„Der Zusammenhang zwischen Tumorerkrankungen, COVID-19 und Thrombosen ist komplex“

Tumorerkrankungen wie das Pankreas- oder das Magenkarzinom sind mit einem hohen Risikofür venöse Thromboembolien assoziiert, speziell wenn die Patienten hospitalisiert und/oder chemotherapiert werden. Das gleiche ist der Fall bei krankenhaus- oder intensivpflichtigen Patientenmit COVID-19. Was passiert nun, wenn Tumor- und Viruserkrankung zusammenkommen? Und wie geht man medikamentös vor, um thromboembolischen Ereignissen bei betroffenen Patienten bestmöglich vorzubeugen? Trillium Krebsmedizin sprach dazu mit Prof. Dr. Hanno Riess von der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Schlüsselwörter: Pankreaskarzinom, Magenkarzinom, venöse Thromboembolien, COVID-19, Tumorerkrankung, Viruserkrankung

Herr Prof. Riess, wir möchten über die Trias Krebs, COVID-19 und Thrombosen sprechen. Welchen Zusammenhang sehen Sie hier?


Riess: Es gibt sicher einen engen Zusammenhang, der aber zurzeit nicht fundiert belegt werden kann, da belastbare Studiendaten dazu fehlen. Wir kennen das Pro-blemfeld Thrombosen bei Tumorpatienten, und lernen es zweifellos gerade bei Patienten mit COVID-19 kennen. Sektionsergebnisse bei Verstorbenen mit COVID-19 haben ergeben, dass bei bis zu drei Viertel der Patienten Thromboembolien bestanden, die über die Mikrozirkulation hinausgingen. Mit Ultraschall findet man bei etwa
50 % der intensivmedizinisch betreuten COVID-19 Patienten „asymptomatische“ tiefe Beinvenenthromben. Wir dürfen also davon ausgehen, dass sich bei Tumorpatienten deren bereits erhöhtes Thromboembolierisiko mit dem unter COVID-19 überlagert. Es ist allerdings schwierig zu beurteilen, welchen Anteil jede der Erkrankungen am Gesamt-Thromboserisiko hat. Zu bedenken ist auch, dass Tumorpatienten in der Regel ein höheres Lebensalter haben und damit per se zum Risikokollektiv für schwerere COVID-19-Verläufe, aber auch für Thrombosen gehören. Kurz: Der Zusammenhang zwischen Krebs, COVID-19 und Thrombosen ist komplex.

Haben sich die Beschränkungen in der ersten Phase der Pandemie negativ ausgewirkt?

Riess: Die erste Phase der Pandemie war eine für alle schwierige Zeit, die sich auch negativ auf Tumorpatienten ausgewirkt hat. Zum einen haben viele Patienten aus der Verunsicherung heraus, sich möglicherweise und ausgerechnet in medizinischen Bereichen anzustecken, ihr Verhalten geändert. Es war in dieser Zeit ein massiver Einbruch an ärztlichen Besuchen zu registrieren. Dies betrifft auch ein verzögertes Vorstellen bei Thromboembolie-Verdacht, aber auch die fehlende Inanspruchnahme von Vorsorge- und Früherkennungs-Maßnahmen mit der zu befürchtenden Konsequenz von mehr Diagnosen im fortgeschritteneren Tumorstadium. Natürlich ist es zu früh, das mit Zahlen zu belegen; aber wir haben den Eindruck, in den zurückliegenden Monaten weniger Patienten bei Erstdia-gnose im operablen, dafür mehr in fortgeschritteneren Stadien gesehen zu haben.
Zum anderen wurde aus nachvollziehbarer Sorge vor Überlastung die ärztliche Grund- und Routineversorgung heruntergefahren. Es musste eine Art Priorisierung vorgenommen werden, welche Patienten man angesichts reduzierter Kapazitäten operieren muss und welche OPs man aufschieben kann. Auch die Frage einer Chemotherapie-Durchführung – jetzt oder später – war vor diesem Hintergrund und dem veränderten Infektionsrisiko zu diskutieren.

Ist ein Tumorpatient, der gleichzeitig an COVID-19 erkrankt, grundsätzlich ein Hochrisikopatient für Thrombosen oder hängt das auch von der Tumorentität ab?

Riess: Dazu gibt es keine evidente Datenlage. Primär muss man sich klar machen, dass die Infektion mit SARS-CoV-2 selbst das Thromboembolie-Risiko vermutlich nicht relevant erhöht. Dies wird dann aber bedeutsam, wenn Tumorpatienten mit erhöhtem Thromboserisiko, die nicht notwendigerweise hospitalisiert oder intensivpflichtig zu sein brauchen, in einer hypothetischen Eskalationsstufe einem steigenden Thromboserisiko durch COVID-19 ausgesetzt sind – von der symptomatischen COVID-19-Erkrankung über die Krankenhausbedürftigkeit bis hin zur Intensivpflichtigkeit.

Eine entscheidende Rolle spielt dabei die tatsächliche Höhe des tumorbedingten Thromboserisikos, wenn Patienten an COVID-19 erkranken. Bei Patientinnen mit Mammakarzinom, die eine adjuvante Chemotherapie oder Hormontherapie erhalten, ist das Thromboserisiko nur leicht erhöht. Metastasierte Pankreas-, Magen- oder Lungenkarzinome sind dagegen per se mit einem deutlich erhöhten Thromboserisiko assoziiert. Bei der CASSINI-Studie hatten beispielsweise 5 % der Gesamtgruppe und 8 % der Patienten mit Pankreaskarzinom nachweisbare Thromben in den tiefen Beinvenen, und das, obwohl sie asymptomatisch waren. Auch wir haben in einer Studie das hohe Thromboserisiko bei Patienten mit Pankreaskarzinom belegt.
Die aktuellen Leitlinien empfehlen für diese Patienten, wenn sie hospitalisiert sind, aber auch im ambulanten Setting, von Beginn an eine Thromboseprophy-laxe. Die verfügbaren Daten und die logische Ableitung aus bisherigem Fachwissen legen nahe: Wenn wir einen Patienten vor uns haben, der bereits über seine Tumor-erkrankung ein merklich erhöhtes Thromboembolierisiko aufweist und zusätzlich an COVID-19 erkrankt, wird das Thromboserisiko ohne Wenn und Aber steigen. Wird der Patient darüber hinaus krankenhaus- oder gar intensivpflichtig, steigt das Risiko weiter an.

Wie gehen Sie medikamentös vor, um das Risiko für venöse Thromboembolien zu senken?

Riess: Für die Thromboseprophylaxe bekommt ein Tumorpatient mit erhöhtem Thromboserisiko in der Regel niedermolekulares Heparin (NMH). Diese Medikamente sind zur Thromboseprophylaxe generell und auch für Tumorpatienten zugelassen. Eine therapeutische Alternative wären direkte orale Antikoagulanzien wie Apixaban oder Rivaroxaban, die, wie wir seit Kurzem wissen, bei Tumorpatienten sehr wirksam sind. Sie sind aber dafür in Deutschland noch nicht zugelassen.
Wir selbst setzen bei Tumorpatienten mit sehr hohem Thromboserisiko erhöhte,
z. B.  halbtherapeutische NMH-Dosen zur Prophylaxe ein. Dieses Vorgehen beruht auf den Erkenntnissen aus unserer eigenen Studie zur Primärprophylaxe mit NMH bei Patienten mit metastasiertem Pankreaskarzinom. Hier zeigte sich, dass eine halbtherapeutische Dosis nötig ist, um eine hoch signifikante, klinisch relevante Reduktion des Thromboembolie-Risikos zu erreichen, ohne dabei das Risiko für Blutungskomplikationen zu erhöhen.

Bei stationären, mobilitätseingeschränkten Malignompatienten mit COVID-19 führen wir die Thromboseprophylaxe mit der doppelten Dosis des sonst Üblichen durch, falls nicht gravierende Gründe wie ein relevant erhöhtes Blutungsrisiko dagegensprechen. Genau genommen wird dieses Vorgehen bei COVID-19 unabhängig davon empfohlen, ob wir es zusätzlich mit einem Tumorpatienten zu tun haben oder nicht. Umgekehrt würde ein Tumorpatient mit hohem Thromboembolierisiko die Primärprophylaxe in erhöhter, z. B. halb-therapeutischer, Dosis bekommen – umso mehr, wenn er zusätzlich an COVID-19 erkrankt ist. Findet sich im Ultraschallscreening eine Thrombose, wird therapeutisch weiterbehandelt.

Beim ASCO 2020 präsentierte Daten zeigen, dass bei Patienten mit Lungenkarzinom, die auch an COVID-19 erkrankt sind, eine vorherige Antikoagulation mit erhöhter Mortalität einhergeht. Wie ordnen Sie das ein?

Riess: Wir sprechen hier von einer Antikoagulation, die nicht durch COVID-19 initiiert wurde, sondern schon vor der Infektion mit SARS-CoV-2 bestand. Es lagen somit Gründe für die Antikoagulation jenseits der Tumorerkrankung vor, etwa venöse thromboembolische Ereignisse im Vorfeld oder Vorhofflimmern. Wir können die Antikoagulation in diesem Kontext als Hinweis auf eine bestehende Komorbidität mit erhöhtem Thromboembolie-Risiko werten. Und dass diese das Mortalitätsrisiko erhöht, verwundert nicht.

Wie beurteilen Sie die derzeitige Pandemielage im Hinblick auf onkologische Patienten?

Riess: In Moment können wir aufgrund der Entwicklung von COVID-19 doch etwas Entwarnung für unsere Patienten geben. Zum Glück ist die erste Welle vorbei, wir haben kein COVID-19-Versorgungsproblem und können das Risiko für Infektionen durchaus als lokal eingrenzbar beschreiben.
Wir unterziehen im Moment unsere onkologischen Patienten mit Infekt-
zeichen einer Diagnostik, um eine Infektion mit SARS-CoV-2, aber auch mit anderen Erregern auszuschließen. Bei negativem Ergebnis erfolgt die Behandlung unserer Tumorpatienten gemäß ihrer individuellen Tumorsituation – genauso wie vor der COVID-19-Zeit.

Herr Prof. Riess, vielen Dank für das interessante Gespräch.


Das Interview führte Dr. Claudia Schöllmann.