Long und Post COVID: Chronisch erschöpft

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2022.01.06

Nach dem Abklingen der akuten Pandemie muss mit Millionen von chronisch Kranken gerechnet werden, deren körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt ist. Besonders häufig wird über Erschöpfungszustände berichtet, für die möglicherweise Autoantikörper gegen neuronale Zielstrukturen verantwortlich sind. Die Aufklärung dieser als Chronic Fatigue Syndrome bezeichneten Krankheit stellt eine große Herausforderung dar.

Schlüsselwörter: Chronic Fatigue Syndrome, funktionelle Autoantikörper

Zu Beginn der COVID-19-Pandemie ging man noch davon aus, dass SARS-CoV-2 – seinem Namen entsprechend – vor allem eine akute Lungenerkrankung (Severe Acute Respiratory Syndrome) auslöst. Inzwischen weiß man jedoch, dass das Virus im Rahmen einer ausgedehnten Gefäßentzündung (Endotheliitis) auch andere Organsysteme schädigen kann, und dass es bei 10 bis 15 % der Infektionen auch nach eher leichten Verläufen zu monatelanger Einschränkung der allgemeinen Leistungsfähigkeit kommt.

Definition

Die Olympischen Winterspiele in Peking lieferten eindrucksvolle Beispiele dafür, dass gerade auch vormals kerngesunde junge Menschen ihre ursprüngliche Form nicht so schnell wiedererlangen – so etwa der deutsche Top-Kombinierer Eric Frenzel, den in der Team-Staffel überraschend die Kräfte verließen, sodass er am Ende seines Laufs zusammenbrach.

Laut einer 2021 erschienenen Leitlinie [1] spricht man von Long COVID, wenn sich dieser Zustand selbst nach einem Monat nicht bessert, und von Post COVID bei einer Dauer von mehr als drei Monaten – insbesondere dann, wenn neue Symptome hinzukommen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schuf Ende 2020 im Kapitel XXII (Schlüsselnummern mit dem Buchstaben U „für besondere Zwecke“) die vorläufige ICD-Ziffer U09.9! mit der Bezeichnung Post-COVID-19-Zustand, nicht näher bezeichnet. Diese Nummer darf konsequenterweise nicht kodiert werden, solange eine akute SARS-CoV-2-Infektion besteht.

Eine neue globale Bedrohung

Die gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Konsequenzen dieser unscheinbaren ICD-Ziffer sind so gravierend, dass man bereits 2020 eine neue globale Bedrohung fürchtete [2]: Auch wenn die Pandemie eines Tages in eine beherrschbare endemische Phase übergeht, muss mit Millio­nen von Menschen gerechnet werden, die unter dauerhaften gesundheitlichen Folgen von COVID-19 leiden werden. In 70 % der Fälle berichten die Betroffenen über mentale und physische Erschöpfung ohne erkennbare Auslöser (sog. Chronic Fatigue Syndrome, ICD G93.3, abgekürzt CFS), gefolgt von Atemnot, Kopf- und Gliederschmerzen sowie kardialen Problemen.

Auffällig ist auch eine Häufung neurologischer und psychiatrischer Befunde wie etwa der oft zitierte Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns, aber auch eingeschränktes Denkvermögen und depressive Verstimmung [2, 3]. Bei einer Anhörung des Ausschusses für Gesundheit im Deutschen Bundestag berichtete Prof. Carmen Scheibenbogen, Charité – Universitätsmedizin Berlin, dass sich bereits im Sommer 2020 überraschend viele jüngere Patient:innen mit exakt dieser Symptomatik in der Sprechstunde am Charité Fatigue Centrum vorstellten, wobei fast 50 % von ihnen stark leistungseingeschränkt und über 20 % arbeitsunfähig waren. Die Wissenschaftlerin bezeichnete das chronische Fatigue-Syndrom als eine vernachlässigte Krankheit, für die es zu wenige spezialisierte Zentren und keine spezifische Behandlung gebe.

Die Schwere der Symptome, die die Betroffenen von Arbeit und sozialem Leben ausschließen, sowie die hohen zu erwartenden Patientenzahlen stellen nach Auffassung der Expertengruppe um Prof. Scheibenbogen „eine Bedrohung für die langfristige Gesundheit dieser Menschen, für das Gesundheitswesen und für sozio­ökonomische und politische Systeme dar“. Deshalb sei ein nationaler Aktionsplan dringend erforderlich, um die Ursachen der Krankheit zu erforschen, die Diagnostik zu verbessern und spezifische Therapien zu entwickeln.

Ätiologie und klinische Diagnose

Das Phänomen des chronischen Fatigue-Syndroms ist weder neu noch auf SARS-CoV-2 beschränkt. Seit über 100 Jahren wird immer wieder über sporadische Fälle und zum Teil sogar epidemisch auftretende Ausbrüche von CFS im Gefolge von Infektionskrankheiten berichtet, wobei frühzeitig die Kinderlähmung als Ursache in Verdacht geriet. Daher stammen auch ältere Namen wie „atypische Poliomyelitis“ oder „benigne myalgische Enzephalo­myelitis“ [4].

1988 sprach sich eine amerikanische Expertengruppe des Centers for Disease Control and Prevention (CDC) für die treffendere Bezeichnung Chronic Fatigue Syndrome aus. Die Kriterien wurden mehrfach überarbeitet und sind bis heute Gegenstand der Diskussion [5]. Eine Übersicht über weithin akzeptierte Diagnosekriterien findet sich in Tab. 1.

Tab. 1: Oxford-Kriterien zur Diagnose eines chronischen Fatigue-Syndroms (übersetzt aus Yancey & Thomas [7]). 

Einschlusskriterien Ausschlusskriterien
Leitsymptom muss eine chronische Erschöpfbarkeit (Fatigue) mit definiertem Beginn und einer Dauer von mindestens sechs Monaten sein. Einnahme von Medikamenten, die Fatigue-ähnliche Erschöpfungszustände auslösen können (z. B. Antihypertonika, Antidepressiva, Antikonvulsiva).
Die Erschöpfung muss sowohl physische als auch mentale Funktionen betreffen und das durchschnittliche Aktivitätsniveau auf 50 % oder weniger senken. Etablierte psychiatrische Krankheiten wie Schizophrenie, Substanzmissbrauch, Ess­störungen, hirnorganische Erkrankungen.
Weitere Symptome wie Muskel- und Gliederschmerzen (ohne Schwellungen), depressive Verstimmung oder Schlafstörungen müssen vorhanden sein. Medizinische Konditionen, die zu Erschöpfbarkeit führen (z. B. Malignome, endokrine Erkrankungen, chronische Infektionskrankheiten, Herzinsuffizienz u. v. a.).

 

Demnach ist CFS im Wesentlichen eine Ausschlussdiagnose, die dann gestellt werden soll, wenn für das Leitsymptom der stark beeinträchtigenden, chronischen Ermüdbarkeit und seine unspezifischen Begleitsymptome keine „handfesten“ Ursachen wie Medikamente und Suchtmittel, manifeste psychiatrische Krankheiten oder belastende medizinische Konditionen gefunden werden.

Das Fehlen einer spezifischen Diagnostik hat dazu geführt, dass das CFS in Deutschland bis 1994 überhaupt nicht als Krankheit anerkannt war [4] und auch heute noch oftmals unerkannt bleibt oder ohne weitere Untersuchung als „psychosomatisch“ abgetan wird.

Pathogenese

Die Häufung von CFS bei Long COVID hat die Ursachenforschung nun aber beschleunigt. Als potenzielle Auslöser nennt die Leitlinie von 2021

  • chronische Gewebe- und Gefäßschäden durch eine akute Entzündung,
  • eine Persistenz des Virus nach überstandener Krankheit sowie
  • spezifische Autoimmunprozesse.

Aus pathophysiologischer, diagnostischer und therapeutischer Sicht ist vor allem der dritte Punkt von Interesse, der im Folgenden genauer betrachtet werden soll. Grundsätzlich bildet das Immunsys­tem bei jeder Virusinfektion eine Vielzahl mehr oder weniger spezifischer Antikörper aus, von denen einige aufgrund struktureller Ähnlichkeiten (molecular mimicry) auch körper­eigene Proteine angreifen können [6]. Im Sinne eines immunologischen Reifungsvorgangs vermehren sich anschließend vor allem diejenigen B-Zellen, die hoch-affine Antikörper gegen das Virus exprimieren, während solche mit auto­reaktiven Eigenschaften eliminiert werden. Da die „Lernfähigkeit“ des Immunsystems ab dem Kindesalter ständig abnimmt, kann ein Erstkontakt mit neuartigen Erregern bei Jugendlichen und Erwachsenen durchaus zu ungenügender Elimination von Autoantikörpern führen.

Autoimmunsyndrome

Tatsächlich treten in rund der Hälfte aller COVID-19-Fälle neue Autoantikörper auf, von denen viele Auto­immunkrankheiten wie Lupus erythematodes oder Sjögren-Syndrom auslösen können [7]. Ein Forschungsteam der Yale University, USA, fahndete mit einem proteomischen Screening-Ansatz nach über 2.500 Autoantikörperspezifitäten im Blut und fand im Vergleich zu nicht-infizierten Kontrollen extreme Anstiege von autoreaktiven Antikörpern [8], darunter besonders häufig auch gegen Proteine des Nervensystems.

In Abb. 1 sind 25 solcher als neuronale Antigene identifizierten Proteine aufgeführt.

Es fällt auf, dass viele positive Befunde unabhängig von der Krankheitsschwere oder speziell bei leichteren COVID-19-Verläufen auftreten. Hervorzuheben ist hier die erste Zeile mit Autoantikörpern gegen das für die Alzheimer-Krankheit bedeutsame APP (Amyloid Precursor Protein).

Ausblick

Es wäre verfrüht, aufgrund solcher Screeningergebnisse auf eine pathophysiologische Bedeutung von Autoantikörpern für die Entwicklung eines CFS bei Long COVID zu schließen, aber sie lenken den Blick der Forschung auf neuronale Auto­antikörper, für die sich eine retro- und prospektive Analyse neurologisch-psychiatrischer Symptome lohnen könnte. So ergab eine Metaanalyse anderer schwerer Corona-Epidemien (SARS, MERS) einen hohen Prozentsatz Fatigue-ähnlicher Zustände und langanhaltender Gedächtnisstörungen [9]. Dazu passend berichtete die Internationale Alzheimer Association auf ihrer Tagung AAIC 2021 auch im Kontext von COVID-19 über persistierende kognitive Defizite mit beschleunigter Entwicklung einer Alzheimer-Demenz.

Ein spannender Hinweis auf einen möglicherweise kausalen Zusammenhang zwischen dem chronischen Fatigue-Syndrom und Autoantikörpern stammt aus dem Max-Delbrück-Centrum Berlin und der Universitätsklinik Erlangen [10]. Das Forscherteam entdeckte als eine mögliche Ursache von langanhaltenden neurologischen und kardialen Störungen spezifische Autoantikörper gegen sog. G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR). Diese vermitteln zahlreiche biologische Funktionen, darunter die Verarbeitung von Geruchs- und Geschmacksreizen und die Steuerung der Herzfrequenz. In ersten Heilversuchen mit einem Inhibitor namens BC 007 konnten diese GPCR-Autoantikörper sogar erfolgreich neutralisiert werden, sodass sich hier die Chance einer kausalen Therapie bestimmter Formen des Post-COVID-Syndroms eröffnet. Eine mit 6,5 Mio. Euro geförderte Phase-I-Studie läuft bereits (Clin Trials NCT02955420).

Autor
Prof. Dr. Georg Hoffmann
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