosten für die technische Leis­tung vergütet werden soll. Der Umgang mit Zufallsbefunden ist eine Herausforderung für den Diagnostiker, den betreuenden Arzt und auch den Ratsuchenden und sollte vor Beginn der genetischen Diagnostik genauestens erörtert werden.
Dennoch scheint der Zeitpunkt gekommen zu sein, neben den häufigsten ursächlichen Genen auch seltenere Varianten, für die die Krankheitsursächlichkeit belegt ist, zu untersuchen. In die Auswahl der erweiterten Genpanels müssen natürlich klinischer Phänotyp, Histologie und Familienanamnese einfließen, und der Zusatznutzen muss bei jedem Patienten kostenbewusst abgeschätzt werden.