Das kolorektale Karzinom ist weltweit die dritthäufigste Krebserkrankung und die zweithäufigste Ursache krebsbedingter Todesfälle. Häufig wird die Diagnose erst in fortgeschrittenen Stadien gestellt, was die Prognose erheblich verschlechtert. Trotz bedeutender Fortschritte in der Chirurgie bleiben bei der Chemotherapie und bei zielgerichteten Therapien die frühzeitige Erkennung von Rezidiven, die Überwachung des Therapieansprechens sowie die Individualisierung der Behandlung nach wie vor eine große Herausforderung. Der Einsatz von Liquid Biopsies, insbesondere die Analyse von zirkulierender Tumor-DNA (ctDNA), verspricht eine grundlegende Veränderung im Management des kolorektalen Karzinoms. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die Bestimmung der ctDNA derzeit nicht von den Kostenträgern übernommen wird. Dennoch weisen aktuelle Leitlinien der ESMO darauf hin, dass die ctDNA-Analyse zur Individualisierung der Therapie beim kolorektalen Karzinom herangezogen werden kann [1]. Aktuell untersucht die prospektive CIRCULATE-Studie der AIO (AIO-KRK-0217) den prädiktiven Wert von ctDNA für die Entscheidung über eine adjuvante Chemotherapie im Stadium II. Ein ähnlicher Ansatz wird auch in der US-amerikanischen COBRA-Studie (NCT04068103) verfolgt.
Definition von ctDNA
ctDNA bezeichnet kleine Fragmente der DNA, die von Tumorzellen in die Blutbahn freigesetzt werden. Diese Fragmente enthalten genetische Informationen des Tumors und können durch nichtinvasive Blutproben gewonnen und analysiert werden. ctDNA entsteht durch die Apoptose, Nekrose und möglicherweise aktive Sekretion von Tumorzellen. Diese DNA-Fragmente zirkulieren im Blut und sind typischerweise kürzer als normale zirkulierende DNA-Fragmente. Sie spiegeln die genetischen und epigenetischen Veränderungen des Primärtumors und eventueller Metastasen wider.
Technologische Methoden
Die Analyse von ctDNA erfordert hochsensitive und spezifische Methoden, da die Konzentration von ctDNA im Blut sehr gering sein kann. Zu den wichtigsten Techniken gehören die digitale PCR (dPCR) sowie Next Generation Sequencing (NGS)-Verfahren.
Mittels dPCR lassen sich einzelne oder mehrere Tumormutationen (bei Multiplexverfahren) mit sehr hoher Sensitivität und Spezifität in Plasma-ctDNA nachweisen. Durch den gezielten Ansatz sind die Kosten niedriger als bei NGS; die Durchführung der Messung ist bei standardisierten Tests innerhalb von ein bis zwei Arbeitstagen möglich.
Mittels NGS können gezielt unterschiedlich umfangreiche Panels von Tumormutationen oder ungezielt umfassende Gencharakterisierungen vorgenommen werden, unter anderem in Whole-Exome-Sequencing(WES)- oder Whole-Genome-Sequencing(WGS)-Ansätzen.
Dank verschiedener Methoden zur Fehlerunterdrückung oder -kontrolle und sehr tiefer Sequenzierung (mindestens 3.000-fach) werden heutzutage ebenfalls hohe Sensitivitäten von bis zu 0,1 % Variant Allele Frequency (VAF) und sogar noch niedriger erreicht, die die strengen Qualitätsanforderungen der Richtlinien der Bundesärztekammer (RiliBäK) von < 0,5 % VAF erfüllen – diese sind für Liquid-Biopsy-Labore verbindlich. Weiterentwicklungen der NGS-Methode, die eine Vielzahl an Mutationen oder auch Fragmentierungs- und Methylierungsmuster der Plasma-DNA miteinbeziehen – welche durch Machine Learning miteinander verrechnet werden –, erreichen noch höhere Sensitivitäten. Diese sind zum Beispiel für den Nachweis einer minimalen Resterkrankung in der Tumornachsorge erforderlich.
Im klinischen Alltag werden vorgefertigte Kits verwendet, die eine Anzahl von weniger als zehn Mutationen im Sinne einer zielgerichteten („targeted“) Analyse adressieren. Daher bedeutet ein negativer ctDNA-Nachweis nicht notwendigerweise eine negative ctDNA. Hierfür ist ein Abgleich mit einer Mutationsanalyse des Tumors erforderlich und daran anschließend einer sich daraus ergebenden Neudefinition potenzieller Mutationstargets. NGS-basierte Analysen erlauben eine komplette Aufarbeitung der genetischen Veränderungen in ctDNA und ermöglichen die Detektion von Mutationen, Kopiezahlvariationen und Methylierungsmustern.
Eine der größten Herausforderungen bei der Nutzung von ctDNA ist die Standardisierung der Analytik. Unterschiede in den Protokollen zur Blutentnahme, DNA-Extraktion und Analyse können die Vergleichbarkeit der Ergebnisse beeinträchtigen. Es ist notwendig, standardisierte und validierte Protokolle zu entwickeln, um die Reproduzierbarkeit und Vergleichbarkeit der ctDNA-Analysen zu gewährleisten.
Die Technologie zur Analyse von ctDNA entwickelt sich ständig weiter. Neue Methoden wie Einzelmolekül-Real-Time(SMRT)- und Longread-Sequenzierung bieten das Potenzial für noch sensitivere und umfassendere Analysen. Darüber hinaus könnten Kombinationen von ctDNA mit anderen Biomarkern wie zirkulierenden Tumorzellen (CTCs) und Proteomen zu einer noch präziseren Diagnostik und Überwachung führen.
Bedeutung von ctDNA in der modernen Onkologie
Die stadienabhängige Therapie des kolorektalen Karzinoms basiert bisher auf der TNM-Klassifikation (Primärtumor [T], regionäre Lymphknotenmetastasen [N] und Fernmetastasen [M]). Hierbei bleiben tumorbiologische Kriterien weitgehend unberücksichtigt, was zu einer Über- oder Untertherapie führen kann. In den vergangenen Jahren hat die Forschung jedoch gezeigt, dass die Analyse von ctDNA wertvolle Informationen über die genetische Beschaffenheit und Dynamik von Tumoren liefern kann. Diese Erkenntnisse können genutzt werden, um die Diagnose zu verfeinern, den Krankheitsverlauf zu überwachen und fundierte Therapieentscheidungen zu treffen. Besonders beim kolorektalen Karzinom bietet ctDNA das Potenzial, die Prognose zu verbessern und das Management, insbesondere im multimodalen Kontext, weiter zu individualisieren (Abb. 1) [2].